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hallo,
wurde hier schon mal als link gepostet.
meiner meinung nach ist da viel panikmache dabei und ablenken vom wesentlichen bzw. errichten eines nebenschauplatzes, damit sich die generationen gegenseitig die schuld geben...
gruß b.
Gerd Bosbach
Demografische Entwicklung - kein Anlass zur Dramatik
In der heutigen gesellschaftspolitischen Diskussion spielt der zukünftig zu erwartende
demografische Wandel eine sehr große Rolle. Vor allem in den Bereichen Gesundheit und
Rente wird vor den Folgen einer „Überalterung“ in Deutschland gewarnt. Anhand der im
Juni 2003 veröffentlichten Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes für die
Jahre bis 2050 weist der Autor nach, dass bei ganzheitlicher Betrachtung der Daten kein
Anlass zur Dramatik besteht. Ausführungen über den Wert von Langfristprognosen runden
die Kritik am herrschenden „Demografie-Pessismus“ ab.
In der politisch-ökonomischen Diskussion der letzten Monate spielte die 10. koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, veröffentlicht im Juni 2003,
eine sehr große Rolle. Fast einem Naturgesetz gleich dient die zu erwartende demografische
Entwicklung als Hauptargumentation für Veränderungen im Rentensystem, aber auch für
Einschnitte im Gesundheitswesen.
Franz Müntefering (SPD), Sommer 2003:
„Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit die drohende Überalterung unserer Gesellschaft
verschlafen. Jetzt sind wir aufgewacht. Unsere Antwort heißt: Agenda 2010! Die
Demografie macht den Umbau unserer Sozialsysteme zwingend notwendig.“ 1
Gerhard Schröder, Sommer 2003:
„Und wir müssen anerkennen und aussprechen, dass die Altersentwicklung unserer Gesellschaft,
wenn wir jetzt nichts ändern, schon zu unseren Lebzeiten dazu führen würde, dass
unsere vorbildlichen Systeme der Gesundheitsversorgung und Alterssicherung nicht mehr
bezahlbar wären.“1
Während über die Konsequenzen hart diskutiert und gestritten wird, gelten die Berechnungen
der Statistiker selbst als unumstritten und gleich einem Naturgesetz wird angenommen,
dass alles genau so in 47 Jahren eintritt.2
Dass diese Prognosegläubigkeit unberechtigt ist und auch von den Fachleuten des Statistischen
Bundesamtes gar nicht so gesehen wird, belegt dieser Aufsatz. Und selbst, wenn die
Vorhersagen so eintreffen würden, haben sie bei weitem nicht die Dramatik, die uns in den
letzten Monaten vorgeführt wurde. Auch dies belegt dieser Aufsatz, meist mit Fakten und
Sichtweisen, die von den Fachleuten des Amtes in ihrer gut 50 seitigen Presseveröffentlichung3
dargestellt wurden.
Der Autor war von 1988 bis 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Statistischen Bundesamtes
überwiegend in der Bonner Beratungsstelle des Amtes tätig und hat dort das Wirtschafts-
und Finanzministerium und die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundes-
1 zitiert nach „Mythos Demografie“, Broschüre der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft, S. 1
2 Die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes gehen bis zum 31.12.2050
3 Statistisches Bundesamt: Bevölkerung Deutschlands bis 2050, 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung,
Presseexemplar
2
tages in Fragen der amtlichen Statistik beraten. Aufgrund einer Anfrage des Ex-
Bundeskanzlers Helmut Schmidt hat er sich 1990 intensiv mit der Materie Bevölkerungsprognosen
beschäftigt.
Kurzdarstellung der wesentlichen Annahmen und Ergebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung
Die wesentlichen Voraussetzungen und Modellannahmen für die Berechnungen sind:
1. Bevölkerungsstand und -aufbau zum 31.12.2001
2. Konstanz der Geburtenhäufigkeit von 1,4 Kindern pro Frau bis 20504 (in den neuen Bundesländern
erst ab 2011)
3. Zunahme der Lebenserwartung
Dazu wurden drei Varianten untersucht. Den meisten Veröffentlichungen, auch des Amtes
liegt die mittlere Variante zugrunde. Danach wird die Lebenserwartung Neugeborener
im Jahre 2050 rund 6 Jahre mehr betragen als heute (für Jungen 81,1 Jahre, für Mädchen
86,6 Jahre).
