-->Ein nur scheinbar faires Kartenspiel
Das folgende Kartenspiel soll auf Jahrmärkten, und wo immer
sich Interessenten dafür finden, schon manchen um viel Geld er-
leichtert haben: Der Bankhalter präsentiert drei Karten, alle beid-
seitig bemalt, die erste auf beiden Seiten schwarz, die zweite auf
beiden Seiten rot, und die dritte auf der einen Seite rot und auf
der anderen Seite schwarz; er wirft die Karten in einen Hut, zieht
eine davon zufällig heraus (noch besser: läßt uns selber eine zie-
hen), alle sehen nur die Oberseite, und dann wettet der Bankhal-
ter zehn Mark, daß die unsichtbare Unterseite dieselbe Farbe hat
wie die Oberseite: Ist die Oberseite rot, so wettet er auf Rot, und
ist die Oberseite schwarz, so wettet er auf Schwarz.
Angenommen, die Oberseite ist Schwarz. Soll man bei dieser
Wette zehn Mark dagegen halten oder nicht?
»Warum nicht«, denkt jetzt so mancher. »Die Karte mit den
zwei roten Seiten liegt ja noch im Hut. Also muß die Karte auf
dem Tisch entweder die Rot-Schwarz-Karte oder die Schwarz-
Schwarz-Karte sein. Bei der ersten liegt die rote Seite unten, bei
der zweiten liegt eine schwarze Seite unten. Beide Karten sind
gleich wahrscheinlich, also sind auch die beiden Farben gleich
wahrscheinlich. Die Wette ist fair, ich kann zehn Mark dagegen
halten.«
Das ist aber falsch - diese Wette ist nicht fair (wie die meisten
Wetten, die uns von anderen angeboten werden). Auch hier ge-
winnt auf lange Sicht die Bank, denn Schwarz ist viele wahr-
scheinlicher als Rot.
Die beiden möglichen Karten, von denen eine vor uns auf dem
Spieltisch liegt, sind zwar gleich wahrscheinlich - entweder liegt
da die Rot-Schwarz-Karte oder die Schwarz-Schwarz-Karte, jede
mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/2 -, aber die beiden Farben
sind nicht gleich wahrscheinlich. Denn Rot kann nur auf eine
Weise unten liegen - als Rückseite von Schwarz-Rot. Schwarz
dagegen kann auf zwei Weisen unten liegen: als Rückseite von
Schwarz-Schwarz, aber auch als Vorderseite von Schwarz-
Schwarz, so wie in Abbildung 5.2, wo die drei Möglichkeiten
nochmals aufgelistet sind. Die obere Seite der Karte ist dabei die-
jenige, die beim Ziehen aus dem Hut tatsächlich oben liegt - also
in unserem Beispiel immer Schwarz. Aber diese schwarze Seite
kann auf drei verschiedene Arten oben liegen: als Vorderseite von
Schwarz-Rot, als Vorderseite von Schwarz-Schwarz und als
Rückseite von Schwarz-Schwarz. Aber nur in einem dieser drei
Fälle zeigt die Unterseite eine andere Farbe als die obere Seite.
Dieser Kartentrick ist eine Variante des berühmten Bertrand-
schen Schachtelparadoxons (nach dem französischen Mathemati-
ker Joseph Bertrand, 1822-1900): Drei Schachteln enthalten zwei
Goldmünzen (die erste Schachtel), zwei Silbermünzen (die zwei-
te Schachtel) und eine Gold- und eine Silbermünze (die dritte
Schachtel). Jetzt entnehmen wir einer Schachtel eine Münze und
stellen fest: sie ist aus Gold. Mit welcher Wahrscheinlichkeit sind
beide Münzen in der Schachtel Gold?
Hier argumentieren viele wie der Wettgegner des Bankhalters
bei unserem Kartenspiel: »Die Silber-Silber-Schachtel ist es nicht.
Also habe ich entweder in die Gold-Gold- oder die Gold-Silber-
Schachtel erwischt, und da beide gleich wahrscheinlich sind, sind
mit einer Wahrscheinlichkeit 1/2 beide Münzen aus Gold.«
In Wahrheit sind natürlich mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3
beide Münzen aus Gold, aus dem gleichen Grund, warum auch
mit einer Wahrscheinlichkeit von 2 /3 beide Farben auf der Spiel-
karte unseres Jahrmarktgauklers identisch sind: Weil in zwei Fäl-
len von drei sowohl die beiden Seiten der Spielkarte wie die bei-
den Münzen in der Schachtel die gleiche Farbe haben.
