-->Aus dem Informationsbrief Nr. 211 der Bekenntnisbewegung"Kein anderes Evangelium":
Das unverkürzte Zeugnis des Apostels Paulus über Israel - Was Paulus wirklich geschrieben hat!
Römer 9-11
Von Hanns Leiner
Das gegenwärtige Nachdenken über das Verhältnis von Christen und Juden läuft meistens darauf hinaus, den Juden zu bestätigen, dass sie trotz der Ablehnung Jesu Christi nach wie vor ohne jede Einschränkung Gottes erwähltes Volk geblieben sind. So drückt das die »Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag« besonders klar und schroff aus: »Der Bund Gottes mit seinem Volk Israel gilt uneingeschränkt. Daher ist es falsch, Jüdinnen und Juden nach ihrer Stellung zu Jesus als dem Messias zu beurteilen... Darum erklären wir: Jüdinnen und Juden haben es für ihr Heil nicht nötig, dass ihnen Jesus als Messias verkündigt wird.«
Um diese Auffassung zu begründen, die der gesamten bisherigen theologischen und kirchlichen Beurteilung krass widerspricht, beruft man sich heute besonders auf Aussagen des Apostels Paulus in Römer 9-11. »Der Apostel bekräftigt, dass ihnen (nämlich den Juden) die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen... (Röm 9,4)« (so auch in der »Erklärung Juden und Christen«). Auch einige Verse aus Römer 11 werden gerne dazu zitiert: »Gott hat sein Volk nicht verstoßen« (V.2) und an die Adresse der Heidenchristen: »Rühmst du dich aber, so sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich« (V. 17) - wobei hier unter der »Wurzel« einfach Israel verstanden wird. Im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen, denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen«(V. 28, 29).
Diese Begründung und diese Zitierweise sind jedoch höchst fragwürdig und einseitig, denn sie werden dem nicht gerecht, was der Apostel wirklich schreibt. Man reißt hier einige Verse aus dem Zusammenhang, wählt das aus, was man zur Bestätigung seiner vorgefassten Meinung hören will und übergeht und verschweigt geflissentlich alles, was über eine solche willkürlich auswählende Verwendung der Heiligen Schrift hinausgeht. Dies grenzt an Häresie, deren Wesen darin besteht, die Schrift eigenwillig und gegen ihren Sinn, entsprechend den eigenen Wünschen zu gebrauchen und damit zu missbrauchen. Wenn man schon Römer 9-11 anführt zu unserer Frage nach Israel, dann müssen wir auf den ganzen Text im Zusammenhang hören, genau achten und ihn in allen seinen Aussagen ernst nehmen. Wir müssen vor allem auch das zur Kenntnis nehmen, was Paulus hier ganz gegen unsere heutige »religious correctness« schreibt. Das wollen wir hier versuchen zu tun. Deswegen geben wir zunächst eine Gliederung und Übersicht über die drei Kapitel, sodann eine kursorische Auslegung unter der heute umstrittenen Frage: Was ist es nach dem Verständnis des Apostels Paulus - um Israel nach Jesus Christus? Brauchen die Juden wegen ihres Bundes mit Gott Jesus nicht?