4. Saldo zwischen Zu- und Abwanderungen von Ausländern nach bzw. aus Deutschland.
Auch dort wurden drei Varianten berechnet, wovon die mittlere Variante mit einem jährlichen
Wanderungsüberschuss nach Deutschland von 200.000 Personen Grundlage der
meisten Publikationen ist.
Mit diesen und einigen wenigen, vergleichsweise unbedeutenden Annahmen5 lässt sich der
Bevölkerungsaufbau für alle Folgejahre berechnen. Schwerpunkt der öffentlichen Darstellung
wurde auf das Jahresende 2050 gelegt, aber auch die Situationen an den Zwischenzeitpunkten
2010, 2020, 2030 und 2040 sind veröffentlicht.
„Die Alterung wird also nicht erst in 50 Jahren zu Problemen führen, sondern bereits in den
nächsten beiden Jahrzehnten eine große Herausforderung für Wirtschaft, Gesellschaft sowie
vor allem für die sozialen Sicherungssysteme darstellen. Diese Entwicklung ist vorgegeben
und unausweichlich:...“ So interpretierte der Präsident des Statistischen Bundesamtes Johann
Hahlen die Ergebnisse anlässlich der Pressekonferenz zur Vorstellung der Modellrechnung
am 6.6.2003.6
4 Dies entspricht in etwa der Geburtenhäufigkeit in Westdeutschland in den letzten 25 Jahren.
5 Wanderungsverhalten der Deutschen, Details über Geschlechts- und Altersstruktur der Zuwanderer, Angleichung
der Lebenserwartung in den neuen Bundesländern an das Niveau in Westdeutschland
6 www.destatis.de/presse/pm2003/p2301022.htm
3
Die Zahlen, auf die sich Hahlen stützt:
auf hundert Menschen mittleren Alters (20 bis unter 60 Jahre) kommen
Ältere
2001 44
2050 78
Datenquelle: Bevölkerung Deutschlands bis 2050
10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
Variante 5 ("mittlere" Variante)
Statistisches Bundesamt
Presseexemplar vom 6.6.2003
Tabelle 1
Aber stimmt das wirklich? Drei gewichtige, unten aufgeführte statistisch-logische Argumente
wecken starke Zweifel.
So ist auch in einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom Tage der
Veröffentlichung der Berechnung zu lesen:
„Weil die Entwicklung der genannten Bestimmungsgrößen mit zunehmendem Abstand vom
Basiszeitpunkt 31.12.2001 immer unsicherer wird, haben solche langfristigen Rechnungen
Modellcharakter. Sie sind für den jeweiligen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten keine
Prognosen, sondern setzen die oben beschriebenen Annahmen um.“
Die Fachleute des Amtes wissen also nichts von der angeblichen Unausweichlichkeit der
Entwicklung, wie sie der Jurist und politische Beamte Johann Hahlen - direkt dem Bundesministerium
des Innern unterstellt, in dem er vorher 18 Jahre tätig war - der entsetzten Ã-ffentlichkeit
präsentiert.
Aber selbst wenn die Modellrechnungen Wirklichkeit würden, so zeigen vier Betrachtungen
deutlich auf, dass die Folgen einer Alterung der Gesellschaft nicht zu Wohlstandsverlust
führen müssen. Auch bei diesen Betrachtungen stützt sich der Autor dieses Aufsatzes überwiegend
auf Fakten, die die Fachleute des Amtes am 6. Juni der Presse übergeben haben,
von der Ã-ffentlichkeit aber weitgehend unbemerkt.
