--><h3>Vom Steuerstaat zur Gebührengesellschaft</h3>
Sie stärkt die Mündigkeit ihrer Bürger und nimmt sie in die Verantwortung für von ihnen finanzierte Leistungen / Von Paul Nolte
Der Autor ---------------------------
Paul Nolte, Jahrgang 1963, ist Professor für Neuere Geschichte an der International University Bremen. Zuvor war er u. a. Fellow an der Harvard University und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur neueren deutschen und amerikanischen Geschichte; gesellschafts- und zeitkritische Beiträge in Zeitungen und Rundfunk. Im Frühjahr 2004 erscheint sein Buch"Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik" im Verlag C. H. Beck. ber
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Steuern runter oder Steuern rauf? Das sei nicht die Frage, sagt Paul Nolte. Denn das überkommene System des Steuerstaats sei grundsätzlich in die Vertrauenskrise geraten, weil immer weniger Bürger eine vernünftige Relation herzustellen vermögen zwischen ihren Steuerzahlungen und den öffentlichen Leistungen, die sie in Anspruch nehmen.
Immer wieder haben sich die deutschen Reformdebatten in den vergangenen zwölf Monaten mit Fragen des Steuersystems und der Steuerpolitik auf engste Weise verknüpft. Müssen die Bürger als Steuerzahler entlastet werden, um mehr wirtschaftliche und allgemein gesellschaftliche Dynamik freisetzen zu können? Sind die Spitzensteuersätze zu hoch, so dass die"Leistungsträger" sich nicht frei genug entfalten können, oder sind die sozialen Schieflagen bereits so groß, dass im Gegenteil über eine neue Vermögensteuer mehr Gerechtigkeit hergestellt werden muss? Sollten wir für eine niedrigere Lohn- und Einkommensteuer eine höhere Mehrwertsteuer in Kauf nehmen oder höhere Sondersteuern auf Tabak und Alkohol?
Und ist es legitim, vielleicht sogar ein Weg der Zukunft, Steuern für bestimmte gesellschaftspolitische Zwecke einzusetzen: die Tabaksteuer für die Gesundheitsreform, die Mineralölsteuer für die Rente? Immerhin wissen die Bürger dann, wofür das Geld bestimmt ist, das der Staat ihnen so oder so aus der Tasche zieht. Denn das Gefühl des Einzelnen, finanziell überfordert zu sein, verbindet sich häufig mit einem Unbehagen darüber, was der Staat mit all den Steuereinnahmen eigentlich finanziert. Das wiederum befördert die Neigung, es mit der Steuerehrlichkeit, mit der Steuermoral nicht ganz so ernst zu nehmen - ein Phänomen, in dem Deutschland quer durch alle gesellschaftlichen Schichten eine internationale Spitzenstellung einnimmt. Bei dem Versuch, dem Finanzamt ein Schnippchen zu schlagen, kommt kaum einer noch auf die Idee, damit den Mitbürger, den Nachbarn zu betrügen und die Solidarität der Gemeinschaft auszuhöhlen.
Hinter der Verbindung von Reformdebatte und krisenhafter Steuerpolitik steckt also mehr als nur eine vorübergehende Finanzkrise der öffentlichen Hand in Zeiten der konjunkturellen Schwäche. Vielmehr ist das überkommene System des Steuerstaates in eine grundsätzliche Vertrauenskrise geraten. Sie spiegelt ein problematischer gewordenes Verhältnis zwischen Staat und Bürgern wider, das sich auch in anderen Formen zunehmend artikuliert, etwa in der emotionalen Distanz zur politischen Klasse oder im Rückgang der Wahlbeteiligung.
Der Steuerstaat des 20. Jahrhunderts beruhte auf dem Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit als einem Maßstab sozialer Gerechtigkeit, und er beruhte auf dem Prinzip der staatlichen"Daseinsvorsorge" für den Bürger: auf der Bereitstellung sozialer, kultureller oder infrastruktureller Leistungen von der Schule über die Oper bis zur Autobahn, die im Gegenzug für die Steuerzahlung kostenlos (oder gegen einen symbolischen Betrag, eine Art Schutzgebühr wie beim Opernticket) in Anspruch genommen werden durften.
Offenkundig sind in letzter Zeit die Grenzen und ambivalenten Wirkungen beider Prinzipien deutlicher hervorgetreten. Der reale und noch mehr der psychologische Abstand zwischen der Steuerzahlung einerseits, der Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen andererseits ist gewachsen, und immer weniger Bürger vermögen hier noch eine vernünftige Relation herzustellen. Das ist eine der Ursachen für das Gefühl des"Betrogen-Werdens" und damit für die auffällig niedrige Steuermoral in Deutschland. Im klassischen Wohlfahrtsstaat diente die steuer- (oder steueräquivalent) finanzierte Sozialpolitik als ein Hauptmittel der Legitimation des demokratischen Staates.
