-->Die Lage vieler Landwirte in einigen Bundesländern Indiens ist ausweglos/Von Christoph Hein
BANGALORE, 16. Oktober. Bhaskar sah keine Chance mehr, keine Tür schien ihm offenzustehen. Die Zuckerrohrernte war dem Bauern aus dem indischen Süden verdorrt, der Sohn ging noch zur Schule, die Kreditsumme hatte sich auf unbezahlbare 60 000 Rupien (1147,50 Büro) angehäuft. Erst hörte Bhaskar auf zu arbeiten. Tage später hängte er sich in der Scheune auf.
Das Schicksal des Fünfzigjährigen ist alles andere als ein Einzelfall. Vor den Toren der Computer- und Software-Metropole Bangalore in Südindien spielt sich ein Drama ab, das mittelalterlich anmutet. Während in den Bürotürmen der Stadt an neuen Programmen gefeilt wird, die Call-Center für Anrufer aus Europa oder Amerika rund um die Uhr besetzt sind, bringen sich mehr und mehr Bauern nur wenige Kilometer entfef nt wegen ihrer verzweifelten Lage um. Seit März haben sich im südlichen Bundesland Karnataka mehr als 200 Landwirte das Leben genommen, 90 im August. Nach einem Bericht, den Landesvater S. M. Krishna der indischen Kongreßpräsidentin Sonia Gandhi vorgelegt hat, haben im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre jeweils 2200 Bauern Selbstmord begangen -Monat für Monat 180. Statistisch machen die Bauern ein Fünftel aller Suizide in Karnataka mit seinen 53 Millionen Einwohnern aus. „Kein außergewöhnlicher Wert", heißt es in der Landesregierung. Krishna ist um warme Worte nicht verlegen: „Warum nimmt sich unser Freund, der Bauer, sein eigenes Leben, wo er dank seiner Felder unser aller Leben erhält? Wir müssen uns des Problems ernsthaft annehmen."
Gleichwohl gibt es in der Regierung Karnatakas einen bizarren Streit darüber, wie viele der Bauern wegen ihres Elends und wie viele wegen persönlicher Probleme zu diesem letzten Mittel gegriffen haben. Bis-
lang erkennt sie nur 63 der Toten seit März als Selbstmord wegen der Sorgen der Landbevölkerung an. Nur ihren Hinterbliebenen zahlt sie je 100 000 Rupien Entschädigung.
Jenseits aller makabren. Zahlenspiele steht außer Frage, daß die Lage der Kleinbauern in einigen Bundesländern Indiens dramatisch ist. Es ist der immer gleiche, teuflische Kreislauf: Der - in diesem Jahr insgesamt gute - Monsunregen erreicht nicht alle Landesteile. Die Trockenheit läßt die Ernte ausbleiben. Der Einkommensverlust zwingt die Bauern in die Arme von Kredithaien, oftmals Großbauern. Deren Wucherzinsen - Fachleute der Asiatischen Entwicklungsbank (Asian Development Bank, ADB) sprechen von mindestens 5 Prozent monatlich - sind nicht zu bezahlen. Manche der Großbauern verlangen als Zins schlicht den" Ernteertrag - was die Kleinbauern weiter in die Abwärtsspirale zwingt. Stehen ihnen die Schulden bis zum Hals, müssen sie ihr von den Vorvätern übernommenes, verpfändetes Land und damit ihre einzige Einkommensquelle abgeben. Bevor das geschieht, bringen sie sich um.
Hinzu kommt der Druck, den die Geldverleiher ausüben. „Jeden Tag kam hier einer vorbei, um Forderungen einzutreiben. Aber wir hatten nichts, weil wir keine Ernte hatten", sagt ein Mann, dessen sechsund-zwanzigj ähriger Sohn sich aufgehängt hat. Er hatte Schulden von umgerechnet knapp 1500 Euro - bei einem Monatseinkommen von vielleicht 500 Rupien (9,50 Euro) unerreichbar. Doch nicht nur die Geldverleiher sind schuld. Viele Bauern verpfänden den Schmuck ihrer Frauen. Wenn sie ihn nicht mehr auslösen können, fürchten sie den Ansehensverlust. Sie greifen zum Strick oder trinken die Pestizide für die Felder.
Fachleute wie der Psychiater Mohan Is-sac machen - neben vielen anderen Ursa-
chen - die Entschädigungspolitik der Regierung verantwortlich. 100 000 Rupien für die Hinterbliebenen mögen manchem Bauern so viel Geld erscheinen, daß er dafür sein Leben gibt. „Wir sollten lieber über vorbeugende Maßnahmen nachdenken, als für den Tod Geld zu bezahlen", sagt Issac. Die Regierung hatte die Zahlungen im vergangenen Jahr schon beendet, sie nun aber, vor den Wahlen, wiederaufgenommen. Ohnehin bleibt den Familien nicht viel davon. Nur wenige Stunden habe es gedauert, bis nach der Übergabe des Schecks der Regierung die Geldverleiher an ihre Tür klopften, berichtet die Witwe Jayalakshmi den Reportern der Zeitschrift „The Week".
Rund 70 Prozent der gut einen Milliarde Inder leben von der Landwirtschaft. In Karnataka aber ist die Abhängigkeit von den Feldern noch größer. „90 Prozent der Menschen hier leben von der Landwirtschaft. Und 89 Prozent haben Schulden", heißt es in Mysore, einer der größeren Städte. Viele der Bauern verfügen nur über Felder von etwa 1,5 Acre (6070 Quadratmeter) - zum Leben ist das nur in guten Zeiten genug.
Im Zuge der Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) im mexikanischen Cancünnahm nun der politische Druck stark zu. Die Regierung hat nun ein Paket von 8,5 Milliarden Rupien zur Entlastung der Bauern geschnürt. Geldverleiher dürfen künftig offiziell nicht mehr als 14 bis 16 Prozent Zinsen verlangen. Und sie müssen den Bauern nun ein Jahr Zeit zur Rückzahlung ihrer Kredite lassen, andernfalls riskieren sie eine Strafe von 30 000 Rupien -eine Summe, wegen deren sich mancher verschuldete Bauer schon das Leben nahm - oder bis zu drei Jahre Gefängnis. Zudem ließ sie ein amerikanisches System testen, das Wolken gezielt abregnen läßt. Die Bauern nennen das Naß „Regierungsregen".
Quelle: FAZ vom 17. Oktober 2003, Seite 16
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