-->Bürgermeister Gerhard Greiner zum Totschlag an Johann Babies
29.10.2003
<font color="#FF0000">über Nacht ist vieles anders geworden und nichts ist mehr, wie es war: In einer uns allen unvorstellbaren Weise haben junge Menschen unserer Gemeinde die Würde eines Menschen niedergeknüppelt und mit Füßen getreten</font>:
der Obdachlose Johann Babies
verstarb 54-jährig an den Folgen dieser <font color="#FF0000">schrecklichen Tat</font>.
<font color="#FF0000">Entsetzen über den bei ausbleibenden Kontrollmechanismen brutalen und mitleidslosen Totschlag macht sich breit</font>... Bei denen, die wissen, dass Ursachen vielschichtig und Antworten daher nicht einfach sind, auch sehr persönliche Betroffenheit.
Was geht in Kindern und Jugendlichen (keine Ausländer, Asylbewerber oder Migranten und auch nicht die Bildungsschwachen) vor, <font color="#FF0000">die mit derart massiver Gewalt stundenlang (!) auf einen am Boden liegenden Menschen einschlagen und -treten?</font> Wo liegen die Ursachen und was kann Antrieb für derart abscheuliches Verhalten sein?
Gewaltausübung, das wissen wir, ist immer auch eine Folge von Gewalterfahrung und daher müssen wir auch fragen, wo und in welcher Art und Form Täter und Tatbeteiligte (physische und psychische) Gewalt in ihrem Lebensumfeld wahrnehmen und erfahren mussten. Und: Gewalt bestimmt inzwischen über die Medien so maßgeblich unsere Alltagswahrnehmung, dass es schwer fällt, Grenzen zu den gewaltfreien Zonen des Lebenszusammenhangs einigermaßen trennscharf zu ziehen.
Ich habe bisher mit keiner und keinem an der Tat Beteiligten gesprochen und weiß daher nicht, was in den Köpfen (und Herzen) dieser jungen Menschen vorgegangen ist und jetzt vorgeht. <font color="#FF0000">Ich weiß jedoch, dass sie und ihre Familien unsere Hilfe brauchen nicht Abwendung, Ausgrenzung oder gar Verachtung</font>.
Traurig macht mich der Gedanke an das Opfer: Dass einer, der zu Lebzeiten so viel Schatten erlebt und durchlebt hatte, auch noch so sterben muss. Genauso traurig und betroffen aber macht mich der Gedanke an die Täter: Wodurch werden Kinder fähig, so zu handeln? Haben wir als Gesellschaft, als Gemeinschaft und Gemeinde hier am Ort, in beiden"Fällen" versagt? Denn: Gefährdet ist unsere Gemeinschaft, so geschlossen sie nach außen scheinen mag, immer. Sie kann zerbrechen, wenn wir nicht gut miteinander kommunizieren, wenn jeder nur auf sich schaut, wenn jeder sich hinter seinem Vorurteil verschanzt. Und sie erstickt, wenn wir Erwachsenen Mauern aufbauen und uns abgrenzen - gegen Gemeinsinn - in jeweils geschlossenen Systemen unserer Gesinnung und Interessen.
Was an unvorstellbar Schrecklichem und mit 'normalen' Maßstäben nicht Erklärbarem geschehen ist, ist nicht rückgängig - und schon gar nicht wieder gut - zu machen. Gerade dann, aber, muss sich unsere Ortsgemeinschaft tragfähig erweisen: muss Menschen, die in unserer Mitte unsere Hilfe brauchen, auffangen, nicht ausgrenzen - und auch nicht allein lassen. Täter, Beteiligte und sie begleitende Menschen. Und sie muss ver-antwort-lich, also: Antwort - und Orientierung - gebend, mit der Tat und der Schuld der Beteiligten umgehen.
<font color="#FF0000">Einigen Medien kann ich solches nicht bestätigen: Die Sitten und der Umgang mit der Wahrheit sind in der vergangenen Woche beim hektischen Schielen nach Quoten und Auflagen zum Teil so verkommen, dass, der Wirkung wegen, sogar bewusst falsche Bilder in 'Reports' eingespielt wurden</font>.