Dieser"Tauschvertrag" aber ist brüchig geworden, da die Haupt-"Geber" (die steuerzahlende Mittelklasse, die berüchtigten"Besserverdienenden") ebenso wie die Haupt-"Nehmer" (die"Transfergruppen") diesen Loyalitäts- und Unterstützungsvorschuss immer weniger zu leisten bereit sind. Worauf kann in Zukunft die Finanzierung öffentlicher Leistungen des Staates für die Bürger beruhen, und woran misst sich die Inanspruchnahme dieser Leistungen durch den Einzelnen? Kann die Relation zwischen"Zahlung" und"Leistung" für die Bürger wieder so plausibel gemacht werden, dass sie dem System - ihrem eigenen demokratischen Staat - Vertrauen entgegenbringen, weil es in ihm fair und gerecht zugeht?
Ein neuer Trend wird sichtbar
Bei der Antwort auf diese Fragen stößt der Steuerstaat des 20. Jahrhunderts offensichtlich an sehr prinzipielle Grenzen. Wir brauchen einen Kurswechsel zu einem neuen System, das Transparenz und Fairness erhöht und zugleich das Vertrauen des Bürgers in den Staat wie - nicht weniger wichtig - in die eigene bürgerliche Leistungsfähigkeit erhöht. Wir brauchen einen Kurswechsel vom Steuerstaat zur Gebührengesellschaft. Die Maut, die Straßenbenutzungsgebühr, ist dafür ein Beispiel: Wer eine Leistung in Anspruch nimmt - hier: die Bereitstellung eines Verkehrsweges -, zahlt unmittelbar dafür und wird es gerne tun, weil er weiß, was er dafür erhält.
In vielen Bereichen zeichnet sich dieser Trend seit Jahren ab, auch wenn die Debatten bis jetzt weitgehend isoliert voneinander verlaufen: in der Verkehrspolitik, in der Bildungspolitik, in der Gesundheitspolitik. Am bekanntesten ist der in diesen Wochen wieder aufgeflammte Streit um die Studiengebühren in der Hochschulpolitik: Das öffentliche Gut tertiärer Bildung soll nicht pauschal und unbegrenzt aus allgemeinen Steuermitteln zur Verfügung gestellt werden, sondern von denjenigen durch Gebühren (mit-)getragen werden, die es in Anspruch nehmen und - etwa in der Form von Karriere- oder Einkommenschancen - von ihm individuell profitieren. Ernsthafte Argumente dagegen werden schon länger nicht mehr vorgebracht, erst recht nicht solche der sozialen Gerechtigkeit - der Sozialdemokrat Peter Glotz weist seit Jahrzehnten auf die ungerechten, die Mittelklasse finanziell entlastenden und sozial stabilisierenden Effekte des"freien" (in Wirklichkeit von allen Steuerzahlern, auch den Nichtakademikern, ermöglichten) Studiums hin. Am Beispiel der Studiengebühren treten auch andere Vorteile des Gebührenmodells klar hervor. Stichwortartig könnte man nennen: die Steigerung von Motivation und die Steigerung von Effizienz durch ein erhöhtes, oder überhaupt erst geschaffenes, Kostenbewusstsein.
In der Gesundheitspolitik gibt es jetzt eine parallele Diskussion, die wahrscheinlich sogar schneller zu effektiven Maßnahmen führen wird. Hier geht es zwar formell nicht um die Ablösung von Steuern durch Gebühren. Aber das System der Gesetzlichen Krankenversicherung, ihrer Beitragserhebung und der Inanspruchnahme ihrer Leistungen, ist eben keine"Versicherung", sondern eine ganz steueräquivalente Situation: De facto wird eine Gesundheitssteuer, erhoben nach der Höhe des Einkommens wie die Lohnsteuer, vom Gehalt eingezogen, im Gegenzug besteht freier Zugang zu medizinischen Leistungen ähnlich dem zu Schulen oder Straßen, einschließlich des Grundsatzes: Die Kosten sind mit der Steuer pauschal abgegolten und haben den Nutzer nicht zu interessieren. Jetzt geht es darum, wenigstens ein Stück weit auf das Gebührenprinzip (man könnte in diesem Fall auch sagen: ein"echtes" Versicherungsprinzip) umzustellen, und wieder lassen sich soziale Gerechtigkeit, bürgerliche Motivation und Kosteneffizienz als die entscheidenden Argumente identifizieren. Und dass wir Gebühren für die Müllentsorgung und andere kommunale Dienstleistungen zahlen, ist ohnehin selbstverständlich.
