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Grossbritannien
Glücklich im Schuldenturm
Rasant steigende Immobilienpreise und sinkende Hypothekenzinsen heizen den Konsum der Briten an
Von John F. Jungclaussen
Milton hat es gut. Er hat eine hübsche Frau, eine entzückende Tochter und zwei Immobilien, die sich wie von Wunderhand selbst finanzieren. Und das geht so: Milton lebt in London. Vor sieben Jahren kaufte er eine Souterrainwohnung mit Garten im Stadtteil Fulham. Das Geld, 90000 Pfund, beschaffte er sich durch eine Hypothek. Der Wert der Kellerbude stieg schnell. Heute ist sie 300000 Pfund wert. Bereits vor zwei Jahren machte Milton sich diese Wertsteigerung zunutze, indem er sich von der Bank 100000 Pfund auf den Wert der Wohnung lieh und damit ein geräumiges Haus mit sieben Zimmern anzahlte, das für 268000 Pfund auf dem Markt war. Auf Miltons Schultern lasten nun monatliche Hypothekenschulden von 1428 Pfund: 828 Pfund für die Wohnung, 600 Pfund für das Haus. 1409 Pfund davon bezahlt der Mieter; bleibt für Milton ein Saldo von 19 Pfund. Der Wert seines Hauses ist unterdessen auf 420000 Pfund gestiegen.
Im Wesentlichen gibt es zwei Faktoren, die nicht nur Milton, sondern auch vielen anderen Briten in den vergangenen Jahren zu schnellem Reichtum verholfen haben: die enormen Wertsteigerungen bei Immobilien und die variablen Hypothekenzinsen in Großbritannien.
So sind in den vergangenen sechs Jahren die Hauspreise in Großbritannien um rund 90 Prozent gestiegen. Inzwischen ist das britische Durchschnittshaus über 100000 Pfund wert; vor 15 Jahren waren es noch 38000 Pfund. Die Gründe für diese Wertsteigerung: hohe Nachfrage und mangelndes Angebot. Bürgerliches Glück für einen Briten definiert sich vor allem dadurch, möglichst früh im Leben ein Eigenheim zu besitzen. Was dem Deutschen sein Auto, ist ihm sein Haus. 63 Prozent aller Briten lebten im vergangenen Jahr unter ihrem eigenen Dach, in Deutschland waren es nur knapp über 40 Prozent.
Dem Drang zum eigenen Heim wurde in den achtziger Jahren auch dadurch Vorschub geleistet, dass die Regierung Bewohnern von Sozialwohnungen mit Steuervorteilen den Erwerb ihres Heimes vereinfachte. Das Motto damals: Jeder für sich selbst, und der Markt für alle. Als der Staat sich immer konsequenter aus der Rentenvorsorge zurückzog, wurde die eigene Immobilie ein immer wichtigerer Bestandteil in der individuellen Planung der Altersversorgung. Zusätzlich herrscht akuter Wohnraummangel. Allein im Großraum London fehlen derzeit an die 70000 Wohnungen. Das Grundprinzip der freien Marktwirtschaft schafft also einen dynamischen Immobilienmarkt.
Fragiles Kartenhaus
Diese Dynamik wird durch die besondere Form der Hypothekenfinanzierung unterstützt. Sie ist kurzfristig, und sie ist flexibel. Britische Hypotheken werden von den Banken aus dem Geldmarkt finanziert. Verträge werden im Durchschnitt für drei bis fünf Jahre abgeschlossen und dann neu verhandelt. Wichtiger noch: Die Zinslast ist direkt an den Leitzins gekoppelt. Setzt die Bank of England die Zinsen um ein halbes Prozent herab, sinkt die monatliche Zahlungslast des Hypothekennehmers um 0,2 bis 0,25 Prozent.
Das hat wiederum direkte Auswirkungen auf die Konsumfreude des Völkchens. Denn in den letzten zehn Jahren sind die Leitzinsen kontinuierlich gefallen. Als Milton seine erste Wohnung kaufte, lag der Leitzins bei 6 Prozent, inzwischen ist er auf nur noch 3,5 Prozent gesunken - den tiefsten Stand seit 1953, als Winston Churchill noch Premierminister war. Entsprechend unbekümmert konsumierten die Briten in den letzten zehn Jahren. „Die fallenden Zinsen haben den britischen Kunden bei Laune gehalten“, urteilt Thomas Mayer, Chefökonom bei der Deutschen Bank in London. Während die Konsumenten auf dem Kontinent mit dem Beginn des Millenniums aufhörten, Geld auszugeben, verlangsamte sich der Konsum in Großbritannien erst im vergangenen Jahr spürbar. Denn häufig nutzen Hausbesitzer die Wertsteigerung, um ihre Hypotheken zu erhöhen - und damit dann entweder ein neues Haus oder auch ihren Konsum zu finanzieren. Das setzt freilich voraus, dass der Immobilienmarkt weiter im Aufwind bleibt. Tut er das nicht, fällt das Kartenhaus rasch in sich zusammen.
