-->Erst Renten, dann Rüstung
Von Karl Moersch
Die Einführung der umlagefinanzierten Rente war ein Meilenstein auf dem Weg zum Wohlfahrtsstaat unserer Tage. Was heute als letzter Schrei gilt, das Kapitaldeckungsverfahren, war damals am Ende. Es stammte aus der Bismarck-Zeit. Unionsparteien und Sozialdemokraten haben den Systemwechsel gemeinsam vollzogen - was die Ausgestaltung der Renten als"Vollrenten" betraf, gegen fachlichen Rat. Erinnerungen an eine folgenreiche Reform des Jahres 1957. Neunzehn Minuten nach Mitternacht - auf dem Kalender stand das Datum 22. Januar 1957 - endete im Bonner Bundeshaus die dritte Lesung der neuen Rentengesetze. Trotz der langen Dauer - die 187. Sitzung des zweiten Deutschen Bundestages hatte um 9 Uhr morgens begonnen - herrschte im fast vollbesetzten Plenarsaal Hochstimmung. 412 der anwesenden 456 Abgeordneten hatten den Gesetzesvorlagen zugestimmt. Die 33 Neinsager saßen auf der rechten Seite des Hauses - es waren die Freien Demokraten, die im Februar 1956 in die Opposition gegangen waren. Zehn Enthaltungen stammten aus der Fraktion der Deutschen Partei, des Koalitionspartners der CDU/CSU.
In den Januartagen des Jahres 1957 hatte man im Deutschen Bundestag erstmals ein enges Zusammenwirken von Union und SPD erlebt, eine"große Gesetzgebungs-Koalition". Nach den erbitterten Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik, die Westintegration, die Wiederbewaffnung und die Deutschlandpolitik erschien das einheitliche Abstimmungsverhalten der beiden großen, miteinander konkurrierenden Parteien als eine zunächst kaum für möglich gehaltene Neuigkeit. Vor allem die christlichen und die sozialdemokratischen Gewerkschaftler redeten in der Rentendebatte einander als"liebe Kollegen" an. Nun, in der nachmitternächtlichen Stunde des 22. Januar, umschlang sie ein großes, wenn auch unsichtbares, einigendes Band. Mancher Wirtschaftspolitiker und mancher Freiberufler in der CDU/CSU-Fraktion beobachtete das gegenseitige Schulterklopfen aus angemessener Distanz - und ziemlich irritiert.
Diese Gruppe in der Unionsfraktion hatte bei den Abstimmungen zwar Fraktionsdisziplin geübt, war aber vom Ergebnis der Gesetzesberatungen nicht überzeugt. Man teilte die Zweifel, die vor allem Abgeordnete der FDP sowie die tapfer streitende Margot Kalinke von der Deutschen Partei in den insgesamt 42 Debattenstunden immer wieder geäußert hatten.
Zweifler, Kritiker gar, waren in jenen Tagen im Parlament nicht erwünscht. Als der FDP-Abgeordnete Max Becker aus Hersfeld, von Beruf Notar und Rechtsanwalt, zum Schluß der Debatte das"Nein" seiner Fraktionskollegen begründete und dabei äußerte, die Bundestagsmehrheit beschließe"hier und heute" ein dem"früheren großen Ruf der deutschen Sozialversicherung abträgliches Gesetz", notierte der Stenograph"Unruhe in der Mitte" sowie den Zuruf"Unerhört". Der Sozialdemokrat Ernst Schellenberg, ein Berliner, hatte zuvor reichen Beifall erhalten, als er mit erhobener Stimme und, wie immer am Rednerpult, ein wenig mit den Armen rudernd, verkündete:"Wir Sozialdemokraten sind glücklich, daß Epochemachendes in einem Gesetz verwirklicht wird." Das Wort"epochemachend" klang uns Zeitungsleuten auf der Pressetribüne etwas überraschend in den Ohren; wir hatten es zuletzt als Pimpfe beim Jungvolk gehört.
