-->Die Neue Institutionenökonomik verändert das Denken von Wissenschaftlern und Politikern. Ihr Credo: Freie Märkte allein reichen nicht. Eine Volkswirtschaft ist nur so gut wie ihre Behörde, Regeln und Gepflogenheiten
Von Arne Storn
Anfang der Neunziger träumen sie alle denselben Traum. Die Menschen im Osten Europas wollen reich werden. Jahrzehntelang haben sie unter dem Kommunismus gelitten, aber das ist nun vorbei. Die Marktwirtschaft hält Einzug in Ländern wie Georgien, Bulgarien, die Ukraine und Russland. Der Traum soll endlich Wirklichkeit werden.
Schön wär’s gewesen. In dem in diesen Tagen von politischen Unruhen geschüttelten Georgien zum Beispiel ist das Bruttoinlandsprodukt in den ersten zehn Jahren nach dem Ende der Planwirtschaft um 70 Prozent gefallen. In Bulgarien und der Ukraine um rund 40 Prozent. In Russland prägten jahrelang Provinzfürsten und Sicherheitsdienste das Bild, das Bruttoinlandsprodukt sank auch hier. Kurz, in zahlreichen Ländern des ehemaligen Ostblocks wurden die Menschen trotz der Einführung des Kapitalismus nicht reicher, sondern ärmer. Was war passiert?
Ã-konomen und Regierungschefs haben beim Systemwechsel etwas Wichtiges übersehen. Nach 1990 sollten fiskalische Disziplin, Privatisierung und Deregulierung dem gesamten Ostblock Wohlstand bringen. Der Amerikaner Jeffrey Sachs, damals Wirtschaftsprofessor in Harvard und Berater vieler osteuropäischer Politiker, war überzeugt, dass die Gesetze und Regeln, die sich in anderen Ländern bewährt hatten, übertragbar seien. Die Mechanismen des freien Marktes würden dann für Wohlstand sorgen. Dass es anders kam, dafür liefern neue Studien des amerikanischen National Bureau of Economic Research eine Erklärung, die immer mehr Ã-konomen überzeugt: Systemwechsel schaffen zwar die Voraussetzung für einen Wandel, über den wirtschaftlichen Erfolg einzelner Länder würden aber vor allem die Institutionen entscheiden.
Institutionen? Ein Begriff, der an Behörden und Bürokraten denken lässt, für Ã-konomen jedoch alle Regeln und Arrangements umfasst, die menschliches Handeln beeinflussen. Verordnungen, Gesetze, aber auch Unternehmen zählen zu den formellen Institutionen. Traditionen, soziale Normen und Mentalitäten zu den informellen Institutionen. Sie alle haben in der dominanten ökonomischen Theorie, der Neoklassik, die als Blaupause für die Reformen Osteuropas diente, keinen Platz. Anders in der „Neuen Institutionenökonomik“ (NIÃ-). Dort stehen sie im Mittelpunkt.
Sie könnten die gesamte Wirtschaftswissenschaft verändern.
„Institutions matter“, das sei der wichtigste Satz der NIÃ-, sagt Martin Leschke von der Universität Bayreuth. Beispiel Georgien: 1998 sollten alle Richter des Landes zeigen, dass sie die von westlichen Beratern entworfenen neuen Landesgesetze beherrschen. Nur ein Drittel bestand den Test. „Das Ziel, Rechtssicherheit für wirtschaftliche Akteure zu schaffen, ist noch nicht erreicht worden“, heißt es denn auch in einer Bewertung des deutschen Entwicklungshilfeministeriums. Nach Ansicht der NIÃ- wiegt ein solches Defizit schwerer als die Frage nach Steuersätzen oder Zinshöhen.
Ganz neu ist dieser Ansatz nicht: Schon die Historische Schule des deutschen Ã-konomen Gustav Schmoller (1838 bis 1917), die Ordnungspolitik Walter Euckens (1891 bis 1950) oder die „alten Institutionalisten“ John Commons (1862 bis 1945) und Thorstein Veblen (1857 bis 1929) hatten sich mit Institutionen befasst. Sie entwickelten jedoch keine umfassende Theorie und blieben Außenseiter ihrer Zunft: Im neoklassisch geprägten wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream kommen Institutionen praktisch nicht vor. Zwar wird analysiert, wie Angebot und Nachfrage auf dem Markt zusammentreffen und über Preise zum Ausgleich kommen. Was aber die Institution „Markt“ begründet, welche Rolle etwa die Rechtsprechung oder die gesellschaftliche Tradition des jeweiligen Landes spielt - dazu findet sich in Lehrbüchern wenig.
