-->Lehrstellen
<font size=5>Keine Chance für die Jugend</font>
In der Republik fehlen mehr als 100000 Ausbildungsplätze. Nur ein knappes Viertel der Betriebe kümmert sich noch um den Nachwuchs
Von Frank Schulte
Die Republik erstarrt im Ritual. Da appelliert die Regierung an die gesellschaftliche Verantwortung der Betriebe; da wettern Gewerkschaften, es gebe <font color=#FF0000">unter den Firmen zu viele"Ausbildungsmuffel"</font>; da kritisieren Unternehmen, <font color=#FF0000">dass viele Jugendliche nicht richtig rechnen, lesen oder schreiben könnten</font>. Und was passiert? <font color=#FF0000">Jeder benennt den Teil des Problems, der ihm passt, aber im Ergebnis ändert sich nichts: In Deutschland mangelt es an Lehrstellen - seit Jahren schon, aber noch selten so gravierend wie 2003</font>.
Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit ist die Zahl der angebotenen Lehrstellen im August gegenüber dem Vorjahr <font color=#FF0000">um 8,4 Prozent gesunken, gleichzeitig aber die Zahl der Bewerber um knapp ein Prozent gestiegen</font>. Am ersten September begann in vielen Ausbildungsberufen das neue Lehrjahr, <font color=#FF0000">doch zu diesem Zeitpunkt gab es noch über 113000 Jugendliche, die keine Lehrstelle hatten</font>. Gegenüber dem vergangenen Jahr ist das eine <font color=#FF0000">Steigerung von über 30 Prozent</font>. Zwar wird bis Ende Dezember noch nachvermittelt, <font color=#FF0000">doch mehr Jugendliche denn je werden auf einen Ausbildungsvertrag verzichten müssen</font>. Und viele verschwinden nur aus der Statistik, weil sie"<font color=#FF0000">zwischengeparkt</font>" werden, zum Beispiel in einer <font color=#FF0000">so genannten berufsvorbereitenden Maßnahme</font>.
Selbst wer eine Lehrstelle bekommt, kann noch eine böse Überraschung erleben: In den vergangenen drei Jahren ist die Zahl der insolventen Unternehmen stetig auf zuletzt 37500 gestiegen. 2003 dürften es deutlich mehr als 40000 sein. Das Risiko einer Firma, Pleite zu gehen, ist in den neuen Bundesländern dreimal so hoch wie in den alten. <font color=#FF0000">Und wer fertig ist mit der Maurer-, Schreiner- oder Kaufmannslehre, muss um die Übernahme kämpfen</font>. Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung herausgefunden hat, werden in den neuen Bundesländern <font color=#FF0000">nur rund 40 Prozent der Azubis übernommen, im Westen knapp 60 Prozent. Befristete Arbeitsverträge sind die Regel</font>.
Es knirscht also im deutschen Ausbildungssystem."Die Ausbildungsquote in den Großunternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten geht in den alten Bundesländern ganz erheblich zurück", sagt Klaus Troltsch vom Bundesinstitut für Berufliche Bildung (BIBB) in Bonn. Zwar sank seit 1990 in der gesamten Wirtschaft der Anteil der Auszubildenden an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. <font color=#FF0000">Bei den Großunternehmen aber war der Rückgang besonders drastisch</font>. Der Rückgang ihrer Ausbildungsquote von 5,2 Prozent auf 4,3 Prozent bedeutet einen Verlust von 100000 Ausbildungsplätzen. Allianz, Commerzbank und Post - einer Umfrage der Berliner Zeitung zufolge schrauben diese Konzerne auch in diesem Jahr ihr Ausbildungsplatzangebot gegenüber dem Vorjahr weiter zurück."Heute ist der Mittelstand der Träger der beruflichen Bildung", folgert Troltsch.
<font color=#FF0000">Aber auch dort geht die Quote zurück. Nur noch knapp ein Viertel aller deutschen Unternehmen stellt überhaupt Lehrlinge ein</font>. Damit wächst der politische Druck, die übrigen zur Kasse zu bitten. Wie eine Ausbildungsplatzabgabe aussehen könnte, ist allerdings unklar. Müssten wirklich alle Firmen zahlen, und wenn ja, wie viel? Oder gibt es Ausnahmen für Kleinbetriebe und Existenzgründer? Vor allem: Was bringt die Abgabe - führt sie wirklich zu mehr Lehrstellen? Am Ende wird der Kanzler die Antworten geben müssen. Noch will Gerhard Schröder abwarten. Noch also bleibt für Unternehmen und Verbände Zeit, trotz aller Schwierigkeiten für mehr Lehrstellen zu sorgen. Aber nicht mehr lange. <font color=#FF0000">Spürbar ist die Misere überall - im Osten und im Westen, im Süden und im Norden</font>.