"Wir haben ja nun
die Vollbeschäftigung erreicht"
Auch ein sonst recht nüchtern wirkender Politiker wie der christliche Gewerkschaftler und Arbeitsminister Anton Storch aus Fulda sparte im Rückblick auf die sogenannte"Rentenschlacht" nicht mit großen Worten. Er ließ seine Zuhörer wissen:"Gewaltig ist das Werk deswegen, weil nun einmal die Tatsache feststeht, daß ab 1. Januar 1957 sieben Millionen Rentner im Jahr statt acht Milliarden D-Mark nun etwa 13,5 Milliarden erhalten werden."
Vorbehalte oder gar ernsthafte Bedenken hörte man aus dem Mund des Bundesarbeitsministers während der langen Debatten kein einziges Mal. Seine Zuversicht in die Beständigkeit der Reformgesetze war bemerkenswert. Schon bei der Begründung des Regierungsentwurfes, am 27. Juni 1956, ließ Storch die Abgeordneten wissen, weshalb er seiner Sache so sicher sei. Er sagte:"Wir haben ja nun die Vollbeschäftigung erreicht."
In der Ã-ffentlichkeit und unter den Skeptikern in der Unionsfraktion wurde zwar immer wieder die Frage gestellt, ob man denn mit der neuen, umlagefinanzierten Rente den Beitrag von künftig 14 Prozent stabil halten könne. Schließlich sollten die Renten um etwa zwei Drittel erhöht werden. Aber diesen Einwand hielten Storch und seine Mitstreiter in der Unionsfraktion für unangebracht."Zuversicht" hieß die Parole. Den Kritikern aus den Reihen der FDP und der Deutschen Partei gab der Arbeitsminister im Bundestag nie eine nur halbwegs präzise oder gar plausible Antwort.
Nach fast fünf Jahrzehnten weiß man, daß bei der Rentengesetzgebung nicht nur eine unbegründete Zuversicht vorherrschte, sondern auch Selbstbetrug mit im Spiel gewesen sein muß. Das belegen nicht zuletzt die Kabinettsprotokolle aus den Jahren 1956 und 1957. Sie bieten geradezu ein Lehrbeispiel für ein politisches Handeln, das zuviel auf kurzfristige Wirkung setzt und dabei die späteren Risiken ignoriert und, ohne ernsthafte Skrupel, den künftigen Generationen zuschiebt.
Warum eigentlich hat man damals das hergebrachte Rentensystem verworfen? Ursprünglich war die Angestelltenversicherung ganz auf die Erträge aus einem angesparten Kapital gegründet worden. Auch bei der Arbeiterrentenversicherung aus der Bismarck-Zeit hatte der Gesetzgeber das Kapitaldeckungsverfahren für zwingend gehalten. Allerdings gewährte der Staat von Anfang an Zuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln - eine Art Armenhilfe."Wegen der Kriegsfolgen, der Vernichtung der Vermögenswerte" sei das Kapitaldeckungsverfahren überholt, lautete 1956 die Begründung der Neuerer. Anton Storch fügte hinzu:"Auch wegen der inzwischen sehr großen Zahl der Versicherten."
Auf die Auswirkungen des Staatsbankrotts auf die gesetzliche Altersvorsorge hatte der Bundesarbeitsminister schon 1952 aufmerksam gemacht. Die Situation der staatlichen Sozialversicherung sei außerordentlich schwierig, sagte Storch, das"versicherungsmathematische Minus" betrage 50 Milliarden D-Mark - eine für jene Zeit ungeheure Summe. Der Arbeitsminister beließ es nicht bei der alarmierenden Mitteilung. Es müsse und es werde etwas geschehen, verkündete er. Details verriet Storch noch nicht.
Konrad Adenauer, der Bundeskanzler, war derselben Ansicht wie der Arbeitsminister. Nach dem großen Wahlerfolg der Unionsparteien versprach er am 20. Oktober 1953 in seiner Regierungserklärung eine"große Sozialreform". Mit ihr wolle und werde man die offensichtlichen Mängel bei der sozialen Sicherung beseitigen. Millionen Deutsche, die am Radio saßen, um die Übertragung aus dem Bundestag zu hören, reagierten erfreut auf diese Ankündigung. Kein Mitglied des zweiten Kabinetts Adenauer wußte an jenem Oktobertag, was denn der Inhalt der großen Sozialreform sein werde. Noch fast zwei Jahre lang wartete man in Bonn auf den Plan, genauer gesagt auf eine rettende Eingebung der Fachleute des Arbeitsministeriums. Sie blieben stumm.