In der Tat ist der Steuerstaat, historisch gesehen, eine relativ moderne Erfindung - jedenfalls in dem Sinne, an den die meisten heutzutage unwillkürlich denken: der direkten Steuern, des Lohn- und Einkommensteuerabzugs vom Erwerbseinkommen und seiner Staffelung nach der Einkommenshöhe, der"Progression". Erst die Zeit um den Ersten Weltkrieg herum markierte im Deutschen Reich den Durchbruch hinsichtlich des direkten staatlichen Zugriffs auf die Löhne und Einkommen seiner Bürger. Von den Rüstungsanstrengungen im Wilhelminischen Reich über die unmittelbare Kriegsfinanzierung bis zu den Finanz- und Steuerreformen am Anfang der Weimarer Republik spannt sich ein im Grunde erstaunlich kurzer Bogen, der das Steuersystem innerhalb von einem Dutzend Jahren - zwischen 1909 und 1920 - im Kern zu dem machte, was wir noch heute kennen.
Die Staatsaufgaben vervielfältigten sich hinsichtlich von Leistungen der Kultur, der Bildung, des Verkehrs, der sozialen Unterstützung, und dafür bedurfte es regelmäßiger (und steigender) Einnahmen, die an die Steigerung von Produktivität und Wohlstand gekoppelt blieben. Zugleich ging es um Steuergerechtigkeit. Angesichts der krassen Unterschiede zwischen Arm und Reich trat die sozialpolitische Ausgleichsfunktion der Steuern in den Vordergrund.
Das war an sich kein deutsches Spezifikum. In auffälliger zeitlicher Parallele entdeckte auch in den USA während der"Progressive Era", im Jahre 1913, der Bundesstaat die allgemeine Einkommensteuer. Aber andere Länder, und auch dafür wären die USA ein Beispiel, sind dem kontinentaleuropäischen Weg weniger entschieden gefolgt und haben zugleich Elemente einer bürgerlichen Gebührengesellschaft auf- und ausgebaut.
In Deutschland dagegen haben wir uns in besonders hohem Maße an die"automatische" Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen gewöhnt, die durch die allgemeine Steuerleistung als"erkauft" und abgegolten betrachtet werden. Doch gibt es seit einiger Zeit Gegentendenzen. Die Trendwende von direkten zu indirekten Steuern - vereinfacht gesagt: von der Lohnsteuer zur Mehrwertsteuer -, die sich seit einiger Zeit vollzieht und mit Sicherheit, schon im Blick auf europäische Angleichung, fortsetzen wird, ist ein wichtiges Indiz dafür.
Ähnlich wie bei einem Gebührenmodell ist der Grundgedanke, den Bürgern zunächst das Geld im eigenen Portemonnaie zu belassen. Durch ihre individuellen Präferenzen, durch ihr Konsum-, Freizeit- oder Sparverhalten können die Bürger gewissermaßen selber entscheiden, wie viele oder welche Steuern sie zahlen. Es geht also nicht nur um das ökonomische Prinzip einer Stärkung der Nachfrageseite, sondern zugleich um das sozialtheoretische Prinzip einer Stärkung bürgerlicher Verantwortung und Mündigkeit.
Aber wie verhält es sich mit dem Grundsatz sozialer Gerechtigkeit - kann man von dem Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit abrücken, läuft nicht eine solche Umstellung auf eine Art"Kopfsteuer" hinaus, bei der alle den gleichen Betrag, unabhängig von ihrem Einkommen, zahlen? Zunächst einmal ist es schwerer geworden zu sagen, was verteilungspolitische Gerechtigkeit in einer gewandelten Gesellschaft bedeutet.
Umverteilung allein ist nicht gerecht
Aus genau diesem Grunde ist ja die sozialphilosophische und politische Debatte über Gerechtigkeit jüngst wieder in Gang gekommen. Das Beispiel der Sozialversicherung zeigt, dass nicht jedes System gerecht bleibt, das einmal als solches konzipiert worden ist. Gerechtigkeit bemisst sich nicht mehr nur an Umverteilung, und die Umverteilung vollzieht sich nicht mehr einfach in dem Raster von"Arm und Reich", sondern bezieht andere Gesichtspunkte, vor allem familien- und generationenpolitische, mit ein.