"Nicht in diesem Jahr"
Ein letztes Mal den Schlips gerade gerückt, das Jackett glatt gestrichen. Dann beginnt eines dieser Gespräche, von denen Harry Handke seit 1995 mehr als 1000 geführt hat."Handke, guten Tag, Herr Willöper. Wir hatten telefoniert, ich bin der Lehrstellenentwickler der IHK." Ein Händedruck, ein freundliches Lächeln, jetzt gilt’s. In den kommenden 50 Minuten will Handke den Geschäftsführer der Schweriner Linda Waschmittel GmbH davon überzeugen, einen Ausbildungsplatz für einen Chemielaboranten einzurichten.
"Ich habe noch nie ausgebildet", sagt Peter Willöper, der Geschäftsführer des 20-Mann-Betriebs."Die nächste Schule ist einfach zu weit weg, das will ich keinem Azubi zumuten." Das war früher so, sagt Handke, heute gebe es eine Schule in Wismar, nur 30 Kilometer entfernt."Ach ja?" Ein guter Auftakt, aber längst noch nicht die Unterschrift unter den Ausbildungsvertrag.
Harry Handke ist so etwas wie ein Klinkenputzer, einer von rund 200, die in den neuen Bundesländern regelmäßig Betriebe besuchen, um neue Ausbildungsplätze zu schaffen. Sie tun das im Auftrag der Kammern und werden vom Bundesbildungsministerium bezahlt. Weil sich das Projekt bewährt hat, wird es seit Mitte der neunziger Jahre immer wieder verlängert. Das zeigt aber auch: <font color=#FF0000">Die Ausbildungsmisere ist ein Dauerbrenner</font>.
<font color=#FF0000">Das Werben um zusätzliche Ausbildungsplätze ist ein mühsames, mitunter zermürbendes Geschäft</font>: Vor zwei Jahren noch bot im Kammerbezirk Westmecklenburg etwa die Post 29 Lehrstellen an, in diesem Jahr hat das Unternehmen die gewerblich-technische Ausbildung komplett gestrichen. So etwas muss Handke zur Seite schieben, um nicht völlig resigniert von Betrieb zu Betrieb zu ziehen. Fast 30 Plätze weg, dafür muss er lange werben.
"Könnten Sie alle geforderten Ausbildungsinhalte vermitteln?" Handke zieht ein Heftchen aus der Tasche, in dem aufgelistet ist, was ein Chemielaborant alles lernen muss."Wir sind ein kleiner Betrieb, das könnte schwierig werden." Handke hat eine Lösung parat: Externe Bildungsdienstleister könnten lehren, was im Betrieb nicht vermittelt werden kann. Verbundausbildung heißt das, und allein in Westmecklenburg nutzen das 70 Prozent der Betriebe in den gewerblich-technischen Berufen. Solche Strukturen müssten ausgebaut werden, findet Handke, das würde gerade den kleinen Betrieben,"die durchaus ausbilden wollen, aber personell und wirtschaftlich dazu objektiv oft nicht in der Lage sind, wirklich helfen". Und eine Ausbildungsplatzabgabe?"Absolut nicht sinnvoll."
Später im Auto ist Handke mit sich zufrieden. Auf alle Bedenken Willöpers konnte er antworten, einige zerstreuen. Eine Garantie für einen zusätzlichen Ausbildungsplatz ist das aber längst nicht:"Da werden noch einige Gespräche nötig sein." Wie Recht er damit hat, stellt sich später heraus: Unternehmer Willöper will in diesem Jahr keinen Ausbildungsplatz schaffen. Nächstes Jahr aber, das hat er Handke gesagt, solle es dann so weit sein.
"Jugend ist ehrgeizig"
Die Hamburger DaimlerChrysler-Niederlassung am Friedrich-Ebert-Damm gehört zu den fünf größten in Deutschland."Früher haben wir immer über Bedarf ausgebildet. Das geht heute nicht mehr", sagt Ausbildungsmeister Volker Nawrot. Doch immerhin 80 Prozent der rund 15000 Euro, die eine Ausbildung kostet, holt ein Azubi wieder herein. Dort, wo jetzt nur einige Mappen herumliegen, stapelten sich Anfang des Jahres <font color=#FF0000">noch bis zu 400 Bewerbungen</font>. Im Gegensatz zu den verschmähten Ausbildungen zum Fleischer oder Bäcker <font color=#FF0000">stehen die Autoberufe in der Beliebtheitsskala deutscher Schüler regelmäßig ganz oben</font>. Die 13 jungen Männer, die im September ihre Lehre als Automechaniker oder -elektriker angetreten haben, standen bereits früh fest. Im Kalender, der neben der Tür hängt, sind noch die Termine für die Auswahltests im Februar vermerkt. Da hatten Nawrot und Kollegen schon über 100 Gespräche geführt.
Nach solchen Gesprächen gehört der 35-Jährige nicht zu denjenigen, denen nichts anderes einfällt, als lautstark über Jugendliche zu schimpfen. Wie die Wirtschaftsverbände, deren Chefs in Berlin oft genug beklagen, dass die jungen Leute zu wenig mitbrächten, wenn sie in die Betriebe kommen - weder im Kopf noch im Benehmen."Vielen fehlt es nicht an der Einstellung", sagt dagegen der Praktiker Nawrot mit ruhiger Stimme:"Die sind sogar ziemlich ehrgeizig. <font color=#FF0000">Aber vielen fehlt es schlichtweg am Können</font>."