Die Erleuchtung kam schließlich im Sommer 1955, und sie kam aus dem heiligen Köln. In einem Zeitschriftenbeitrag erläuterte der Geschäftsführer des katholischen Arbeitgeberverbandes, Dr. Wilfried Schreiber, ein Volkswirt und Privatdozent, wie man mit den riesigen Vermögensverlusten fertig werden könne. Sein Vorschlag: Eine umlagefinanzierte Rente sollte es sein, keine Rente mehr aus Kapitalerträgen und aus Steuermitteln.
Konrad Adenauers Sohn Paul entdeckte Schreibers Beitrag und machte seinen Vater auf die neuartige Rentenidee aufmerksam. Nach einem Gespräch mit Schreiber war der Bundeskanzler sicher, daß man mit dem Umlageverfahren zum Erfolg kommen werde. Entsprechende Weisungen ergingen an den Bundesarbeitsminister. Das Schreibersche Rentensystem war von ihm als"Solidar-Vertrag zwischen jeweils zwei Generationen entworfen", die"erwerbstätige Generation sollte die vorangegangene im Alter unterhalten". Schreibers Erläuterung seines Grundgedankens ist später unter dem Wort"Generationsvertrag" popularisiert worden. Im Kabinett und Bundestag ist davon nie die Rede gewesen.
Bestandteil von Schreibers Rentenplan war auch eine regelmäßige Anpassung der Rentenhöhe an eine höhere Produktivität und ein größeres Sozialprodukt. Staatszuschüsse paßten von Anfang an nicht zu Schreibers Konzept. Solche Zuschüsse aus dem Steueraufkommen stammten ja, so argumentierte Adenauers Berater, aus dem Einkommen der Versicherten.
Von Beginn an riet Schreiber von einer Rentenhöhe ab, die höher wäre als 50 Prozent des letzten Nettoverdienstes eines Versicherten. Bei der öffentlichen Anhörung im Sozialpolitischen Ausschuß des Bundestages bestätigte er seine Empfehlung. Er gab zu bedenken, daß die Beiträge für eine sogenannte"Vollrente" bald auf 25 Prozent und eventuell noch viel höher steigen müßten, so daß kein Raum mehr für die private Vermögensbildung bliebe. Ein Rentenniveau von 50 Prozent reichte in den Augen Schreibers zur Grundsicherung aus. Es ermögliche individuelle Entscheidungen für die Altersversicherung. Mit der Ablehnung einer Vollrente entsprach Schreiber im übrigen dem von den Unionsparteien ebenso wie von den Freien Demokraten verkündeten Ziel"Eigentum für alle". Privateigentum, so hörte man damals auch als Argument, sei vererbbar.
Die Sozialdemokraten hatten schon im Jahre 1952 ein Rentenniveau von 75 Prozent gefordert, also eine"Vollrente". Sie orientierten sich dabei an den Beamtenpensionen und hielten eine derartige, vom Staat aus Steuermitteln mitfinanzierte Rente für notwendig und angemessen. In ihrem Initiativ-Gesetzentwurf, vorgelegt am 18. April 1956, ignorierten sie die Argumente Schreibers.
Auch die Leitlinien für einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, die acht Tage nach der Initiative der SPD als"Sozialpolitische Mitteilungen" im Bulletin des Bundespresseamtes veröffentlicht wurden, nahmen nicht an den Schreiberschen Empfehlungen Maß. Bundesarbeitsminister Storch stellte vielmehr auch eine Art"Vollrente" in Aussicht. Als Richtzahl nannte Storch bei anderer Gelegenheit die 70- oder 72-Prozent-Rente. Auf jeden Fall sollte die künftige Altersrente mehr als 60 Prozent des letzten durchschnittlichen Nettoeinkommens eines Versicherten betragen. Man wollte - das wurde verständlicherweise nie gesagt - in der Rentenhöhe möglichst wenig von den Forderungen der SPD abweichen.
