-->Hallo
Das von Stephan und Bob beschriebene Phänomen hat schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts den damals 22-jährigen Ferdinando Galiani beschäftigt. Nachfolgend mein Kommentar und meine Überlegungen dazu [aus: W. Tabarelli (Hsg.),"Ferdinando Galiani-Über das Geld" mit einem Geleitwort von Alt-Staatspräsident Francesco Cossiga, Düsseldorf 1999; Anhang 1, S. 412ff; die im Text erscheinenden"pag."-Angaben beziehen sich auf die 1751 in Neapel erschienene Erstausgabe von Galianis Werk, als Faksimile neu erschienen 1986 im Verlag Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf]:
DIE IDEE VON DER
»WEISHEIT DER VIELEN«
Galiani beleuchtet im zweiten und dritten Kapitel des Ersten Buches unter anderem die Frage, wie und von wem »der Wert« bestimmt werde: dem einzelnen und a priori sei das, abgesehen von den methodischen Schwierigkeiten (pag.47 f), auch deshalb nicht möglich, sagt der Autor in diesem Zusammenhang, weil es viel zu viele Einflußfaktoren gebe, deren relatives Gewicht niemand analytisch ermitteln könne. Wozu indes der einzelne nicht in der Lage ist, das sei »einer Vielzahl von Menschen, die untereinander im Wettstreit um ihren jeweiligen Vorteil liegen« (»la moltitudine...che vi hanno interesse«), sehr wohl möglich. Denn was den eigenen Interessen entspreche, wisse eine Vielzahl Unwissender besser als ein Weiser allein.
Der Autor bezieht sich hier nicht auf das versicherungsmathematische Gesetz der großen Zahl. Denn bei einer »Vielzahl von Menschen, die im Wettstreit, jeder für sich, ihre eigenen Interessen verfolgen«, also bei Rückkopplungsprozessen, gilt dieses Gesetz natürlich nicht: Ob und wie viele Tore bei einem Fußballspiel fallen und für wen, ist keine Frage des statistischen Fehlerausgleichs, sondern »des Trachtens der Spieler«. Galiani wiederholt hier vielmehr seine Überzeugung, daß es zur Bestimmung eines Wertes immer des »mondo civile« (Vico), somit stets mehrerer Menschen bedürfe - mindestens zweier (pag. 28), besser jedoch sehr vieler (pag. 44; 54; 102; 104; 172; 280) -, und daß ein »gerecht« festgesetzter Wert, d.h. ein Gleichgewichtspreis, jedenfalls niemals nur der Laune eines einzelnen entspringe (pag. 26f; 45; 53). Viele Menschen zusammengenommen seien (sofern jeder einzelne nur ein Körnchen Wissen über die Sache besitzt; pag. 187) im Vorteil. Sie sind, indem sie nichts anderes tun, als nur ihre ureigensten Interessen zu verfolgen, durchaus in der Lage, die maßgeblichen Daten zu ermitteln und zu verarbeiten; denn ein »falsch« bestimmter Wert würde ja sofort für irgend jemanden zum Nachteil, zu Ungleichgewichten und damit zum Ausgleich führen. Ein außenstehender Beobachter indes wäre damit überfordert.
Es ist dies ein Gedanke, der an die methodologischen Fundamente der ökonomischen Wissenschaft schlechthin rührt. Denn es geht um nichts Geringeres als um die Frage, ob es prinzipiell irgendeine »bessere« Einschätzung und damit Verteilung der Werte, also des Wohlstandes auf der Welt, geben könne als die, die der freie Wettbewerb vieler herbeiführt, also ein freier Markt. Der zweiundzwanzigjährige Galiani im Jahr 1751:[i] das sei fundamental unmöglich!