Dass die Argumente statistischer Natur sind, sei der Profession des Autors geschuldet und ist
auch beabsichtigt, um der behaupteten Unumstößlichkeit des statistischen „Naturgesetzes“
Demografie die Grundlage zu entziehen.
4
Argument 1:
50 Jahres-Prognosen7 sind moderne Kaffeesatzleserei
Ein Blick um 50 Jahre zurück bestätigt obige These eindrucksvoll:
Zwangsläufig hätte man 1950 bei einer Schätzung für das Jahr 2000 u.a. folgende Einflussfaktoren
übersehen müssen:
• Entwicklung und Verbreitung der Antibabypille
• Anwerbung und Zuzug von ausländischen Arbeitskräften und ihren Familien
• Trend zur Kleinfamilie bzw. einem Single-Dasein
• Ã-ffnung der Grenzen im Osten mit dem Zuzug von etwa 2,5 Millionen Aussiedlern aus
den osteuropäischen Ländern nach Deutschland.
Da hätten auch die besten Berechnungsprogramme nichts genutzt, denn auch diese können
nur existierende, bekannte Trends fortschreiben. Strukturbrüche sind halt nicht vorhersagbar.
Das ist das Problem jeder Langfristprognose!
Noch schärfer wird die Betrachtung, wenn wir annehmen, im Jahre 1900 sei eine 50 Jahres-
Prognose gewagt worden. Es wären schlicht zwei Weltkriege übersehen worden!
Wenn zutreffende 50 Jahres-Prognosen in der Vergangenheit unmöglich waren, warum
sollen sie in unserer schnelllebigen Zeit dann plötzlich wie ein Naturgesetz gelten?
Diese Einsicht teilen auch die Experten des Amtes (s. obiges Zitat), sie wird nur in der Ã-ffentlichkeit
nicht wahrgenommen.
Argument 2:
Die Modellannahmen sind durch die Politik beeinflussbar
Politiker und Presse stellen die demografische Entwicklung als unveränderbar dar. Dabei
sind zwei wichtige Annahmen des Berechnungsmodells direkt durch die Politik beeinflussbar:
1. Kinderanzahl pro Frau
Mit familien- und kinderfreundlicher Politik, mit Berufschancen für Mütter lässt sich einiges
machen. Das zeigt z.B. Frankreich, das mit entsprechender Politik die Anzahl der
Kinder pro Frau von 1993 mit 1,65 im Jahr 2000 auf 1,88 (plus 14%) steigern konnte.
2. Wanderungsüberschuss
Der Zuzug von Ausländern nach Deutschland ist ganz offensichtlich eine Frage der Ausländer-,
Europa- und Integrationspolitik.
So hängt der Zuzug von EU-Bürgern aus den neuen Beitrittsländern, vor allem nach der
vollständigen Freizügigkeit für Arbeitnehmer, stark von der Attraktivität Deutschlands
ab. Und allein die politische Entscheidung, die Türkei in die EU aufzunehmen, hätte
immensen Einfluss auf den Bevölkerungsstand.
7 Wegen der einfachen Lesbarkeit wird die Modellrechnung des Statistischen Bundesamtes für 49 Jahre -
Bevölkerungsstand Ende 2001 bis Ende 2050 - im folgenden oft als 50 Jahres-Prognose bezeichnet.
5
Zwei der drei wichtigen Stellschrauben des Rechen-Modells sind also von der Politik abhängig
und nicht umgekehrt.
Auch die dritte wichtige Modellannahme, der Anstieg der Lebenserwartung um ca. 6 Jahre,
ist alles andere als eine sichere Prognose. Nicht nur Pädiater sind angesichts von Adipositas
(Fettleibigkeit) bei ca. 25 Prozent der Kinder, Bewegungsarmut, frühzeitigem Konsum von
Alkohol, Nikotin und Drogen, oft schon in ihrer körperlichen Entwicklungsphase zwischen
dem 11. und 14. Lebensjahr beginnend, unsicher, ob der Trend tatsächlich langfristig in diese
Richtung geht.