Gemeinschaft heißt: 'alles miteinander teilen', Stärken und Schwächen. Und: Raum lassen auch für das eigene Geheimnis. Nur wenn jeder auch für sich sein kann und darf, kann Gemeinschaft entstehen. Und daher müssen Einsamkeit und Gemeinschaft in einer gesunden Spannung zueinander stehen.
Manche sterben durch Unfall.
sagt Kristiane Wybranietz
Manche sterben durch Krankheit.
Manche sterben durch Gewalt.
Manche sterben an Altersschwäche.
Manche sterben durch ihre eigene Hand.
Viele sterben an Lieblosigkeit
das ist der schlimmste Tod,
weil man danach noch weiter lebt.
Gemeinschaft muss sehr Unterschiedliches ein- und zusammenbinden, muss Raum geben und: Grenzen abstecken, muss fördern und (ein-)fordern, ausgleichen und Chancen aller gerecht zu verteilen suchen. Und: sie muss verzeihen und vergeben können. Das klingt zunächst nach Nachgiebigkeit: Der andere kann auf mich draufschlagen und mir bleibt (als Christ) nichts anderes übrig, als zu vergeben. Ich darf mich nicht wehren, ich muss meinem schlimmsten Feind verzeihen.
Ver-zeihen, aber, kommt von Zeihen:"jemanden anschuldigen und beschuldigen, auf jemanden weisen" und heißt daher: Verschuldetes nicht anrechnen, einen Anspruch aufgeben, den ich durch die Schuld des anderen habe... Und: Vergebung steht immer am Ende der Wut und nicht am Anfang. Man braucht die eigenen Gefühle nicht unterdrücken, wenn man verzeiht.
Was geschehen ist, werden wir in den nächsten Wochen gemeinsam (und sehr gründlich) aufarbeiten und ver-arbeiten, das heißt: in konkretes Handeln und Verhalten umsetzen müssen. Schon jetzt wissen wir, dass Gewalt fördernde Elemente unter anderem in der fortschreitenden sozialen Erosion gemeinschaftlicher Bindekräfte liegen: Wo Gesellschaft als Ganzes aus dem Orientierungsfeld verschwindet und nur noch die Summe von Einzelindividuen übrig bleibt, zersetzen sich auch die Gemeinschaft bildenden Tugenden:
<font color="#FF0000">Traditionelle Ordnungen und Beziehungsgeflechte, die den Einzelnen stärken - und disziplinieren - zerbrechen: Familie und Vereine, Kirchen und Parteien, Nachbarschaften im Kleinen und Nationen im Großen - alles auf Abbruch</font>. <font color="#FF0000">Alte Wertvorstellungen und Gesellschaftsbilder haben ihre Gültigkeit verloren</font>, <font color="#FF0000">neue Bindungen sind noch nicht in Sicht. Selbst Eltern sollen sich nicht mehr für ihre Kinder verantwortlich fühlen; jeder soll Verantwortung für sich selber tragen - und keiner fragt, ob er es kann. - Insofern ist Neulußheim heute überall</font>:
Die schreckliche Tat von Kindern und Jugendlichen unserer Ortsgemeinschaft kann (und darf) losgelöst von geschichtlichen, regionalen und strukturellen Eigenheiten gesehen werden, nicht aber von dem Hintergrund <font color="#FF0000">zunehmenden Gewaltpotenzials</font>, <font color="#FF0000">sozialer Erosion unserer Gesellschaft und immer stärkerer Abgrenzung ihrer Gruppierungen voneinander</font>. Diese Gesellschaft ist nun 'mal nicht anonym und sie ist auch nicht 'irgendwo da draußen'. Sie ist, zunächst, hier am Ort - und sie hat ein Gesicht, hat die Namen und Gesichter mehr oder weniger bekannter Menschen, Frauen und Männer, die allesamt (für ihren abgegrenzten Bereich) Verantwortung tragen.