Die Kabinettsmitglieder, allen voran Finanzminister Fritz Schäffer (CDU) und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU), wurden von den Rentenplänen in den"Sozialpolitischen Mitteilungen" überrascht. Im Bundeskabinett war noch nicht über die Grundlinien einer neuen Rentengesetzgebung entschieden worden. Da die"Sozialpolitischen Mitteilungen" jedoch mit einem Vorwort von Bundeskanzler Adenauer erschienen waren, wußte man, daß der Bundesarbeitsminister die Rückendeckung des Regierungschefs besaß.
Schäffer hatte einige Milliarden Mark für die in Aussicht genommene Aufstellung einer Bundeswehr zurückgelegt. Nun fürchtete er wegen der drohenden hohen Staatszuschüsse um seine Finanzreserven. Erhard paßte die ganze Richtung nicht. Angekündigt wurde ja eine Art"Index-Rente", verbunden mit einer überdimensionalen Staatsfürsorge.
Um den Widerstand im Kabinett besser überwinden zu können, erklärte Adenauer seine Vorstellungen über eine neue Rentengesetzgebung zur"Richtlinie". Dem widerspenstigen Finanzminister Schäffer gab er das auch schriftlich, eine etwas ungewöhnliche Form der Abmahnung. Schäffer hatte unter anderem Adenauers Eile kritisiert und eingewandt, man könne ein so schwieriges Gesetzeswerk nicht mehr vor der Bundestagswahl im Herbst 1957 verabschieden. Außerdem hatte sich Schäffer erlaubt, bei dem hochangesehenen Kölner Versicherungsmathematiker Georg Heubeck ein Gutachten zur Finanzierung der in Aussicht genommenen neuen Renten zu bestellen. Das mißfiel dem Bundeskanzler. Die Sache dulde keinen Aufschub, belehrte er die Kabinettsmitglieder.
Die Gründe für sein Drängen nannte Adenauer zuerst in den Führungszirkeln der Union. Bei der Beratung der Gesetzentwürfe sagte Adenauer im Kabinett, die Wahl sei schon verloren,"wenn man das Problem der Renten nicht rechtsgültig und großzügig löse". Der Arbeitsminister sekundierte dem Bundeskanzler mit einem Hinweis auf die jüngsten Nationalratswahlen in Ã-sterreich. Der Wahlerfolg der Ã-VP, so Storch, sei durch die neue, moderne Rentenordnung ermöglicht worden, bei der man die Renten per Gesetz verdoppelt habe auf jetzt 79,5 Prozent der letzten Löhne. Mit dem österreichischen Beispiel vor Augen verlangte Adenauer ein Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung mit Wirkung vom 1. Januar 1957. Außerdem wünschte er eine Sonderzahlung für alle Rentner an Weihnachten 1956.
So geschah es dann auch. Im Juli 1957, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, erhielten die Rentner eine Nachzahlung für das erste Halbjahr 1957. Das bedeutete: viel Bargeld auf einmal, denn die Renten waren ja um bis zu 70 Prozent erhöht worden. Für den Sommer 1957 vermeldete die Tourismus-Statistik einen sprunghaften Anstieg von Rentner-Reisen in den Süden, nach Italien vor allem.
Der FDP-Vorsitzende Thomas Dehler sagte öffentlich, alles, was Adenauer da arrangiert habe, ziele"auf den öden Schlitz der Wahlurne". Adenauer dürfte sich über diese Art von Kritik gefreut haben. Tatsächlich hatte der Bundeskanzler richtig kalkuliert. Am 15. September 1957 siegten die beiden Unionsparteien mit einem Stimmanteil von mehr als 50 Prozent. Arbeitsminister Storch kommentierte dieses Ergebnis mit den Worten:"Entscheidend für den Wahlsieg war die Rentenreform."