Argument 3:
Zur „Lebensdauer“ und Trefferquote von Bevölkerungsvorausberechnungen
Wegen der großen Unsicherheiten bei den Modellannahmen, sieht sich das Statistische Bundesamt
meist schon nach kurzer Zeit gezwungen, neue Berechnungen vorzunehmen. Die
„Lebensdauer“ der letzten 9 koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen betrug im
Schnitt 4 Jahre. Beispielsweise sind die letzten drei „alten“ Berechnungen in den Jahren
1992, 1994 und 2000 veröffentlicht worden. Zusätzlich wurde im Jahre 1995 eine Rechnung
im Auftrag des Bundesministeriums des Innern durchgeführt und 1996 vom BMI veröffentlicht.
Zwei Schlaglichter belegen die großen Unsicherheiten bei Bevölkerungsprognosen:
• Das Amt errechnete in seiner 7. Vorausberechnung für das Jahr 2030 einen Bevölkerungsstand
von 69,9 Millionen Einwohnern. Nur zwei Jahre später in der 8.
Vorausberechnung lag der Wert je nach Variante um 3,8 bis 11,2 Millionen höher!
• In seiner 10. Vorausberechnung sind 9 Varianten berechnet und veröffentlicht worden.
Die Spannbreite für die erwartete Bevölkerung für das Jahr 2050 ist von 67,0 (Variante
1) bis 81,3 Millionen (Variante 9), beträgt also 14,3 Millionen Menschen. (Für die meist
zitierte mittlere Variante 5 wurden 75,1 Millionen Bundesbürger errechnet.)
Allein diese Fakten zeigen, dass die von vielen Politikern und leider auch von vielen Journalisten
als sicher beschriebene Entwicklung im höchsten Grade unsicher ist!
Vorbemerkung zu den nachfolgenden Argumenten oder: Wenn doch alles so Wirklichkeit
wird
Trotz der oben geäußerten Unsicherheiten über die Entwicklung der Bevölkerung schließt
der Autor natürlich nicht aus, dass die zukünftige Realität in der Nähe der Vorausberechnungen
liegen kann. Dies hätte aber bei weitem nicht die dramatischen Auswirkungen, wie
sie aller Ortens wie ein Teufel an die Wand gemalt werden. Das zeigen die folgenden Überlegungen,
anhand der Daten der Variante 5 der amtlichen Berechnung. Diese sogenannte
mittlere der neun gerechneten Varianten liegt auch den meisten Veröffentlichungen des Amtes
und der Presse zugrunde.8
8 Mittlere Annahme über die Zunahme der Lebenserwartung um 6,3 Jahre bei Männern und 5,8 Jahre bei
Frauen und mittlere Annahme über das Wanderungssaldo: plus 200.000/Jahr
6
Übrigens, die meisten der unten aufgeführten Überlegungen haben auch die Fachleute des
Amtes durchgeführt und in ihrer ausführlichen Presseveröffentlichung dargestellt, z.T. leider
etwas verschämt im Tabellenanhang.
Argument 4
Auch die Jungen wollen ernährt werden!
Bei so gut wie allen Betrachtungen zum Thema Demografie wird getan, als wenn die erwerbsfähige
Bevölkerung (meist als 20- bis unter 60-Jährige angenommen) nur ihre Alten zu
ernähren hätte. Dass Kinder und Jugendliche neben Essen, Kleidung und Wohnen - oft von
den Eltern finanziert - auch gesellschaftliche Ausgaben erfordern, z.B. für Kindergärten,
Schulen, Gesundheit, inkl. Personal, wird meist nicht beachtet. Bei seriösen Betrachtungen
darf nicht nur der Altenquotient, sonder muss auch der Jugendquotient dargestellt werden.
Die Summe beider, der sogenannte Gesamtquotient, ist eine aussagekräftige Größe über die
von den Erwerbsfähigen zu versorgenden Menschen.