Gliederung und Übersicht:
Kap. 9,1-3: Die Trauer des Apostels um sein Volk
Kap. 9,4-5: Gottes Gnadengaben an Israel
Kap. 9,6-29: Gottes freie Gnadenwahl
6-13: Gott bleibt in seiner Erwählung frei; seine Wahl gilt dem wahren Israel »nach der Verheißung«
14-29: Gott bleibt auch insofern frei, als er sich erbarmen oder verstocken kann. Seine Erwählung ist
nicht an Israel gebunden, sondern richtet sich auch an die Heiden
Kap. 9,30-10,21: Gesetzesgerechtigkeit gegen Glaubensgerechtigkeit
Kap. 9,30-33: Israels Anstoß am »Felsen des Ärgernisses«
10,1-13: Israels Verkennung der Gottesgerechtigkeit
10, 14-2,1: Israels Ungehorsam gegenüber dem Evangelium
Kap. 11,1-10: Gott hat Israel nicht verstoßen, aber teilweise verstockt
Kap. 11,11-24: Darstellung dieser Verstockung auf Zeit, besonders an Hand der Allegorie vom Ã-lbaum
V. 16-21)
Kap. 11,25-32: Gottes Geheimnis mit Israel: seine endzeitliche Errettung
Kap. 11,3-36: Lobpreis Gottes über seinen wunderbaren Weg mit Israel
Kursorische Auslegung:
9,1-3: Der Schmerz des Apostels über Israel:
Paulus beginnt den ganzen Abschnitt mit einer bewegenden Klage: Er betont seine tiefe Trauer und sein echtes Mitgefühl mit seinem Volk. Der Grund seines Schmerzes - das geht aus dem Zusammenhang eindeutig hervor - ist die Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl Israels dem Christusevangelium, das Paulus predigt, fern bleibt und nicht glaubt. Das bedeutet in den Augen von Paulus äußerste Gefahr für Israel, weil das seine Erwählung in Frage stellt. Er sieht die religiöse Existenz Israels bedroht, seine Brüder nach dem Fleisch verloren, wenn sich ihr Verhalten zu Christus nicht ändert. Das schmerzt ihn so sehr, dass er bereit wäre, seine eigene Seligkeit dafür herzugeben, wenn er dadurch etwas daran ändern könnte.
9,4-5: Gottes Gnadengaben:
Paulus weiß natürlich um die Gnadengaben Gottes, die Israel empfangen hat. Er zählt sie hier ausdrücklich auf. An Gottes Zuwendung zu Israel hat es nicht gefehlt. Aber das ist nicht alles, was hier zu sagen ist: Paulus leidet unter der ihn quälenden Diskrepanz, dass gerade dies von Gott so hoch begnadete Volk Christus ablehnt. Er lobt Gott über allem, was er an Israel getan hat, aber er klagt zugleich um Israel, das er in der Gefahr sieht, das alles zu verlieren. Eine Heilsautomatik bedeuten die Gnadengaben Gottes in seinen Augen für Israel nicht. Gott bleibt treu, aber das erwählte Volk kann versagen.
9,6-13: Gottes freie Erwählung:
Paulus sucht nach Erklärungen, einem Sinn für das rätselhafte Verhalten Israels und das schreckliche Dilemma, in dem er es sieht. Er findet eine erste Antwort, indem er sich die Freiheit Gottes bewusst macht, auch gegenüber Israel. Dabei ist Israel für Paulus nicht einfach die leibliche Abstammungsgemeinschaft der Nachkommen Abrahams. Er unterscheidet zwischen den »Kindern nach dem Fleisch« und den »Kindern nach der Verheißung«. Nur diese sind für ihn das wahre Israel (V. 6-8). Die Zugehörigkeit zum Volk Gottes ist nicht menschliches Verdienst, sondern Gottes Werk und Verheißung. Gottes Gnadenwahl ist und bleibt gegenüber den Menschen frei und unverdient. Niemand hat einen Anspruch darauf. Das verdeutlicht Paulus durch das Beispiel von Jakob und Esau: Gott kann die menschliche Reihenfolge und Rangordnung verändern und auf den Kopf stellen, es liegt alles an der Gnade des Berufenden.
9,14-29: Gottes grenzenlose Erwählung:
Was für die Konstituierung des Gottesvolkes gilt, das gilt auch für alle Zukunft. Gott behält seinem Volk gegenüber seine Freiheit, er schuldet sein Erbarmen niemandem. »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich«(V. 15). Er kann in seiner Freiheit auch verstocken: »So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will« (V. 18). Das Schicksal des Pharao, auf den sich dies zuerst bezieht, soll Israel zur Warnung dienen, »es könnte sein eigenes werden, wenn es sich gegen Gottes Wege stemmt« (P. Stuhlmacher - Römerbrief, NTD 6, S. 136). Israels Verstockung ist eine göttliche Möglichkeit, wenn auch nicht sein eigentlicher Wille. Die Freiheit Gottes gilt auch über die Grenzen des erwählten Volkes hinaus: »Dazu hat er uns (=Christen) berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden« (V. 24). Für beides, für die positive und negative Freiheit Gottes den Menschen gegenüber führt Paulus Schriftbeweise aus dem Alten Testament an: Hosea 2,25 und Jesaja 10,22. Mit großem Ernst greift er die alttestamentliche prophetische Rede von dem »Rest«, der gerettet wird, auf.
