-->Ein lesenswerter Beitrag von Dr. Robert Müntefering, der ganz genau in die hier immer wieder diskutierte Prognose-Problematik passt.
Über den Tag hinaus. Vom Verlust des Weitblicks
Vor dreissig Jahren las ich im Wochenmagazin"Die Zeit" eine Prognose über die Zukunft der Sowjetunion. Der Herrschaftsbereich des einstigen Monolithen reichte von der Elbe bis zum Stillen Ozean. Die Militärparaden zur Oktoberrevolution auf dem Roten Platz zu Moskau waren waffenstarrende Demonstrationen der Macht. Ich sehe noch heute die Fernsehbilder vor: Leonid Breshnew als lebende Statue, wie der steinerne Gast aus Mozarts Don Giovanni, umringt von ebenso unweglichen Gestalten des Politbüros und den ordensbehangenen Generälen, militärisch die im Stechschritt vorbeimarschiernde Phalanx grüßend. Die Welt war als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs seit einem Vierteljahrhundert in zwei rivalisiernde und sich gegenseitig belauernde Blöcke aufgeteilt. Als damals fünfundzwanzigjähriger Zeitgenosse stieß ich Anfang 1974 auf besagten Artikel in der"Zeit", den ich einige Jahre aufbewahren konnte, mir aber infolge mehrerer Umzüge verloren ging. Da wagte ein Journalist etwas, was sich heute die wenigsten seiner Kollegen trauen würden, nämlich eine Langzeitprognose. Er ging davon aus, daß der 1906 geborene Generalsekretär der KPdSU dieses Amt bis zu seinem Lebensende innehaben und daß mit ihm das gesamte Politbüro einem unaufhaltsamen Vergreisungsprozeß ausgesetzt sein dürfte. In zehn bis zwölf Jahren sei aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes mit seinem Ableben zu rechnen. Die Unbeweglichkeit und Starre des Systems werde ein oder zwei Nachfolger vom gleichen Schlage und im gleichen Greisenalter hervorbringen. Danach werde sich die Einsicht durchsetzen, daß man entschieden Jüngeren die Tür offnen müsse. Ein neuer Generalsekretär dann um die fünfzig Jahre werden frischen Wind in das stickige Staatsgebäude wehen lassen, die Annäherung an den Westen immer stärker werden, so daß man sich in den neunziger Jahren überhaupt fragen müsse, ob man überhaupt noch von einer Sowjetunion, so wie man sie heute kenne, reden könne. Was in diesem Artikel beschrieben wurde, war die Vorwegnahme einer Entwicklung, die 1985 mit Gorbatschow begann und 1991 mit der Auflösung des Sowjetimperiums endete.
Ein Artikel wie dieser scheint heute nicht mehr möglich. Der journalistische Weitblick, der die Bestandsaufnahme des Realen als Ausgangspunkt einer Schlußfolgerung für die Zukunft nimmt, war im Grunde schon damals nicht erwünscht. Man denke an Peter Scholl-Latours Prognose Ende der sechsziger Jahre, daß die Amerikaner den Vietnamkrieg verlieren werden. Diese Voraussage hätte ihm beinahe seinen Job gekostet. Der Journalist soll nur informieren, das dokumentieren, was augenscheinlich ist und ohnehin schon jeder weiß. Fakten, Fakten, Fakten. Die Verknüpfung der Fakten und ihre Verlängerung in die Zukunft gilt als unseriös, besonders dann, wenn die Schlußfolgerung sich später als richtig erwiesen hat.
Nehmen wir das dramatische Jahr 1989. Die großen Maidemonstrationen, die Fluchtwelle über Ungarn und zuletzt der Zustrom in die deutschen Botschaften von Prag und Budapest, alles überdeutliche Vorzeichen des nahenden Zusammenbruchs des SED-Regimes. Doch nach vierzig Jahren deutscher Zweistaatlichkeit konnte sich niemand vorstellen, daß das Unvermeidliche tatsächlich passieren würde, obwohl die Totenglocken immer lauter das Sterben der DDR einläuteten. Die Kommentare der Medien gaben in diesen Tagen nur das wieder, was unübersehbar war und sprachen von einer schweren Krise Ostberlins, die im Zusammenhang mit Gorbatschows neuer Glasnost- und Perestroikapolitik zu sehen sei. Doch niemand wisse, was am Ende dieser Entwicklung stehe. In fünf Jahren gibt es keine Sowjetunion mehr. Die Worte von Wolfgang Döbereiner in seinem Seminar im Schweizer Flumserberg 1988 klingen mir heute noch im Ohr und ich sehe heute noch die ratlosen Gesichter der Seminarteilnehmer vor mir. Und wie soll das gehen?, fragte mich abends eine ältere Dame in der Hotelbar. Und dann kam der 9. November. Medien und Politiker wurden von dem überrollt, was bereits seit einem halben Jahr überdeutlich und knisternd in der Luft lag, was ohne weiteres zu erschließen gewesen wäre, hätte man sich nur getraut, konsequent weiterzudenken. Mir scheint, daß es zum Weitblick weniger hellseherische Fähigkeiten braucht, sondern einfach nur Mut zur Folgerichtigkeit.
Warum kassiert Peter Scholl-Latour für seine politischen Prognosen ununterbrochen Schelte von Journalistenkollegen und Politikern? Weil er meistens richtig liegt! Würde er es wie seine Kritiker machen und sich im Rezitieren des rein Faktischen begnügen, hätte er zwar an Erkenntnissen nichts in die Welt gesetzt, eine Null-Fehlerquote riskiert, bliebe aber von Kritik verschont. In jeder Fahrschule lernt man vom ersten Tag des praktischen Fahrunterrichtes an, daß es für das unfallfreie Fahren von Vorteil ist, weit über die Kühlerhaube hinauszuschauen und intuitiv zu erfassen, was am Straßenhorizont sich auf den eigenen Wagen zubewegt. Mangelnder Weitblick kann dabei zu bösen Überraschungen führen.
Die Überfütterung mit Fakten führt zum gleichen Ergebnis wie die Informationslosigkeit, nämlich zur Blindheit gegenüber dem, was man eine Entwicklung nennt. Daß die heutige Medien- wie auch Politiklandschaft immer öder und nichtssagender wird, ist das Resultat einer jahrelangen Gleichschaltung. Es gibt nur eine zugelassene Sichtweise und das ist die Offzielle. Wer davon abweicht, muß damit rechnen, in seiner Existenz deutlich beschränkt zu werden.
Der Verlust des Weitblicks hat interessanterweise eine Inflation von Hellsehern, Schamanen sowie Engels- und Jenseitskontakter verursacht, die sich anschicken, das so entstandene Vakuum auszufüllen. Legionen von Lichtmeistern scheinen darauf zu warten, ihre Botschaften mittels Channeling einer orientierungslosen Menschheit zur Verfügung zu stellen. Diese Entwicklung scheint nicht verwunderlich, denn der Verlust des Glaubens führt als Ersatzreligion meist unmittelbar in den Aberglauben.
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