Aus der Veröffentlichung der Fachleute des Statistischen Bundesamtes (ebenda S. 42), die
sich diesem Gedanken nicht verschließen, sind die folgenden Daten entnommen.
auf hundert Menschen mittleren Alters (20 bis unter 60 Jahre) kommen
Ältere Junge Gesamt
2001 44 38 82
2050 78 34 112
Datenquelle: Bevölkerung Deutschlands bis 2050
10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
Variante 5 ("mittlere" Variante)
Statistisches Bundesamt
Presseexemplar vom 6.6.2003
Tabelle 2
Während der Altenquotient um 77 Prozent steigt, ergibt sich für den Gesamtquotienten ein
Plus von 37 Prozent. Die Dramatik hat sich allein bei Einbeziehung der jungen Generation
in die Betrachtung schon halbiert.
Auch hier lohnt ein Blick in die Vergangenheit. 1970 gab es auf 100 Erwerbsfähige 60 Junge
und 40 Ältere, also eine Gesamtzahl von 100. D.h. auch bei Eintreffen der Prognose des Statistischen
Bundesamtes wächst die Zahl der zu Versorgenden bis 2050 nur um 12 Prozent
gegenüber 1970!
7
Argument 5
Sechs Jahre länger leben, keinen Tag länger arbeiten9
Mit dieser zugegeben provozierenden Überschrift möchte ich auf eine merkwürdige Blickverengung
der Dramatisierer hinweisen. Sie nehmen an, dass die Menschen deutlich länger
leben, dass dadurch die Erwerbsfähigen überfordert sind, es also einen Arbeitskräftemangel
gibt. Trotzdem gehen sie bei ihren Berechnungen von dem selben Renteneintrittsalter wie
heute aus! Manche nehmen für heute und für 2050 dabei das offizielle Alter von 65, manche
das tatsächliche durchschnittliche Renteneintrittsalter von 60 Jahren. Aber übereinstimmend
nehmen sie für 2003 und 2050 das selbe Alter!
Auch hier unterscheiden sich die Fachleute des Bundesamtes wohltuend. Sie berechnen auch
die Entwicklung, wenn heute bis 60 und 2050 bis 65 Jahre gearbeitet wird (ebenda S. 42)
auf hundert Menschen mittleren Alters kommen
Ältere Junge Gesamt Definition mittleres Alter
2001 44 38 82 20 bis unter 60 Jahre
2050 55 30 85 20 bis unter 65 Jahre
Datenquelle: Bevölkerung Deutschlands bis 2050
10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
Variante 5 ("mittlere" Variante)
Statistisches Bundesamt
Presseexemplar vom 6.6.2003
Tabelle 3
Die Zahlen der amtlichen Statistiker aus obiger Tabelle sprechen für sich!
Der Autor tritt damit nicht für eine generelle Anhebung des tatsächlichen Renteneintrittsalter
um 5 Jahre ein. Aber den heutigen, vielfach durch Arbeitslosigkeit oder ihre Androhung
verursachten Zustand der Frühverrentung auf das Jahr 2050 bei längerer Lebenserwartung
und angeblichem Arbeitskräftemangel fest zu schreiben, ist schlichtweg unseriös! Und auch
wenn das tatsächliche Renteneintrittsalter nicht auf 65, sondern auf 63 Jahre ansteigt, ist bei
dieser Gesamtbetrachtung jegliche Dramatik der demografischen Entwicklung verloren gegangen.
Argument 6
Produktivitätsfortschritt erlaubt mehr Rentner
Die heutige Diskussion ist von einer statischen Betrachtungsweise geprägt. Die Leistungsfähigkeit
eines heutigen Beschäftigten wird auch für das Jahr 2050 unterstellt. Nur so kann ein
Anstieg der Zahl der zu ernährenden Rentner bedrohlich wirken. Damit wird komplett ausgeblendet,
dass aufgrund des technischen Fortschritts ein Arbeitnehmer immer mehr herstellen
kann. Wie hoch die Arbeitsproduktivität steigt, kann niemand voraussagen. Die Werte
der letzten Jahrzehnte zu unterstellen, wäre nicht seriös.