Heute zeigen sich von diesem Mainstream dominierte Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) reuig. „Der IWF hat in der Vergangenheit die Rolle gesunder Institutionen und der Rechtssicherheit für eine funktionierende Marktwirtschaft unterschätzt“, räumt IWF-Chef Horst Köhler inzwischen ein. Auch die Schwesterorganisation des IWF, die Weltbank, spricht Institutionen eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung der Armut zu.
Nicht zu Unrecht. In Entwicklungsländern kämpfen viele Menschen ums Überleben, sie können weder lesen noch schreiben und haben wenig Geld. Doch unsinnige staatliche Vorschriften machen ihnen das Leben oft noch schwerer. In Mosambik etwa braucht es fünf Monate, 19 Schritte und die Hälfte des durchschnittlichen Jahreseinkommens, um ein Gewerbe anzumelden - in Australien sind es zwei Tage, zwei Schritte, zwei Prozent. Kein Wunder, dass in armen Ländern viele Menschen die unsicheren informellen Institutionen den staatlichen vorziehen, dass sie illegale Felder bestellen, illegale Geschäfte betreiben, in illegalen Unterkünften leben. Keine Überraschung, dass so oft empfohlene wirtschaftspolitische Maßnahmen wie etwa Steuer- oder Zinssenkungen keine Wirkung zeigen.
Ohne Rechtstitel, ohne funktionierende Rechtsprechung kann schließlich niemand sein Eigentum mit Krediten belasten, wird niemand größere Investitionen tätigen oder darauf hoffen, sich im Streitfall vor Gericht durchzusetzen. Korruption, ineffiziente Behörden und inkompetente Richter verhindern zwar nicht das Entstehen von Kapital: Der Grundbesitz, über den Arme de facto verfügen, ohne entsprechende Rechtstitel zu besitzen, entspricht dem enormen Wert von 9,3 Billionen Dollar. Der peruanische Ã-konom Hernando de Soto, der mit dieser Zahl und dem Buch The Mystery of Capital vor drei Jahren Furore machte, bezeichnet das jedoch als „totes Kapital“. Tot, weil nicht sichtbar, nicht nutzbar. De Soto fordert daher formale Eigentumsrechte. Sie erleichtern den Austausch von Eigentum, reduzieren die Transaktionskosten. So nennen Institutionenökonomen die Hindernisse, die ein reibungsloses Funktionieren des Marktes erschweren.
In der Neoklassik hat diese Art von Kosten keinen Platz. Sie arbeitet mit dem Konstrukt des vollkommenen Marktes. Anbieter und Nachfrager handeln vollkommen rational, verarbeiten alle Daten sofort und ohne Aufwand. Dass Vertragspartner gesucht, Verträge ausgehandelt werden müssen und ihre Einhaltung kontrolliert werden muss, dass Transaktionen Kosten verursachen und Institutionen diese Kosten beeinflussen, wird nicht beachtet.
Erst der Amerikaner Ronald Coase führte die Transaktionskosten in die ökonomische Theorie ein: In seinem Aufsatz The Nature of the Firm untersuchte er schon 1937 die simple, in der reibungsfreien Welt der Neoklassik aber nicht zu beantwortende Frage, warum es Unternehmen überhaupt gibt. Nach Coase entstehen Firmen, wenn die Kosten einer Transaktion bei einer Abwicklung über die Institution „Markt“ höher sind als bei einer Abwicklung über die Institution „Firma“. In diesem Fall wird der Mechanismus des Preises durch den Mechanismus der Hierarchie ersetzt, die unsichtbare Hand durch den sichtbaren Zeigefinger.
Rund 50 Jahre sollte es dauern, bis Coase auf nennenswerte Resonanz stieß. Anfang der achtziger Jahre organisierte Rudolf Richter von der Uni Saarbrücken „die damals einzige internationale Konferenz“ über die NIÃ-, aus einer alten deutschen Publikation machte er „unter dem Murren meiner Kollegen“ das Journal of Institutional and Theoretical Economics - bis heute wichtigstes Forum der Szene. Oliver Williamson entwickelte aus den Ideen von Coase ein Spektrum institutioneller Arrangements im Firmenbereich, Douglass C. North befasste sich mit Einfluss und Wandel gesellschaftlicher Institutionen. Dann kam der Durchbruch: 1991 erhielt Coase, 1993 North den Ã-konomienobelpreis.