In einem Auto stecke heute mehr Elektronik als Mechanik, <font color=#FF0000">aber das mathematische Verständnis sei erschreckend gering</font>. Ein Hauptschüler mit durchschnittlichen Noten hat in der Hamburger Niederlassung deshalb fast keine Chance:"Da muss bei den Bemerkungen der Lehrerin im Zeugnis schon einiges geboten werden." Woran es hapert? Natürlich auch an der Schule. Aber nicht nur. Nawrot erzählt eine kleine Geschichte von einem der Informationsabende, zu denen auch die Eltern eingeladen waren."Unterstützen Sie ihre Kinder", habe er gesagt,"helfen Sie bei der schriftlichen Bewerbung und bei der Vorbereitung auf das Gespräch."
Eine Mutter sei aufgestanden:"<font color=#FF0000">Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Ich bin arbeitslos und habe dafür überhaupt keine Zeit</font>." Da sei weniger Wut als Mitleid in ihm aufgestiegen, sagt Nawrot."Diese Frau hatte ihr eigenes Leben nicht im Griff. Das geht doch an den Kindern nicht spurlos vorüber."
"Der Azubi hilft uns"
Jacqueline Retzlaff ist 29 Jahre alt und hatte bereits lange in der Gastronomie gearbeitet, bevor sie im August des vergangenen Jahres mit Sonja Makatsch (51) den Szene-Treff Alter Schlachthof in Schwerin eröffnete. 80 Gäste finden dort Platz, zwischen viel hellem Ahornholz und großflächigen, pastellfarbenen Bildern. Zwei Jahre lang haben sich die beiden Gründerinnen darauf vorbereitet. Buchhaltung, Disposition, Einrichtung, das waren Themen, die sie beschäftigt haben. Aber Ausbildung?
"Es stand zwar fest, dass wir ausbilden wollten, aber dass es so schnell gehen würde, war nicht geplant", sagt die Jungunternehmerin. Bürokratische Hemmnisse gab es nicht. <font color=#FF0000">Nicht einmal einen Ausbildungseignerschein musste Retzlaff vorlegen: Forschungsministerin Edelgard Bulmahn hat die Eignungsprüfung inzwischen ausgesetzt</font>. Zu viele Vorschriften? In Schwerin jedenfalls nicht.
Also bildet Retzlaff aus. Weil es gut für sie sei und gut für den jungen Mann, den sie eingestellt habe. Dass der 20-jährige Mirco in der Küche steht, um Koch zu lernen, war dabei eher ein Zufall. Retzlaffs Mann brachte ihm in der Fahrschule das Autofahren bei."Mirco wollte die Stelle unbedingt, das kam an", sagt Retzlaff. Pünktlich sei der Azubi, ordentlich und selbstständig arbeiten könne er auch:"Da muss man dann nicht so viel Zeit investieren." Nur in der Schule könnte er besser sein, aber er verspricht, sich mehr anzustrengen. Schließlich ist er froh, dass er weg ist aus diesem Kurhotel an der Ostsee, in dem er nicht viel mehr machen durfte, als den Müll aus der Küche zu räumen.
"Eine Krise wie nie"
Die einstige Stahlstadt Dortmund hat ihren Wandel längst nicht bewältigt. Zwar konnten die Stadtväter stolz darauf verweisen, wie im Schatten der Hoesch-Hochöfen kleine IT-Unternehmen entstanden; zwar mussten sie den Platz im Technologiepark immer wieder erweitern. Aber ausgerechnet die Hoffnungsbranche IT schraubt jetzt ihre Ausbildungsplätze rigoros zurück - <font color=#FF0000">um fast 20 Prozent</font>. Die Konjunktur, die Krise."Einen so deutlichen Abstieg in so kurzer Zeit habe ich noch nicht erlebt. Wir werden kaum allen Bewerbern gerecht werden können", sagt Claus-Dieter Weibert, Geschäftsführer Bildung bei der IHK Dortmund.
Glücklich schätzen sich dagegen diejenigen Regionen, die mit DaimlerChrysler, Porsche, Bosch, IBM und Hewlett-Packard noch industrielle Eckpfeiler aufbieten können. Aber nur ein wenig. Zwar sagt Martin Frädrich, Geschäftsführer Bildung bei der IHK <font color=#FF0000">Stuttgart</font>, dass"der industrielle Kern bei uns <font color=#FF0000">noch zur Stabilisierung beiträgt; dazu gehören das Metall- und Kfz-Gewerbe und der Maschinenbau</font>". Doch wenn Frädrich auf sein Blatt mit den aktuellen Ausbildungsdaten schaut, muss er feststellen, <font color=#FF0000">dass auch im Ländle der wirtschaftliche Abschwung Wirkung zeigt. Nichts ist mehr so wie früher. Wie im Rest der Republik gilt auch hier: Jeder Ausbildungsplatz zählt</font>.
(c) DIE ZEIT 18.09.2003 Nr.39
Quelle: http://www.zeit.de/2003/39/Ausbildung_neu_neu, Die Zeit Online, 18.09.2003
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