9 Wegen der Verständlichkeit sind die, unter Annahmen der Bevölkerungsvorausberechnungen dargestellten
Zahlen der Veränderungen der Lebenserwartung eines Neugeboren benutzt. Korrekt muss mit der Prognose
für die Lebenserwartung der 60-Jährigen argumentiert werden: 2050 für Männer +4,5 Jahre gegenüber heute,
bei Frauen +4,7 Jahre.
8
Um das Ausmaß von Produktivitätsentwicklung sichtbar machen zu können, beziehe ich
mich im Folgenden auf die Prognosen der Herzog- und der Rürup-Kommission, rechne also
weiterhin mit den niedrigen Zahlen der „Dramatisierer“.
jährliche Steigerung der Arbeitsproduktivität ergibt eine Gesamtsteigerung
2001 bis 2050
1,25 % (Herzog-Kommission) um 84 %
1,80 % (Rürup-Kommission) um 140 %
Tabelle 4
Aufgrund dieser Leistungssteigerung von mindestens 84% bis 2050 ist jeder Beschäftigte,
der seinen Anteil an der gestiegenen Produktivität auch erhält, in der Lage, etwas mehr für
die Rentner und Kinder abzugeben, ohne selbst auf die Teilnahme am Fortschritt verzichten
zu müssen. Eine Einschränkung, wie uns immer wieder eingeredet wird, ist wirklich nicht
nötig.
Zusätzliche Leistungen sind erwirtschaftbar, wenn über den Abbau der Arbeitslosigkeit das
Potenzial der Erwerbsfähigen genutzt würde. Diese Steigerung sind bei den Daten in Tabelle
4 nicht berücksichtigt.
Eine vereinfachte Überschlagsrechnung soll verdeutlichen, wie immens die Wirkung von
Produktivitätssteigerungen ist:
Erhält heute ein Arbeitnehmer inkl. Sozialversicherungsanteil des Arbeitgebers 3.000 Euro,
so zahlt er etwa 600 Euro (20%) für Rentner. Es verbleiben ihm also 2.400 Euro. Nach der
niedrigeren Annahme der Produktivitätssteigerung um 1,25% (Herzog-Kommission) würden
aus den 3000 Euro inflationsbereinigt 50 Jahre später 5.583 €. Bei einer Steigerung des Abgabe-
Satzes für Rentner auf 30% verblieben dem Arbeitnehmer immerhin noch satte 3.908 €
(plus 63%). Selbst bei einer völlig unrealistischen Verdoppelung des Beitrages auf 40%
Rentenversicherung verblieben dem Arbeitnehmer mit 3.350 € noch 40 Prozent mehr als
heute. Von „unbezahlbar“ also gar keine Rede, wenn die Produktivitätssteigerungen auch
anteilig an die Arbeitnehmer ausbezahlt werden.
Dabei ist noch nicht berücksichtigt:
Anhebung des Renteneintrittsalters auf über 60 Jahre, Einsparungen durch die ca. 30% weniger
Kinder und Jugendliche, Abbau der Arbeitslosigkeit. Und angenommen wurde nur die
niedrigste der von den Fachleuten prognostizierten Produktivitätssteigerungen!
Argument 7
Auswahl des „worst case“
Bei genauer Datenbetrachtung der Ergebnisse des Statistischen Bundesamtes fällt auf, dass
mit 2050 für die Prognose die schlechteste 10-Jahres-Stufe ausgewählt wurde. Wären die
Berechnungen bis 2060 geführt worden, wären die heute geburtenstarken Jahrgänge der 30-
bis 40-Jährigen - 2050 noch in nennenswerter Zahl Rentner - überwiegend verstorben. Das
Zahlenverhältnis würde sich wieder zu Gunsten der Erwerbsfähigen verändern. Und für
9
2040 zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes ebenfalls eine günstigere Situation als
2050.
War die Auswahl des Jahres mit der höchsten „Dramatik“ Zufall oder politisch beauftragt?
