-->Hallo,
da bin ich doch eben auf einen Text gestossen, der in wenigen Zeilen ein beileibe nicht unwesentliches Problem so beinhart und schonungslos aufzeigt, dass man rufen möchte: Darf denn das wahr sein?
Liebe Leser, erschrecket nicht! Gilt auch für manche Schreiber hier: Das Bild, das hier gezeichnet wird, könnte teilweise auch das eigene Spiegelbild sein.
Take it easy. [img][/img]
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Zukunft Passiert:
Die beleidigte Gesellschaft
Derzeit können wir an Deutschland live studieren, wie sich"Sulking Societies", tief beleidigte Gesellschaften, entwickeln. Die Hartz-Hysterie hat das ganze Land erfasst. In jeder Talkshow hocken Männer, die zu Tode betrübt von tiefen Krisen murmeln. In jeder Kneipe läuft einem ein Irrer über den Weg, der mit glasigem Blick Injurien gegen"Die da Oben" schleudert. Auf einer Demonstration in Leipzig brandet frenetischer Applaus auf, als eine Frau vom Podium schreit:"Ich weiß nicht, wie ich im nächsten Monat meine Miete bezahlen soll!" Allerorts Opferkulte, Strafandrohung, Exitus der Maßstäbe, Grobheiten mit Grandios-Effekt. Anlass ist eine Reform, die aus in Staatstransfers Abgeschobenen wieder Menschen mit Arbeitschancen machen soll. Die in ähnlicher Form in allen europäischen Ländern längst vollzogen wurde - auch in Schweden, Dänemark, Holland.
Beleidigt sind auch die Rechtschreibenden. Mit ihren neuen Auguren aus Spiegel, Springer-Verlag und FAZ wagen sie den Aufstand gegen die"staatlich verordnete Legasthenie" der Rechtschreibreform. Einhunderttausend Zahnärzte, pensionierte Beamte, Studienräte, alle wütenden Leserbriefschreiber der Nation, die das ß von der Pike auf gelernt haben, können triumphieren. So inszeniert man in der neuen Mediokratie Kampagnen: Indem man beleidigte Politik veranstaltet. Den Skandal dann auflagensteigernd kommentiert. Und später lauthals den Mangel an ziviler Gesellschaft beklagt. Beleidigte Gesellschaften beziehen ihre schwarze Energie aus der Geschichte, in der sie mental stecken geblieben sind. Beleidigt sind die Ostdeutschen, weil sie sich um ihre Lebensleistung gebracht fühlen. Beleidigt ist das alte Bürgertum, weil es durch Globalisierung, kulturelle Modernisierung um seine Definitionsmacht gebracht wurde. Beleidigt können Ã-sterreicher sein, man hat sie um ihr Großreich betrogen. Aber man kann auch Gelassenheit lernen.
Das Problem ist: Es liegt unheimlich viel Anrecht im Beleidigt-sein. Es sind ja real erfahrene Verletzungen, die hier zum Vorschein kommen. Wer beleidigt ist, sieht die Wirklichkeit nur noch durch die schwarze Brille seines Status-Verlustes. Wer Kinder hat, weiß, dass sich das Gefühl schnell wieder auflösen kann. Aber wenn es sich zur Lebenshaltung verhärtet, wird ein Fluch daraus. Ein bekannter deutscher Psychologe formulierte einmal: Wir verletzen uns mehr durch unsere Kompensationssehnsüchte, mehr durch unseren fanatischen Willen zum Ausgleich für erlittene Schmach, als durch die Verletzung selbst. Aber Zukunft passiert trotzdem. Sie passiert in den vielen Ländern um uns herum. Länder, die ihre Schmerzaufgaben schon vor Jahren gemacht haben. Die gelassener auch durch Krisen steuern. Die völlig neu am Anfang stehen. Zukunft geschieht in den Schwellenländern, wo sich derzeit rasend schnell eine aufstrebende Schicht von Bürgern mit bescheidenem Wohlstand entwickelt - drei Milliarden Konsumenten auf dem Weg nach IKEA, Starbucks und GAP. Denn wir leben derzeit - warum merkt es keiner? - in einem weltwirtschaftlichen Boom ohnegleichen. Die Erniedrigten und Beleidigten anderer Kulturkreise krempeln die Arme hoch und wagen den Aufstieg. Zukunft ist nicht aufzuhalten, aller teutonischer Depressionstheatralik zum Trotz.
von Matthias Horx (Die Presse) 14.08.2004
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