Die Nachteile liegen also auf der Hand. Das Risiko liegt beim Kunden. Kurzfristigkeit und Flexibilität können ebenso konsumhemmend wirken, wie sie in den letzten zehn Jahren konsumfedernd wirkten.
Den letzten Trümmerhaufen auf dem Immobilienmarkt gab es gegen Ende der achtziger Jahre. Die Zinsen stiegen so hoch, dass vielen britischen Hausbesitzern nicht nur die Lust am Konsum verging, sondern Hunderttausende Haushalte den finanziellen Ruin erlebten. Bei einem Zinsniveau von über 13 Prozent konnten sie die monatlichen Zahlungen nicht mehr aufbringen, sie gingen Bankrott. Gleichzeitig erlebte der Immobilienmarkt einen Einbruch, und 1,5 Millionen Familien bewohnten ein Haus, das weniger wert war als beim Kauf und für das sie Zinsen bezahlen mussten, die ihr Budget überstiegen. Immobilien im Wert von Hunderten von Millionen Pfund gingen in den Besitz der Banken über.
Dass dies alles sich wiederholen könnte, fürchtet denn auch die britische Regierung. Nach Berechnung der Bank of England summierten sich die Hypothekenschulden Ende Juli auf 722,1 Milliarden Pfund - immerhin das Fünffache der privaten Schulden sämtlicher Haushalte innerhalb der Euro-Zone, wie das Schatzkanzleramt errechnet hat. In einem Bericht des Ministeriums heißt es, der Verbraucher lasse sich bei der Wahl seiner Hypothek „zu sehr von der kurzfristig zu erwartenden Zinsbelastung beeinflussen“. Diesen Unsicherheitsfaktor möchte die Regierung gern ausmerzen. Zwar ist bei dem gegenwärtigen Zinsniveau nicht mit einem unmittelbaren Zusammenbruch des Marktes zu rechnen, aber „Umsicht“ gehört zu den Lieblingsvokabeln des Finanzministers Gordon Brown, und so hat er angekündigt, den britischen Hypothekenmarkt zu reformieren.
Reform geplant
Und möglicherweise nach deutschem Vorbild feste Zinsen für Hypothekendarlehen einzuführen, die über die Vertragsdauer unverändert bleiben - egal in welche Richtung sich die Leitzinsen bewegen. Dem Hypothekennehmer sei „langfristige Planungssicherheit garantiert“, wirbt Christian Walburg vom Verband deutscher Hypothekenbanken. Planungssicherheit bedeutet freilich auch geringere Flexibilität. Deutsche Hypotheken werden nicht wie in Großbritannien auf dem freien Markt finanziert, sondern durch Pfandbriefe - Schuldverschreibungen, die in Höhe des Nennwertes der Hypothek und des vereinbarten Zinsertrages gedeckt sind und deren Laufzeit deshalb nicht veränderbar ist. Durch die „Langfristorientierung“ schafft die Bank sich das Risiko vom Hals. Das hat nach Meinung von Walburg zur „Verstetigung geführt und Stabilität geschaffen“.
Gordon Brown hat einen Experten berufen, der unterschiedliche Modelle untersuchen soll. Dabei ist Professor Davis Miles vom Londoner Imperial College auf ein System gestoßen, das die Stabilität der deutschen Variante mit der Flexibilität der britischen Alternative kombiniert. Angewandt wird es in Dänemark: Der Kunde verpflichtet sich zunächst auf eine lange Laufzeit, kann aber bei fallenden Zinsen seine Schulden frühzeitig abbezahlen und den Vertag beenden.
Auch britische Hypothekenbanken denken derweil darüber nach, ihre Produktpalette durch das Angebot von Verträgen mit langen Laufzeiten zu erweitern. Die Bank Northern Rock etwa will über ein Tochtergesellschaft in Irland so genannte Covered Bonds ausgeben, de facto Pfandbriefe. Die Bausparkasse Halifax befürwortet ebenfalls die Erweiterung des Marktes. „Die Entwicklung langfristiger, festverzinslicher Hypotheken auf dem britischen Markt sollte unbedingt vorangetrieben werden“, sagt ihr Direktor Philip Hanson.
Am Ende bleibt es freilich schwierig, einen Markt vonseiten der Regierung zu beeinflussen, der ganz und gar von der Nachfrage abhängt. Die Vereinigung der Hypothekenbanken (CML) warnte vergangene Woche, dass die Umstellung des britischen Marktes auf solidere Füße nur durch Steueranreize zu erzielen sei. Die würden, so sagte CML-Direktor Michael Cogan, den Staat allerdings bis zu sieben Milliarden Pfund kosten. „Der Konsument ist preisempfindlich“, meinte Cogan, „kaum jemand wird sich langfristige Sicherheit mit hohen Prämien erkaufen wollen.“ Stattdessen regt er an, lieber das Angebot zu erhöhen. „Baut mehr Häuser“, schlägt er vor.
(c) DIE ZEIT 25.09.2003 Nr.40
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