Vollrente nur
ohne Wiederbewaffnung
Das bezweifelte man auch nicht in der SPD. Die Partei hatte schon 1952 das Startzeichen für eine grundlegende Reform gegeben. Als sie dann im April 1956 ihren Gesetzentwurf vorlegte und begründete, wurde deutlich, daß die Rentenpläne mit dem Kampf gegen eine Wiederbewaffnung gekoppelt werden sollten. Nur wenn sich die Aufstellung einer Bundeswehr verhindern ließ, waren die Rentenvorschläge der Sozialdemokraten überhaupt ernst zu nehmen. Der Abgeordnete Schellenberg beharrte nämlich auf dem Vorschlag, den Beitragssatz auf zwölf Prozent zu begrenzen, zum Ausgleich aber dauerhaft einen Staatszuschuß von nicht weniger als 40 Prozent gesetzlich festzuschreiben. Der einfache Nenner lautete:"Nur ohne Wiederbewaffnung gibt es eine staatlich mitfinanzierte Vollrente."
Die Protokolle des Bundestags enthalten keinen Hinweis auf diesen Zusammenhang, auch in den Kabinettsprotokollen steht darüber nichts. Adenauer aber, der den Amerikanern eine deutsche Nato-Streitmacht von bis zu 500 000 Mann in Aussicht gestellt hatte, erkannte allem Anschein nach schon frühzeitig, daß ihm die Doppelstrategie der SPD gefährlich werden könnte. Am meisten fürchtete er, daß SPD und Gewerkschaften gemeinsam die Wiederbewaffnung ablehnen könnten.
Wie konnte man die Partei und die Gewerkschaften zumindest ein wenig voneinander trennen? Das war jetzt die vordringliche Frage. Adenauer verstärkte den Kontakt zur Führung des DGB. Es kam zu einem Treffen mit Willi Richter, dem Vorsitzenden des DGB und SPD-Bundestagsabgeordneten. Richter lud den Bundeskanzler zum DGB-Bundeskongreß in Köln ein, der am 7. Oktober 1956 begann. Adenauer sagte sofort zu. Es war das erste Mal, daß er an einer derartigen DGB-Veranstaltung teilnahm. Als Gastredner bekundete der Bundeskanzler den Delegierten zunächst seine ungeteilte Sympathie für die Gewerkschaften. Danach verwies er auf die große Gemeinsamkeit bei der Rentenreform und sagte, er habe großes Verständnis für die sozialen Forderungen der Gewerkschaften. Es war ziemlich still im Saal, als ein Zwischenruf ertönte:"Erst Renten, dann Aufrüstung." Adenauer fühlte sich von dem Zwischenrufer eher ermutigt als gestört, hatte doch der Zwischenrufer die Taktik des Gastredners recht genau charakterisiert. Am Ende bedankten sich die Gewerkschaftsvertreter mit höflichem Beifall. Man war sich offenbar ein wenig nähergekommen. Das hatte Adenauer erreichen wollen.
Auch Willi Richter, der DGB-Vorsitzende, hatte diese Absicht verfolgt. Sein Bonner"Gesandter", ein politisch erfahrener Mann, hat dieser Vermutung damals nicht widersprochen. Er äußerte, daß die Gewerkschaften ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen müßten - trotz aller Nähe zu den Sozialdemokraten.
Von einem besonderen Engagement der Gewerkschaften gegen Adenauers Nato-Politik, von einer Mitwirkung an großen Kampagnen gar, konnte im Wahlkampf nicht die Rede sein. Die Unionsparteien hatten in der Frage der Wiederbewaffnung ohnedies die Initiative übernommen und die sozialdemokratische Opposition in die Defensive gedrängt - unter anderem mit einem Plakat, das mit der Abbildung eines sowjetischen Panzers an den blutig niedergeschlagenen Aufstand des Jahres 1956 in Ungarn erinnerte.
Was im übrigen den Bundesarbeitsminister Anton Storch betrifft, so weiß man heute, wie sehr er sich mit seinen Prognosen geirrt hat; man denke nur an seine Erwartung andauernder Vollbeschäftigung. In einem anderen Punkt sollte er allerdings, wenn auch ungewollt, recht behalten. In der Rede zur Begründung der Regierungsvorlage hatte Storch am 27. Juni 1956 im Deutschen Bundestag gesagt:"Fortschritte fallen nicht vom Himmel, bezahlen kann sie stets nur die arbeitende Bevölkerung, unabhängig davon, wie man diese Gelder verrechnet."
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Der Verfasser war in den fünfziger Jahren Redakteur der Zeitschrift"Die Gegenwart".
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.2003, Nr. 236 / Seite 8
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