Zum Schluss ein paar ketzerische Fragen
Nach diesen harten statistischen Fakten, seien dem Autor zum Schluss einige Fragen gestattet:
• Warum wurden diese viel zu langfristigen Rechnungen durchgeführt und anschließend
fast täglich dramatisch vorgeführt?
• Versucht diese Regierung tatsächlich bis zum Jahre 2050 zu planen? (Dies entspricht
einer Planung Adenauers im Jahre 1956 für heute!)
Gucken wir dazu mal auf den Zusammenhang, in dem die „demografische Zeitbombe“ benutzt
wird.
„Diese Solidarität unter veränderten ökonomischen Bedingungen in einer globalisierten
Welt, aber auch angesichts der veränderten demographischen Entwicklung zu gewährleisten
ist unsere Aufgabe. Dass wir alle glücklicherweise immer älter werden und die Lebenserwartung
steigt, auf der anderen Seite aber zu wenig Kinder geboren werden, ist die größte Herausforderung
des 21. Jahrhunderts.“
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 09.09.2003 Erste Lesung der
Gesundheitsreform im Deutschen Bundestag. Rede von Bundesgesundheitsministerin Ulla
Schmidt10
So oder ähnlich wird heute jedesmal argumentiert, wenn wegen aktueller Probleme in das
Gesundheits- oder Rentensystem eingegriffen wird!
Dabei hat das Statistische Bundesamt die deutliche Auswirkung der Alterung erst für
die Jahre nach 2020 berechnet. Bis 2010 steigt der Altenquotient so gut wie gar nicht, bis
2020 moderat.
Und damit zur letzten ketzerischen Frage:
• Soll mit dem „Hammer“ Demografie von einem ganz anderen Schauplatz gesellschaftlicher
Auseinandersetzungen abgelenkt werden? Will man die Löhne und Gehälter der
Arbeitnehmer von der Teilhabe am Produktivitätsfortschritt langfristig abkoppeln? Dann
wären die Arbeitnehmer tatsächlich nicht so leicht in der Lage, die Versorgung der Jungen
und Älteren zu übernehmen.
Das hätte allerdings weniger mit den „unausweichlichen“ Folgen des Alterungsprozesses
zu tun, sondern wäre eine bewußte, politische Entscheidung in Fragen der Verteilung
des gesellschaftlichen Reichtums!
10 www.bmgs.bund.de/deu/gra/aktuellles/reden/bmgs/index_3742.cfm
Die Thesen auf einen Blick:
1. 50 Jahres-Prognosen übersehen zwangsläufig die vielfältigen Strukturbrüche.
2. Die Modellannahmen der Bevölkerungsberechnungen sind keine Naturgewalten, sondern
z. T. durch die Politik beeinflussbar.
3. Bevölkerungsvorausberechnungen werden alle paar Jahre wegen veränderter Grundlagen
mit anderen Ergebnissen wiederholt.
4. Bei Finanzierungsberechnungen müssen Ältere und Junge gemeinsam betrachtet werden.
5. Bei Arbeitskräftedefizit und längerer Lebenserwartung wird sich auch das Renteneintrittsalter
erhöhen, ist ergo auch bei den Darstellungen zu berücksichtigen.
6. Der Produktivitätsfortschritt in 50 Jahren lässt uns auch weitere Lasten schultern.
7. Mit 2050 wurde bewusst oder unbewusst das dramatischste Jahr ausgewählt.
Prof. Dr. Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirik an der Fachhochschule Koblenz,
Standort Remagen.
Geboren 1953 in Euskirchen, hat er im Bereich Statistik an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Fakultät der Universität zu Köln promoviert.
Berufserfahrung sammelte er u.a. bei dem Statistischen Bundesamt (1988 bis 1991), dort vor allem
in der Bonner Beratungsstelle für Ministerien und Bundestag, und in der Abteilung Statistik der
Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.
Fragen und Anmerkungen bitte an bosbach@rheinahrcampus.de
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