9,30-33:
Israels Anstoß am Felsen des Ärgernisses:
Paulus muss feststellen, dass zwischen den Heiden und Israel eine eigenartige, paradoxe Vertauschung eingetreten ist: »Die Heiden, die nicht nach der Gerechtigkeit trachteten, haben die Gerechtigkeit erlangt;... Israel aber hat nach dem Gesetz der Gerechtigkeit getrachtet und hat es doch nicht erreicht« (30,31). Die Heiden, die im Sinne des jüdischen Gesetzes Gerechtigkeit nicht suchen konnten, haben sie gefunden (sofern sie nämlich Christen wurden), und die Juden, deren Leben in dem Streben nach der Erfüllung des mosaischen Gesetzes besteht, sind nicht ans Ziel gelangt. Der Grund dafür liegt darin, dass die an Jesus Christus gläubig gewordenen Heiden die Gerechtigkeit aus Glauben verstanden und angenommen haben, sich schenken ließen, während die Juden weiterhin den Weg der eigenen Gerechtigkeit auf Grund der Werke einschlagen (V. 31,32). Anders ausgedrückt: Sie sind an dem Felsen des Anstoßes (V. 33) - ein wiederholt im Alten Testament verwendetes Bild - gescheitert. Im Klartext: Sie haben Jesus Christus nicht als Messias erkannt und anerkannt. Der Gekreuzigte ist ihnen zum Ärgernis geworden (1.Kor 1,23f). Israel ging den Weg des Glaubens und damit den der Glaubensgerechtigkeit nicht mit.
10,1-13:
Israels Verkennung der Gottesgerechtigkeit:
Wie schon zu Beginn des 9. Kapitels bekennt Paulus seine persönliche Betroffenheit von dem Geschick Israels: »Ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden« (V.1). Er leistet Fürbitte für seine Brüder. Nichts wollte er lieber als ihre Rettung, ihr Heil. Das sieht er jedoch bedroht. Als Juden sieht sie Paulus nicht schon automatisch gerettet. Zu ihrer Rettung brauchen sie - wie die Heiden - Christus. Ihr Eifer um das Gesetz und seine Einhaltung genügt dazu nicht (V.2). Denn sie setzen ihre »eigene Gerechtigkeit« gegen die Gerechtigkeit, »Die vor Gott gilt«. Die Juden kennen nach Paulus nur die Gerechtigkeit, die der Mensch selbst durch seine Leistung, seine Gesetzeserfüllung erwirkt, so wie das Gesetz des Mose sie vorschreibt: »Der Mensch, der das tut wird dadurch leben« (V. 5). Für sie ist also das Gesetz und seine Erfüllung der Heilsweg.
Dazu sagt Paulus allerdings mit aller Härte nein: »Christus ist des Gesetzes Ende, (nämlich als Heilsweg) wer an den glaubt, der ist gerecht« (V. 4). Das ist die »Gerechtigkeit aus dem Glauben« (V. 6). Diesen Weg lehnt wiederum Israel ab: »Sie haben sich der Gerechtigkeit Gottes nicht untergeordnet«(V. 3). Wer sich so für sein Heil auf das Gesetz verlässt, der ist nach Paulus »ohne Einsicht« (V. 2). Es gibt für ihn nur einen Weg zum Heil: »Wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet« (V. 9). Das gilt ausdrücklich für alle Menschen: »Hier ist kein Unterschied zwischen Juden und Griechen (= Heiden), es ist über alle derselbe Herr« (V. 12). Paulus macht hier sehr deutlich, dass sich Gesetzesgerechtigkeit und Glaubensgerechtigkeit als Gegensätze gegenüberstehen und sich gegenseitig ausschließen. Da der Mensch auf dem Wege über das Gesetz die Gerechtigkeit nicht erlangt, kann Paulus seine Brüder nicht als gerettet ansehen.