Dieser Fehler, nämlich daß wir beim Abzählen aller gleich
wahrscheinlichen Ausgänge eines Zufallsexperimentes eine oder
mehrere Varianten übersehen, passiert selbst großen Mathemati-
kern. Der Franzose Jean Le Rond d'Alembert (1717-1783) z.B.
beziffert in seiner zusammen mit Denis Diderot herausgegebenen
berühmten 33-bändigen Encyclopédie die Wahrscheinlichkeit für
»mindestens einmal Kopf« beim zweimaligen fairen Münzwurf
mit 2 /3 und nicht wie es richtig wäre mit 3 /4 (nachzulesen unter
dem Stichwort »Croix on pile« in der Ausgabe von 1754). So wie
der Wettgegner unseres Bankhalters hatte er argumentiert: »Es
gibt die drei Möglichkeiten ›einmal Kopf‹, ›zweimal Kopf‹ und
›keinmal Kopf‹, alle gleich wahrscheinlich, also beträgt die Wahr-
scheinlichkeit für ›mindestens einmal Kopf‹ genau 2 /3.«
Dabei hatte d'Alembert jedoch vergessen, daß »einmal Kopf«
sowohl als Kopf-Zahl wie als Zahl-Kopf, also doppelt so häufig
auftritt wie »zweimal Kopf« und »keinmal Kopf«.
Auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der Mitbegrün-
der der Differentialrechnung und einer der größten Mathemati-
ker aller Zeiten, hat sich hier einmal einen kleinen Schnitzer er-
laubt: Es sei ihm unbegreiflich, wie ihm erfahrene Würfelspieler
versicherten, warum bei zwei Würfen die Augensumme neun
wahrscheinlicher sei als die Augensumme zehn, aber bei drei
Würfen die Augensumme zehn wahrscheinlicher sei als die Au-
gensumme neun. Denn schließlich könne die Summe neun wie
die Summe zehn in beiden Fällen auf gleich viele Arten anfallen,
also müßten die Augensummen in beiden Fällen gleich wahr-
scheinlich sein.
Das ist aber falsch, wie wir uns durch Auflisten aller Möglich-
keiten für eine Augensumme neun bzw. für eine Augensumme
zehn leicht überzeugen. Bei zwei Würfen können diese Summen
auf folgende Weisen entstehen:
Augensumme neun: (3,6) (6,3) (4,5) (5,4)
Augensumme zehn: (4,6) (6,4) (5,5)
Sowohl die Summe neun wie die Summe zehn kommen durch
zwei Zahlenpaare zustande: die Summe neun durch drei und
sechs sowie durch vier und fünf, die Summe zehn durch vier und
sechs sowie durch fünf und fünf. Insofern hatte Leibniz also
recht - beide Augensummen lassen sich durch je zwei Summan-
den bilden. Aber er hatte übersehen, daß hier auch die Reihenfol-
ge der Summanden wichtig, und die Summe neun auf vier Arten,
die Summe zehn aber nur auf drei Arten möglich ist.
Bei drei Würfen kehrt sich diese Reihenfolge um. Hier können
wir auf 25 Arten die Augensumme neun und auf 27 Arten die
Augensumme zehn erreichen, und zwar folgendermaßen:
Augensumme neun
(1,2,6) (1,6,2) (2,1,6) (2,6,1) (6,2,1) (6,1,2) (1,3,5) (1,5,3) (3,1,5) (3,5,1)
(5,1,3) (5,3,1)
(2,3,4) (2,4,3) (3,2,4) (3,4,2) (4,2,3) (4,3,2) (1,4,4) (4,1,4) (4,4,1)
(2,2,5) (2,5,2) (5,2,2)
(3,3,3)
Augensumme zehn
(1,3,6) (1,6,3) (3,6,1) (3,1,6) (6,1,3) (6,3,1)
(2,3,5) (2,5,3) (3,2,5) (3,5,2) (5,2,3) (5,3,2)
(1,4,5) (1,5,4) (4,1,5) (4,5,1) (5,1,4) (5,4,1)
(3,3,4) (3,4,3) (4,3,3) (2,2,6) (2,6,2) (6,2,2) (2,4,4) (4,2,4) (4,4,2)
Bei zusammen 216 Möglichkeiten erhalten wir also eine Wahr-
scheinlichkeit von 25 /216 für eine Augensumme neun und eine
Wahrscheinlichkeit von 27 /216 für eine Augensumme zehn.