"Gewalt beginnt im Kopf, beginnt mit der Sprache", sagte Klaus Welzel in seinem RNZ-Kommentar am vergangenen Freitag. Unsere Umwelt heute ist voll hochmilitanter Vokabeln: Firmen führen Kriege, Produktentwickler suchen nach der 'Killerapplikation', die die Konkurrenten am Markt vernichtet, Politiker suchen ein Feindbild, werden in Duelle getrieben, und kaum kehrt irgendwo Ruhe ein, wird schon nach neuer Konfrontation gerufen. Jugendliche nehmen manchmal wörtlich, womit Erwachsene nur spielen...
Wie orientieren sich Menschen in unserem Gemeinwesen und welche Bindungen und Verpflichtungen sind sie bereit, einzugehen?
Jeder Gewaltausbruch, auch das sollten wir uns verdeutlichen, ist ein Signal. Wer dem schrecklichen Ereignis (belehrend oder Leserbrief schreibend) mit ein paar Erziehungstipps beikommen will, hat das Signal nicht verstanden. Unsere Jugend holt sich ihre Vorbilder im wirklichen Leben. Und solange dort Konkurrenz bis aufs Messer und gnadenlose Konfrontation die Leitmotive des Handelns sind, können Nettigkeiten der Pädagogik das Gewaltpotenzial nicht ersticken. Der Beitrag auch der Schule kann nur dann erfolgreich sein, wenn Kinder und Jugendliche Erziehungsziele wie Toleranz, Mitmenschlichkeit und Zivilcourage im Alltag vorgelebt bekommen:
Wo Selbstwertgefühle der Menschen bestärkt werden, ohne dass dies mit der Entwertung anderer einhergeht, verläuft die Suche nach Anerkennung nicht über Gewalt.
Insofern gibt es durchaus Regeln, an denen sich Gewaltprävention orientieren kann: Die Erweiterung des Lebenszuschnitts der Menschen, die Herstellung von Kommunikationsfähigkeit, die Schaffung von Bedingungen, unter denen Arbeit auch Selbstverwirklichung sein kann. Das sind Bauelemente für eine Gesellschaft, in der Gewaltbereitschaft in engen Grenzen gehalten werden kann. - Allerdings hat die Meinung, dass Menschen nicht nur unterschiedlich, sondern auch unterschiedlich viel wert seien, Tradition in unserer Gesellschaft, die vielfach den Respekt verloren hat vor dem Leben, vor der Würde eines jeden Menschen, so wie er ist.
Die Lebensfähigkeit und der Friedenszustand unserer Gesellschaft und unserer Ortsgemeinschaft sind abhängig von der Beziehungsarbeit, die den pfleglichen Umgang mit der Natur und mit den Menschen bezeichnet und nur dann gelingen kann, wenn wir das Problem des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft wieder in den Vordergrund rücken und Menschen als gesellschaftliche Lebewesen begreifen.
Und da gibt es kein Zusammenleben ohne Verzeihung, denn wir werden, ob wir wollen oder nicht, einander immer wieder verletzen.
Rechnen wir diese Verletzungen einander auf, erzeugen wir einen Teufelskreis der Kränkung. Überspringen wir sie, erzeugen sie in uns Bitterkeit und Aggression, die wir bei nächster Gelegenheit als Vorwurf, Kritik oder Ressentiments nach außen tragen."Irgendwann werden wir es den anderen heimzahlen"... so erzeugt eine Schuld die andere.
Verzeihen unterbricht diesen Teufelskreis der Wiedervergeltung. Verzeihen reinigt die Atmosphäre und ermöglicht uns, die wir verletzt sind und immer wieder verletzen, ein menschliches und gegenseitig verantwortliches Miteinander. Auch über den heutigen Tag hinaus.
Ich wünsche dem Opfer Johann Babies, dass er einen Platz gefunden hat, an dem es ihm besser geht als - von allen unerwünscht - mitten unter uns.
Den Tätern und den an der Tat Beteiligten wünsche ich - trotz der großen Schuld, die sie auf sich geladen haben - Menschen, die sie nicht an Lieblosigkeit sterben lassen. Menschen, die ihnen auch und gerade jetzt zur Seite stehen, sie auffangen, sie halten und, als Glieder unserer Gemeinschaft, in eine für sie hoffnungsvolle, gute und vielleicht auch wieder einmal freudvolle Zukunft tragen und begleiten.
Quelle: http://neulussheim.de/aktuell/20031029092332.htm
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