Inzwischen sind die Gedanken der NIÃ- auch in der Betriebswirtschaftslehre weit verbreitet. Während die Firma in der Neoklassik eine Black Box ist, lassen sich in der NIÃ- die Unternehmen als Organisationen verstehen - ihr Innenleben wird dadurch analysierbar, ebenso zwischen Markt und Integration angesiedelte Hybridformen wie Franchising oder Joint Ventures. Zudem scheinen vertikale Zusammenschlüsse nicht mehr per se wettbewerbsschädigend, sondern potenziell Transaktionskosten senkend und sinnvoll. „Das hat die Wettbewerbspolitik in den USA verändert“, sagt Stefan Voigt von der Universität Kassel.
In einer Welt der Transaktionskosten sind, anders als in der Neoklassik, vollständige Verträge nicht mehr denkbar. Schließen der Auftraggeber, der „Prinzipal“, und der Auftragnehmer, der „Agent“, einen Vertrag, so kann der Prinzipal den Agenten nur partiell einschätzen und kontrollieren, die Informationen sind asymmetrisch verteilt. In der NIÃ- wird den Menschen zudem opportunistisches Verhalten unterstellt - Egoismus unter Zuhilfenahme von List. Eine nicht ganz unrealistische Annahme: Arbeitnehmer wollen ihren Lohn ohne Aufwand einstreichen, Manager denken an Aktienoptionen statt ans Bilanzrecht.
Entsprechend sorgfältig sind Anreize zu setzen, sind unvollständige Verträge optimal zu gestalten - neben der Theorie der Eigentumsrechte und dem Transaktionskostenansatz bildet die Principal-Agent-Theorie das dritte Kernthema der NIÃ-. Deren Einfluss reicht bis in die Politik. „Das neue deutsche Insolvenzrecht von 1999 wäre in dieser Form ohne institutionenökonomische Überlegungen nicht zustande gekommen“, sagt Werner Neus von der Universität Tübingen. Beispielsweise werde ein insolventer Privatmann heute von seinen Schulden befreit, wenn er sich sieben Jahre lang bemüht hat, seine Verbindlichkeiten zu begleichen - als Anreiz, sich überhaupt anzustrengen.
So nimmt die NIÃ- inzwischen auf reale Politik Einfluss, und ihre Befürworter hoffen, dass sie auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften an Gewicht gewinnt. „Es ist ein neuer Denkstil“, sagt der Saarbrücker Professor Rudolf Richter, der bis heute wichtigste deutsche Vertreter der NIÃ-. „Wir stehen am Anfang eines neuen Paradigmas.“
Es geht um Anstöße im Kleinen wie im Großen. Matthias Erlei von der Technischen Universität Clausthal setzt vor allem auf die Verbindung mit der experimentellen Forschung. Diese untersucht, wie menschliche Präferenzen und Entscheidungen entstehen, und erprobt die These, dass der Mensch kein vollkommen rationaler Homo oeconomicus, sondern ein Wesen mit eingeschränkter Rationalität und Voraussicht ist.
Fundamentale Fragen auch im Großen. „Durch den Transaktionskostenansatz lassen sich Begriffe wie Vertrauen, Reputation oder Moral in die Sprache der Ã-konomie übersetzen“, sagt Elisabeth Göbel von der Uni Trier. Begriffe, die geringe Reibungsverluste und damit wirtschaftlichen Erfolg erklären. Und so zählen die innere Motivation und die Unternehmenskultur, die informellen Institutionen und Netzwerke, das „Sozialkapital“ einer Gesellschaft, zurzeit zu den Themen. Mehr als 600 Studien veranlassten Williamson im Jahr 2000 zu der Aussage, die Transaktionskostenökonomik sei „eine empirische Erfolgsgeschichte“.
NIÃ--Vordenker Richter glaubt, dass Transaktionskosten und beschränkte Rationalität die Ã-konomie fundamental verändern werden. Auch North hält die herrschende Doktrin des vollkommen rationalen Menschen nur für begrenzt fruchtbar, Neoklassik und NIÃ- letztlich nicht für vereinbar, während jüngere Vertreter pragmatischer sind. Eine Reihe von Forschern meint, die NIÃ- könne einmal das Dach der Sozialwissenschaften bilden - auch Juristen, Politologen und Soziologen arbeiteten mit der Kategorie der Institution. Wichtiger noch könnte ein anderer Aspekt sein. „Die NIÃ- vergleicht reale Zustände nicht mit einem Ideal wie die Neoklassik, sondern mit anderen realen oder realisierbaren Zuständen“, sagt der Kasseler Forscher Stefan Voigt.
Vielleicht kann die NIÃ- der Ã-konomie so zurückgeben, was ihr selbst einige Ã-konomen heute absprechen: Relevanz.
(c) DIE ZEIT 27.11.2003 Nr.49
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