Die mittlerweile auch durch gruppendynamische Befunde bestätigte These<font size="2">1</font> läßt sich dogmengeschichtlich bis zu Aristoteles zurückverfolgen: »Wenn auch der einzelne kein tüchtiger Mann sein mag, so scheint doch die Menge in ihrer Gesamtheit besser sein zu können... Zusammengenommen wird die Menge wie ein einziger Mensch, der viele Füße, Hände und Sinnesorgane hat; desgleichen, was den Charakter und das Denken betrifft. So beurteilt auch die Menge die Werke der Musik und der Dichter besser...«<font size="2">2</font> Ähnlich Machiavelli im ersten Buch seiner Discorsi: »...so behaupte ich, daß das Volk klüger und beständiger ist und ein richtigeres Urteil hat... Nicht ohne Grund vergleicht man die Stimme des Volkes mit der Stimme Gottes...«<font size="2">3</font>
Karl Marx verwechselt zwar Arbeitszeit und Wert, sieht aber sehr deutlich, daß der Wert im Grunde von der Gesellschaft, nämlich »durch einen gesellschaftlichen Prozeß hinter dem Rücken der Produzenten festgesetzt« wird.<font size="2">4</font> Auch Pareto ist von der überlegenen »Weisheit der Vielen« überzeugt. Er fordert, der Wirtschaftswissenschaftler müsse »...die in großer Zahl wiederholten, logischen Handlungen studieren, die die Menschen ausführen, um sich jene Sachen zu besorgen, die ihren Geschmack befriedigen«.<font size="2">5</font> Für Fritz Machlup ist das Verhalten der Vielen, das eben dadurch der Realität in höherem Maße angemessen ist, auch besser vorhersehbar: »Wie sich ein, zwei oder drei Federal-Reserve-Direktoren entscheiden werden, ist ungewiß. Die Tendenz der Entscheidungen von tausend und abertausend Weizenproduzenten ist bei weitem nicht so ungewiß.«<font size="2">6</font> Sehr klar schließlich F.A. von Hayek: »[In] die Bestimmung des relativen Preis- und Lohnsystems...wie es sich auf einem gut funktionierenden Markt von selbst herausbilden wird... wird der Einfluß individueller Informationen, über die jeder der Teilnehmer am Marktprozeß verfügt, mit einfließen - eine Summe von Fakten, die in ihrer Gesamtheit weder dem wissenschaftlichen Beobachter noch irgendeinem anderen Kopf bekannt sein kann. Gewiß liegt hier der Ursprung für die Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Ordnung.«<font size="2">7</font>
<font size="2">1 Die experimentalpsychologische Ausleuchtung der Frage begann erst in unserem Jahrhundert (Münsterberg, 1912). Schon 1897 hatte Triplett allerdings angesichts der Diskrepanzen zwischen der Leistung des auf sich gestellten Einzelnen und der des Individuums im Wettbewerb mit anderen formuliert, daß »...die körperliche Gegenwart von Konkurrenten latente Energien frei werden läßt, die ansonsten nicht zur Verfügung stehen.« (Triplett; zitiert nach der glänzenden Darstellung des Themas durch Hofstätter, l.c. S.47.) Zur Informationsverarbeitung durch den Menschen in der Gesellschaft, auch ohne explizit auf das Konkurrenzelement einzugehen, indes schon Jevons (1871, S.10f): Es ist »...die Größe unserer Gefühle, welche uns fortwährend antreibt, zu verkaufen und zu kaufen, zu borgen und zu leihen, zu arbeiten und zu ruhen, zu erzeugen und zu verbrauchen...« Ein ganz ähnliches Systemgeschehen, das noch weit davon entfernt ist, theoretisch verstanden zu werden, zeigt sich neuerdings übrigens bei der Beschäftigung mit Neuronalen Netzwerken (vgl. z.B. Martin and Biggs, l.c.).
2 Aristoteles, Pol., iii/1281a40-1281b9
3 Machiavelli, Discorsi I/58; l.c. S.78.
4 1867, l.c. S.11.
5 Pareto, l.c., iii, 1; S.142; Pareto hat (nach Hofstätter, S. 26) auch an anderer Stelle auf die Bedeutung von Rückkopplungsprozessen im sozialen Geschehen hingewiesen
6 l.c., S. 42ff
7 F.A. von Hayek, 1978; zit. nach d. deutschen Text: Bd. i, S. 389.</font>
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Gruß
G.
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