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FRANKFURTER RUNDSCHAU
Schwungrad der Finanzkrise
Durch einen sozialverträglichen Abbau der öffentlichen Schulden könnte die Demokratie wieder handlungsfähiger werden
VON GABRIELA SIMON (Volkswirtschaftlerin/Publizistin)
Wie Sisyphos auf den Berg wälzt der Bundesfinanzminister die gewaltige Last der staatlichen Defizite vor sich her. Immer wenn er glaubt, einer Lösung näher zu kommen, tun sich neue Milliardenlöcher auf. Der Felsbrocken rollt wieder zurück, ungeachtet der unmenschlichen Anstrengungen.
Trotz eines beispiellosen Abbaus sozialer Leistungen im Rahmen der Agenda 2010 wird die Neuverschuldung im nächsten Jahr auf hohem Niveau bleiben. Und trotz hektischer finanzpolitischer Maßnahmen mehren sich die Zeichen politischer Lähmung des Landes: eine Regierung im Dauerclinch mit Brüssel, Bundesländer, die nicht mehr in der Lage sind, einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen, Kommunen, die eigentlich schon bankrott sind.
Beim Sparen fallen nach und nach die letzten Tabus. Jeder Posten in den öffentlichen Etats steht zur Disposition. Jeder? Nicht ganz: Ein Haushaltsposten ist über jeden Zweifel erhaben. Das ist der Schuldendienst. 38 Milliarden Euro muss allein der Bund in diesem Jahr für Zinszahlungen ausgeben. In den gesamten öffentlichen Haushalten sind es 70 Milliarden. Das ist, so hat es der Bund der Steuerzahler errechnet, mehr als die Hälfte der gezahlten Lohnsteuer.
Gestritten wird heute nicht mehr darüber, ob, sondern nur noch darüber, wie stark der Schuldenberg weiter wachsen soll. Aber dieser wachsende Schuldenberg ist das eigentliche Problem. Da der Zinsendienst durch neue Kredite finanziert wird, nährt die Verschuldung ihr eigenes Wachstum. Fast 90 Prozent der rekordhohen Neuverschuldung in diesem Jahr werden für die Zinszahlungen gebraucht. So ist die Schuldenspirale eines der großen Schwungräder der staatlichen Finanzkrise.
Hundert Jahre Schulden
Die gesamten Staatsschulden in Deutschland übersteigen heute 1,3 Billionen Euro. Zum Vergleich: Die Auslandsschulden der Entwicklungsländer summieren sich auf 2,5 Billionen US-Dollar. Wenn wir heute aufhören würden, uns zu verschulden, und damit anfangen würden, jährlich 12 Milliarden Euro zurückzuzahlen, dann hätten wir diesen Schuldenberg in hundert Jahren noch nicht abgetragen. Wir hätten dann dieses Jahr für den Bundeshaushalt 55 Milliarden Euro (über 20 Prozent) weniger zur Verfügung.
Wenn es aber selbst auf lange Sicht unmöglich ist, die Schulden zurückzuzahlen, ohne Sozialstaat und Demokratie ernsthaft in Gefahr zu bringen, dann müssen Wege zu einem Schuldenerlass gesucht werden.
Überschuldung und Schuldenerlass sind jahrtausendealte Themen. Im Alten Testament wird ein regelmäßiger und allgemeiner Schuldenerlass verfügt, der alle 50 Jahre stattfinden soll. Damals verschuldeten sich viele Bauern bei Großgrundbesitzern; sie mussten ihr Land und oft auch sich selbst und ihre Familien an die Gläubiger verpfänden."Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen", heißt es im dritten Buch Mose,"und sollt eine Freilassung ausrufen im Land für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen."
"Heilig" muss das Erlassjahr sein, weil die Eigentumsrechte der Gläubiger verletzt werden. Ihnen wird ein Opfer abverlangt zu Gunsten des höheren Gutes der menschlichen Freiheit.
Eingeschränkte Handlungsfreiheit
Um Freiheit geht es aber auch heute, in unseren zeitgenössischen Schuldenkrisen: Um die Handlungsfreiheit des demokratischen Gemeinwesens, um die Freiheit einer Gesellschaft, ihre Prioritäten selbst zu setzen. Bildung, Kultur, Umweltschutz, soziale Sicherheit, auch für die kommenden Generationen - das alles droht im Sog der Finanzkrise unterzugehen. Der wachsende Schuldendienst wird in den kommenden Jahren zunehmend aus den laufenden Einnahmen finanziert werden müssen, auf Kosten wichtiger Aufgabenbereiche des Staates.
Nun ist ein Erlassjahr mit unserem Rechtssystem vermutlich nicht zu vereinbaren. Aber auch in unserem Recht gibt es ein"Befreiungsangebot" für überschuldete Schuldner: die Insolvenz. In einem Insolvenzverfahren können Schulden auf ein tragbares Niveau reduziert werden. Doch was ist für einen Staat tragbar? Wie viele Schulden verträgt die Demokratie? Dafür kann es keinen juristischen Maßstab geben. Staatliche Insolvenz ist deshalb immer eine politische Entscheidung.
Die Schuldenkrise
Deutschlands Staatsschulden haben die Höhe von über 1,3 Billionen Euro erreicht. Jahr für Jahr werden neue Schulden gemacht, die den Schuldendienst weiter in die Höhe treiben; für politische Gestaltung bleibt kaum noch Spielraum. Angesichts der sich zuspitzenden Lage plädiert Gabriela Simon, Volkswirtschaftlerin und Publizistin in Berlin, für eine außergewöhnliche Maßnahme: Schuldenerlass für den Staat.
In der Bundesrepublik ist eine Insolvenz staatlicher Schuldner nicht vorgesehen. Anders beispielsweise in den USA: Dort gibt es ein Insolvenzrecht für Schuldner mit Hoheitsgewalt, das seit Jahrzehnten für bankrotte Kommunen Anwendung findet. Dabei werden die Hoheitsrechte des Schuldners nicht angetastet. Das Gericht darf beispielsweise nicht darüber befinden, welche Dienstleistungen der Schuldner seinen Bürgern bereitstellen darf. Diese Entscheidung bleibt der Politik überlassen. Für alle Betroffenen gibt es Anhörungsrechte.
Ein solches Insolvenzverfahren bietet die Chance, einen gesellschaftlichen Kompromiss zu organisieren zwischen den Interessen der Gläubiger und den Interessen der Bürger an einem funktionierenden politischen Gemeinwesen. So könnte der staatliche Schuldenberg sozialverträglich abgebaut werden. Der Staat geht in Konkurs, damit die Demokratie aufatmen kann.
<ul> ~ Finanzkrise</ul>
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