Wie viele andere hatten d'Alembert und Leibniz auch hier ver-
mutlich nur gezählt, mit welchen Zahlen neun bzw. zehn erreich-
bar sind: in beiden Fällen mit vier Zahlenmengen. Nur sind die
Summen deshalb noch nicht gleich wahrscheinlich, weil sich die
Summanden auf verschieden viele Weisen zu den Summen kom-
binieren lassen.
(Das Buch kursiert auch in einer PDF-Version in den Filesharing-Programmen (eDonkey etc.))
Inhalt
Vorwort.............................................................................................9
1. Kapitel: Zufall und Wahrscheinlichkeit.................................... 13
Die meisten »Zufälle« sind alles andere als
unwahrscheinlich.............................................................................13
Parapsychologie und Todesträume..................................................21
Der heimwehkranke Blumentopf....................................................23
Das Geburtags-Paradox...............................................................28
2.. Kapitel: Auch Irrfahrten haben ihre Regeln........................... 35
Ein populärer Trugschluß zum Gesetz der Großen Zahl.................35
Muster in Zufallsfolgen oder der Affe und das Neue
Testament........................................................................................42
Random Walks und ewige Verlierer...............................................50
3. Kapitel: Irrtum und Wahrscheinlichkeit im Alltag................... 55
Warum fahren Aufzüge so oft nach unten?.....................................55
Haben Männer mehr Schwestern als Frauen?.................................58
Das »global village«-Paradox..........................................................60
Wie wahrscheinlich sind die Anfangsziffern l bis 9?......................66
4.Kapitel: Glücksspiele und Lotterien......................................... 71
Man kann beim Lotto auch auf lange Sicht gewinnen... 71
Populäre Trugschlüsse beim Roulette 82
Eine peinliche Panne bei der Glücksspirale 87
Es lohnt sich doch, die Ziegentür zu wechseln 90
Vorsicht ist nicht immer die Mutter der Porzellankiste... 97
5.Kapitel: Die seltsame Logik der Spielkarten und Würfel....... 101
Ein nur scheinbar faires Kartenspiel.............................................. 101
Der folgenschwere Irrtum des Chevalier de Méré......................... 107
Was chinesische Würfel, lahme Pferde und Erdbeertorten
gemeinsam haben..........................................................................111
Das Paradox des zweiten Asses..................................................... 117
6. Kapitel: Unerwartete Erwartungswerte................................. 121
Regression zum Mittelmaß, oder warum das Essen beim
zweiten Mal oft schlechter schmeckt............................................ 121
Junge oder Mädchen: eine falsche Strategie.................................. 125
Gewinne ohne Grenzen und das St. Petersburg-Paradox.............. 127
Der Tausch der Briefe, oder wie man Geld aus nichts
Erzeugt.......................................................................................... 131
7.Kapitel: Die Basis-Falle und andere Trugschlüsse aus
bedingten Wahrscheinlichkeiten............................................... 137
Sicherheitsgurte sind gefährlich.................................................... 137
Frauen haben es an Universitäten schwerer.................................. 143
Die Krebs-Gefahr nimmt zu.......................................................... 147
Das Simpson-Paradox und Mittelwerte......................................... 152
Leben Ehemänner wirklich länger?............................................... 154
8.Kapitel: Induktion und Illusion:
Fehlschlüsse aus Stichproben.................................................. 159
Die falsche Signifikanz der Signifikanz........................................ 159
Justizirrtümer und die zwei Fehler beim statistischen
Testen........................................................................................ 165
Verzerrte Stichproben und das Ende der Menschheit....................174
Epilog: Warum irren wir uns ausgerechnet bei
Wahrscheinlichkeiten?.............................................................. 179
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