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6. März 2004, 02:06, Neue Zürcher Zeitung
Chinas Regierungschef zieht Bilanz
Wohltemperierte Rede von Wen Jiabao
Wen Jiabaos erste Jahresbilanz als chinesischer Regierungschef wurde, wie zu erwarten war, von wirtschafts- und sozialpolitischen Themen dominiert. Zu politischen Neuerungen gab es nicht viel zu hören. Zu Taiwan gab sich der Regierungschef in der Sache hart, aber im Ton gemässigt. Überhaupt legte er in seiner Rede den Akzent auf Ausgleich und den Abbau von Konfliktpotenzialen.
us. Peking, 5. März
Beinahe 3000 Delegierte haben sich am Freitagmorgen in Peking in der Grossen Halle des Volkes zur jährlichen Session des nationalen Volkskongresses versammelt. Zum Auftakt der Sitzung legte Ministerpräsident Wen Jiabao in einer Grundsatzrede die Schwerpunkte seiner Regierungstätigkeit dar. Als er vor einem Jahr zum Regierungschef ernannt worden war, hatte Wen in seiner ersten Pressekonferenz herausgestrichen, dass er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Zhu Rongji ein weniger stürmisches Temperament besitze. Bedachtsamkeit und der Wunsch nach Ausgleich markierten denn auch den Grundton seiner wohltemperierten Rede. Von vornherein hatte niemand erwartet, dass Wen drastische Kursänderungen ankündigen würde. Mit seiner Präsenz an der Eröffnungssitzung markierte zudem der ehemalige Parteichef Jiang Zemin recht deutlich die von ihm und seinen Getreuen gewünschte Kontinuität.
Hongkong und Taiwan
Wen erklärte die Wahrung von Stabilität und Wohlstand in Hongkong und Macao zum «unerschütterlichen Ziel» seiner Regierung. Er sicherte auch den im Plenum anwesenden Chief Executives der beiden Territorien seine volle Unterstützung zu. China handle stets in strikter Übereinstimmung mit den für Hongkong und Macao geltenden Grundgesetzen. Bei Taiwan lasse sich China vom Prinzip einer friedlichen Vereinigung auf der Basis der Formel «ein Land, zwei Systeme» leiten. Wen versprach einen kräftigen Ausbau der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen und legte besonderes Gewicht auf die baldige Realisierung der «drei direkten Verbindungen» zwischen dem Festland und der Insel. China sei dezidiert gegen jegliche separatistischen Umtriebe und werde es niemandem erlauben, Taiwan von China zu trennen. Wen liess sich zu keinen scharfen Worten hinreissen, wie sie sein Vorgänger Zhu Rongji vor vier Jahren ebenfalls im Vorfeld von taiwanischen Präsidentschaftswahlen geäussert hatte.
Im aussenpolitischen Teil seiner Rede beklagte Wen die Tendenz zum Unilateralismus und ein wachsendes Nord-Süd-Gefälle. China werde auch in Zukunft für eine neue internationale Ordnung arbeiten, die fair und gerecht ist. Einen besonderen Akzent legte Wen auf freundschaftliche und partnerschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn. Er sicherte zu, dass China sich aktiv in der multilateralen Diplomatie einsetzen und in den Vereinten Nationen wie in anderen internationalen und regionalen Organisationen eine konstruktive Rolle spielen werde. Im Zusammenhang mit der angestrebten Verbesserung der Landesverteidigung erwähnte Wen, dass man sich auf die Entwicklung von neuen und technologisch fortgeschrittenen Waffensystemen konzentrieren werde. Die bereits seit einiger Zeit im Gang befindliche Redimensionierung der Streitkräfte soll im laufenden Jahr durch einen weiteren Abbau der Bestände um 200 000 Mann fortgesetzt werden.
Abbau von sozialen Spannungen
Unter den wichtigsten Leistungen im vergangenen Jahr nannte Wen den «grossen Sieg gegen Sars» an erster Stelle. Er sicherte eine drastische Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens zu, wodurch in städtischen wie ländlichen Verhältnissen eine effiziente Seuchenbekämpfung und Prävention ermöglicht werden sollen.
Weitere sozialpolitische Massnahmen zielten auf den Abbau von akuten sozialen Spannungen ab. Wen versprach eine Intensivierung der Verbrechensbekämpfung, eine Verbesserung der Sicherheitsvorkehren am Arbeitsplatz, die prompte und vollumfängliche Entlöhnung von Wanderarbeitern, einen verschärften Kampf gegen die Korruption und eine Beseitigung der Rechtsverletzungen bei Umsiedlung oder Expropriation. All diese Probleme sorgen in zahlreichen Regionen des Landes für Unrast und führen zuweilen zu Zusammenstössen mit der Polizei.
Als Hu Jintao und Wen Jiabao die Führungsspitze in Staat und Partei übernahmen, gab es allerlei Spekulationen über bevorstehende politische Reformen. In der Zwischenzeit ist klar, dass die neue Führungsgeneration, sofern sie überhaupt umfassende politische Reformen will, vorsichtig vorgehen muss. Der moderate, ausgewogene Ton der Rede von Wen dürfte deshalb nicht nur Ausdruck seines besonnenen Temperaments und seiner anerkannten Bescheidenheit sein. Es dürfte sich darin auch die Notwendigkeit widerspiegeln, verschiedene Positionen innerhalb der Führung unter einen Hut zu bringen. Es ist kein Geheimnis, dass Jiang Zemins Vertraute im engsten Führungskreis in allen politischen Belangen für einen markant konservativeren Kurs sind. In betont vager Formulierung sicherte Wen Jiabao zu, dass es im laufenden Jahr «konkrete und besonnene Schritte für eine politische Restrukturierung» geben werde. Er versprach in diesem Zusammenhang, die Demokratie auf der untersten Ebene auszubauen und die Selbstverwaltung der dörflichen und städtischen Bevölkerung zu verbessern. Es sind dies ebenso wie das Versprechen, den Justizapparat und die Qualität der Gesetzgebung zu verbessern, keine umwerfenden Neuerungen, und der wiederholte Bezug auf eine «sozialistische Demokratie» und ein «sozialistisches Rechtssystem» legt nahe, dass sich in dieser Hinsicht auch unter der neuen Führung kaum etwas Grundsätzliches ändern wird.
<ul> ~ China</ul>
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