10,14-21:
Israels Ungehorsam gegenüber dem Evangelium:
Paulus fragt sich, woran es liegt, dass Israel nicht an Jesus als den Christus glaubt. An ihm und den anderen Missionaren hat es nicht gelegen. Die Boten sind ausgesandt worden, die Botschaft von Christus ist gepredigt, sie ist auch gehört worden. Die Hörer hätten sie verstehen und glauben können, denn der Glaube kommt aus der Predigt (V. 17). Doch Israel ist nicht zum Glauben gekommen. Damit ist eine Situation eingetreten wie zu den Zeiten der Propheten: Gott muss über sein Volk klagen: »Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt nach dem Volk, das sich nichts sagen lässt und widerspricht« (V. 21).
11,1-10: Verworfen oder verstockt?
Erschrocken fragt deshalb der Apostel weiter, ob Gott sein Volk etwa verstoßen habe (V. 1). Entschieden verneint er jedoch diese Frage: Nicht verstoßen, aber doch dezimiert. Wie in der Zeit Elias ist nur ein kleiner Rest übrig geblieben: »So geht es auch jetzt zu dieser Zeit, dass einige übrig geblieben sind nach der Wahl der Gnade« (V. 5). Mit ihnen kann Paulus nur solche Juden meinen, die zum Glauben an Christus gelangt sind.
Gott verstößt sein Volk nie ganz, aber er bestätigt es auch nicht einfach global in seinem Sosein. Ein großer Teil wird verstockt: »Die anderen sind verstockt« (V. 7). Was das konkret heißt, beschreibt der Apostel an Hand eines Prophetenwortes, das er auf den Zustand Israels in seinen Tagen bezieht: »Gott hat ihnen einen Geist der Betäubung gegeben, Augen, dass sie nicht sehen und Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag«
(V. 8). So beurteilt Paulus die religiöse Situation des »real existierenden« Israel. Man darf also aus Vers 1 keineswegs eine kritiklose Anerkennung Israels durch Paulus herauslesen! Paulus redet auch hier wieder dialektisch von Israel: Gott hat Israel nicht verlassen, aber das Volk versteht in seiner Mehrheit Gottes Wege nicht. Gott hat Israel nicht verstoßen, aber verstockt, und das ist schlimm und gefährlich genug! (V. 25)
11,11-16: Der tiefere Sinn:
Der Sinn dieses rätselhaften Handelns Gottes besteht in der Bekehrung der Heiden. Der »Fall« Israels - von dem Paulus hier wörtlich spricht - bringt die Rettung zu den Heiden. Gott will auf diesem Wege aus Bösem etwas Gutes schaffen für die Heiden. Der Fall Israels (V. 11,12) löst die Heidenmission aus und führt Paulus über die Grenzen Israels hinaus, Paulus hofft nun, dass dadurch auch die Juden dazu bewegt werden, den Heiden nachzueifern. Er predigt unter den Heiden mit der heimlichen Absicht, »ob ich vielleicht meine Stammverwandten zum Nacheifern reizen und einige von ihnen retten (!) könnte« (V. 14), indem sie nämlich zum Glauben an Jesus Christus gelangen.
11,17-24: Die Allegorie vom Ã-lbaum:
Sicher, der Ã-lbaum steht hier für Israel, und zwar für das wahre Israel. Mit der Wurzel ist jedoch nicht eigentlich das Volk der Erwählung gemeint, sondern vielmehr Gottes Werk an ihm, Seine Erwählung, Berufung, Führung und Kraft. Die Zweige bedeuten die einzelnen Menschen, die Glieder des Volkes Gottes. Sie werden von der göttlichen Wurzel getragen und genährt (vergleichbar mit Jesu Bild vom Weinstock und den Reben, Joh 15!), Dabei spricht Paulus hier vier Mal von einem aufregenden, »einschneidenden« Vorgang, der heute leider stets übergangen und unterschlagen wird: Bestimmte Zweige dieses Ã-lbaums werden »ausgehauen«, ausgebrochen (V. 17, 19, 20, 22). Paulus kann damit nur diejenigen Juden gemeint haben, die nicht zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind und »wegen ihres Unglaubens« (V. 20), nicht mehr zum Volk Gottes gehören. An ihrer Stelle wurden andere, wilde Ã-lzweige eingepfropft (V. 17, 20, 24), die Heidenchristen, Paulus warnt sie davor, sich dessen zu rühmen und zu überheben. Aber an der Tatsache, dass Christus die Zusammensetzung und den Charakter des Gottesvolkes »aus Juden und Heiden« grundlegend verändert, macht er keinen Abstrich. Er hofft aber darauf, dass die ausgebrochenen Zweige wieder eingepflanzt werden, wenn sie zum Glauben (an Christus) gelangen (V. 23). Das bleibt aber die Bedingung für ihre Zugehörigkeit zu dem Ã-lbaum Gottes. Das widerspricht der Erklärung des Kirchentages total!