An der Heranziehung der Bürger nach ihrer Leistungsfähigkeit führt auch in der Gebührengesellschaft kein Weg vorbei. Das Gebührenprinzip ist mit der Staffelung nach Leistungsfähigkeit im Übrigen durchaus verträglich, wie das Beispiel der entsprechend gestuften Kindergartenbeiträge in vielen Bundesländern zeigt. Neben der sozialen Staffelung kann auch der Gebühren(teil)erlass ein Mittel sein - zum Beispiel als Stipendium in der Finanzierung des Studiums. Ohnehin geht es bei einem solchen Kurswechsel nicht um eine Abschaffung aller direkten Steuern. Direkte Steuern bleiben verteilungspolitisch umso mehr geboten, als das Gebührenmodell Familien mit Kindern zu benachteiligen droht und die durch die Kumulation von"Erziehungsgebühren" entstehenden Nachteile an anderer Stelle kompensiert werden müssen.
Außerdem gibt es einen langen Katalog von Staatsaufgaben, die im Gegensatz zur Straßenbenutzung, zum Schwimmbad, zum Universitätsbesuch nicht als direkte Bürgerleistung, als individuell zurechenbarer Bürgernutzen bewertet werden können. Dazu zählt vor allem das ganze Bündel der klassischen inneren und äußeren Hoheits- und Sicherungsaufgaben des Staates: Polizei und Justiz, Militär und überhaupt das internationale Engagement des eigenen Staates, das in letzter Zeit ja beträchtlich gewachsen ist, aber auch bestimmte Aufgaben der Kulturpolitik.
Zur Finanzierung solcher Aufgaben wäre ein Gebührenmodell nicht nur unpraktikabel - es würde auch an der elementaren Tatsache vorbeisehen, dass der Staat mehr ist als eine unmittelbare Vertragsgemeinschaft von Bürgern, ganz gleich, ob man diese eher marktförmig-liberal oder eher kommunitaristisch denkt.
Vorteile für die Gebührengesellschaft hingegen lassen sich unter dem Stichwort der generationellen Nachhaltigkeit der Finanz- und Gesellschaftspolitik benennen. Eigenartigerweise sind wir erst seit kurzem wieder dabei, die engen Zusammenhänge zwischen Finanz- und Gesellschaftspolitik überhaupt zu begreifen, zumal im Hinblick auf die generationelle Lastenverteilung. Die klassischen Mechanismen der Steuerpolitik und Staatsfinanzierung des 20. Jahrhunderts haben dazu verführt, immer mehr öffentliche Leistungen auf Kredit - also zu Lasten der nachfolgenden Generationen - zu beschaffen.
Das Gebührenmodell schiebt dieser Lastenabwälzung einen Riegel vor, indem es eine unmittelbare Verbindung zwischen Leistung und Kosten (aus der Sicht des Staates), zwischen Zahlung und Nutzen (aus der Sicht des Bürgers) schafft. Es gilt dann gewissermaßen: Die Rechnung wird offen gelegt, und sie muß sofort beglichen werden. Das ist zugleich ein wesentliches Instrument, um jenes Kostenbewusstsein für die Bereitstellung öffentlicher Leistungen zu schaffen, das weithin verloren gegangen ist. Wie viel eine Schule, ein Hallenbad, eine Oper eigentlich kostet; und wie viel jeder Einzelne - und nicht einfach eine abstrakte öffentliche Kasse - dafür aufbringen muss, das können nur die wenigsten beziffern, und meist auch nicht diejenigen, die beredt über zu hohe Steuern klagen. Die Bürgergesellschaft muss insofern die Souveränität nicht nur über ihre normativen, sondern auch über ihre materiellen Präferenzen zurückgewinnen.
Vor diesem Hintergrund wird der Übergang vom"Steuerstaat" alten Typs zu einer neuen"Gebührengesellschaft" nicht nur plausibel, sondern auch konsequent. Er ist Teil eines längerfristigen Strukturwandels im Verhältnis von Staat und Bürgern, von Staat und Gesellschaft. Er stärkt die Mündigkeit des Bürgers, die sich auf seine finanzielle Mündigkeit wahrhaftig nicht beschränkt, aber auch nicht ohne diese auskommt. Er nimmt die Bürger zugleich stärker in Verantwortung für die von ihnen finanzierten öffentlichen Leistungen.
Der klassische zentralisierte Anstaltsstaat des 20. Jahrhunderts, den wir als"den" modernen Staat zu sehen uns angewöhnt haben, ist keineswegs ein historisches Endprodukt, sondern bleibt weiterhin Wandlungsprozessen unterworfen. In der gegenwärtigen Reformkrise sollten wir die Chance eines solchen Wandels selbstbewusst nutzen
Quelle http://www.frankfurterrundschau.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?sid=5986b5460f60bf30030a9f36131cd872&cnt=352190
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