11,25-32:
Das Geheimnis Gottes mit Israel:
Paulus hat die Hoffnung für sein Volk noch nicht aufgegeben. Er sieht in der gegenwärtigen Ablehnung der Christusbotschaft durch Israel einen göttlichen Plan, in dem das Nein Israels nur eine vorläufige Sache ist. Dabei handelt es sich um ein »Geheimnis« (V. 25), das ihm Gott geoffenbart hat und das er der Gemeinde in Rom hier eröffnet: Wenn die Vollzahl der Heiden zu Christus gefunden haben wird, dann will Gott noch einmal - und dann nicht mehr vergeblich - Israel das Heil anbieten: »So wird ganz Israel gerettet werden... Es wird kommen aus Zion, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob« (V. 26). Dieser Erlöser aus Zion wird niemand anderes sein als Jesus Christus selbst. Durch ihn wird Gott seine Verheißungen an Israel zur Erfüllung bringen. Dazu ist Israel nämlich berufen, »durch Christus Rechtfertigung und Erlösung zu erfahren« (P. Stuhlmacher, a.a.O., S.157). Das Israel, das Jesus Christus ablehnt, entspricht demnach nicht seiner wahren Berufung und ist deshalb nicht einfach weiterhin Gottes Volk. Im Gegenteil, Paulus sagt sehr scharf: »Im Blick auf das Evangelium sind sie (Die Juden) zwar Feinde um euretwillen« (V. 28). Freilich gehört dieser Teil des Verses 28 zu den heute fast überall totgeschwiegenen Aussagen des Apostels. Paulus scheut sich nicht, über Israel negative Aussagen zu machen. Mit großer, heute bei uns unerhörter Deutlichkeit redet er hier von ihrem »Ungehorsam« (V. 30-32). Dieser Ungehorsam, diese Blindheit, Verstockung, Feindschaft usw. drohen sie von Gott zu trennen, soweit es auf sie ankommt.
Paulus lässt jedoch auch keinen Zweifel daran, dass es letztlich nicht auf sie ankommt, sondern auf Gott und seinen Heilsplan. Gott hat in seiner unergründlichen Barmherzigkeit beschlossen, ihnen eine neue Chance zu geben - allein um seines Bundes und seiner Treue zu den Vätern willen: »Aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen« (V. 28). Er lässt sich nicht erbittern durch ihre Feindschaft, er lässt sich seine Berufung nicht gereuen, er nimmt vielmehr ihren Ungehorsam zum Anlass, barmherzig über alles Verstehen hinaus zu handeln an ihnen. Paulus ist fest überzeugt, dass die Barmherzigkeit Gottes trotz allem am Ende triumphieren wird, »denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme« (V. 32).
11,33-36:
Lobpreis der Wunderwege Gottes in ihrer unergründlichen Weisheit und Tiefe:
Durch alle diese Überlegungen, insbesondere durch das »Geheimnis« wird Paulus in seinem großen Schmerz über sein Volk getröstet. Im Erbarmen Gottes findet er die Gewissheit, dass dies Volk nicht endgültig scheitern wird. Deswegen münden seine theologische und prophetische Auslegung ein in die Anbetung Gottes. Wenn damit auch für uns nicht alle unsere Fragen bezüglich Israel und seines Weges mit Gott beantwortet werden, wird doch soviel klar, dass auch Israel nicht an Jesus Christus vorübergehen kann. Sein Kommen, Predigen, Handeln, Leiden, Sterben und Auferstehen richtet auch und gerade an Israel die Frage: Für wen haltet ihr mich? Er stellt an seine Brüder und Schwestern die Glaubensfrage. Der Glaube an Christus ist auch für Juden zum Heil notwendig. Die geheimnisvollen Wege Gottes führen zu ihm, denn er ist »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). In diesem Sinn können wir in das Gebet des Apostels einstimmen: »O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!« (V. 11, 33).
Bei diesem Überblick über Römer 9-11 fällt die große Spannung und Gegensätzlichkeit der Aussagen des Apostels über Israel auf: Er hebt ausdrücklich die bleibende Erwählung Israels durch Gott hervor, das hindert ihn jedoch nicht, auch von dem Versagen, der Verstockung und Blindheit, ja dem Unglauben Israels zu sprechen. Diese Spannung gilt es heute wahrzunehmen und auszuhalten. Paulus lässt sich weder auf einen Antijudaismus, noch auf den heute weit verbreiteten Philosemitismus festlegen. Er schreibt als Judenchrist in großer Sorge um und Liebe zu seinem Volk. Seine Hoffnung für Israel gründet sich auf die Treue und Barmherzigkeit Gottes, die in Jesus Christus Gestalt angenommen haben, seine Sorge und Angst entsteht durch den Unglauben und Ungehorsam Israels. M.a.W.: »Paulus hat (in Römer 9-11) nicht vergessen, was er in Römer 1-8 dargelegt hat« (J. Becker: Paulus, S. 497). Wir müssen den Exkurs über Israel als Teil des ganzen Römerbriefs lesen und ihn eben deshalb von diesem Zusammenhang her deuten und verstehen. Eingangs fasst Paulus den Inhalt des ganzen Briefes zusammen in dem bekannten Motto: »Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst... (1,16f). Im 3. Kapitel weist Paulus nach, dass kein Mensch, also auch kein Jude, seine Gerechtigkeit ohne Christus, ohne Glauben finden kann: »Haben wir Juden einen Vorzug (gegenüber den Helden)? Gar keinen, denn wir haben soeben bewiesen, dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind, wie geschrieben steht: »Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer« (V.9-10). Deswegen führt das Gesetz des Mose nicht zum Heil: »Durch das Gesetz kommt (nicht die Gerechtigkeit, sondern nur) Erkenntnis der Sünde« (V.20). Darum sind alle Menschen Sünder und auf die Erlösung durch Christus angewiesen: »Denn es ist hier kein Unterschied (zwischen Juden und Nichtjuden): Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade, durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist« (V.22-24). Nochmals dies alles zusammenfassend und alle Menschen umschließend: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« (V.28).
Dies An-alle-Menschen-gewiesen-zu-sein gilt für die Berufung und die Mission des Apostels Paulus insgesamt: Christus hat ihn berufen, »dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel« (Apg 9,15). Er ging darum bei seinen Missionsreisen zuerst in die Synagogen und predigte das Evangelium von Jesus Christus: So begann er in Damaskus (Apg 9,20) und dabei blieb er bis zuletzt in Rom (Apg 28,17ff). So verstand er seinen Auftrag grundsätzlich: »Den Juden bin ich geworden wie ein Jude, damit ich die Juden gewinne... Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette« (1.Kor 9,20-22). Dem allem widerspricht Paulus auch in Römer 9-11 nicht, er bestätigt es vielmehr ausdrücklich: »Weil ich Apostel der Heiden bin, preise ich mein Amt, ob ich vielleicht meine Stammverwandten zum Nacheifern reizen und einige von ihnen retten könnte« (Röm 11, 13,14).
Dies ist das unverkürzte Zeugnis des Apostels Paulus über Israel in Römer 9-11! Es gehört ein unglaubliches Maß an Voreingenommenheit und Verblendung dazu, das alles nicht zu sehen oder sehen zu wollen und dagegen zu behaupten: »Juden und Jüdinnen haben es für ihr Heil nicht nötig, dass ihnen Jesus als Messias verkündet wird.« Dem ist im Namen des Evangeliums von Jesus Christus, wie es Paulus durchgehend verkündet hat, schärfstens zu widersprechen und zu bekennen: Jesus Christus ist der Heiland aller Menschen, gerade auch seiner Brüder und Schwestern nach dem Fleisch. Wenn Juden dem widersprechen, so mögen sie menschlich verständliche Gründe dafür haben. Wenn aber Christen das nicht mehr wahrhaben wollen, so verleugnen sie ihren eigenen Glauben an Jesus Christus und müssen seine Warnung auf sich beziehen: »Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater« (Mt 10,33).
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