von einem Abonnenten geschickt - danke.
Was heißt eigentlich dieses komische Zeichen"(c)" am Ende....? ;-)
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Analyse: Vorwärts in die Beamtendiktatur
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Die geplante EU-Reform greift tief in die Rechte der Wähler
und ihrer Parlamente ein. Doch die vorgesehene Ausweitung
der Macht der Ministerräte trifft auf massiven Widerstand.
Von Harald Schumann
Für Kanzler Gerhard Schröder hat das Ereignis"historische
Dimension". Präsident Jacques Chirac verteidigt vor allem
die"Gleichberechtigung" zwischen Deutschland und
Frankreich. Spaniens Premier José Maria Aznar will auch"zu
den Großen" gezählt werden und sein niederländischer
Kollege Wim Kok droht, die Rechte der kleinen Staaten"bis
zum bitteren Ende" zu verteidigen.
Mit einer wilden Kakophonie aus Soundbytes und Leerformeln
stimmen Westeuropas Regierungschefs ihre Wähler auf die
große Reform der Europäischen Union ein, die an diesem
Wochenende im Kongresszentrum von Nizza von den 15
Staatenlenkern und ihrem Beamtentross in Paragrafen und
Artikel gegossen werden soll. Entscheidungs- und
handlungsfähig soll die EU werden, folglich bedarf es einer
Reform des gesamten Gefüges der Machtverteilung in der
Union, das eben diese geforderte Effizienz bislang nicht
zulässt.
Doch merkwürdig: Das große Wortgeklingel zum"harten
Poker" um Einfluss und Macht (Außenminister Joschka
Fischer) steht im umgekehrten Verhältnis zur Beteiligung
der Wähler und Bürger an diesem Prozess. Während die
Gipfelstrategen mit Technokratenbegriffen wie
"Stimmengewichtung","qualifizierte Mehrheit" oder
"Kompetenzabgrenzung" jonglieren, wendet sich das Publikum
gelangweilt ab - gerade so, als ginge die meisten all das
nichts an.
Das ist ein gefährlicher Irrtum, aber durchaus im Sinne
der Akteure. Denn zur Debatte steht - wieder einmal - ein
tiefer Eingriff in die demokratischen Verfassungen der
Staaten der Union, mit dem die Rechte der Wähler und ihrer
Parlamente drastisch beschnitten werden sollen. Sollen
Staatsekretäre oder Minister allein, ohne gewählte
Parlamentarier, entscheiden dürfen, wie und bei wem Steuern
eingetrieben werden? Können Beamte und Experten in trauter
Runde und hinter verschlossenen Türen beschließen, welche
Jobs verschwinden müssen, weil Subventionen gestrichen
werden? Dürfen die Innenminister unter Ausschluss der
Ã-ffentlichkeit die Abhör- und Kontrollpraxis von Polizei
und Staatsanwälten EU-weit ausdehnen, ohne dafür die
Genehmigung des Parlaments einzuholen?
Anschlag auf die Demokratie
Diese und Dutzende weiterer Fragen, die unmittelbar den
Alltag der EU-Bürger betreffen, stehen in Nizza zur
Entscheidung an. Nichts anderes verbirgt sich hinter dem
Kernstück der angepeilten Reform: Der rigorosen Ausweitung
von Mehrheitsabstimmungen in den Ministerräten, mit denen
die Union nun handlungsfähig gemacht werden soll. Doch
genau über diese Dimension der Reform, die Ausweitung der
Machtfülle ihrer Beamtengremien gegen alle Prinzipien
demokratischer Gewaltenteilung, üben sich die sonst so
beredten Regierungschefs und ihre Außenminister in
peinlichem Schweigen.
Der Anschlag auf die Demokratie ist keineswegs neu. Von
Beginn an trug die damals noch so genannte Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft den Geburtsfehler, dass die
Regierungsapparate das exklusive Monopol auf die
Entscheidungsfindung haben. Das war 1957, bei Abschluss des
ersten EWG-Vertrags in Rom, kein Problem. Damals ging es
nur um die Koordination der Stahl- und Kohleproduktion
sowie die ausreichende Versorgung mit Lebensmittel. Doch
vier Jahrzehnte später, nun vereint in einem Binnenmarkt
von Lissabon bis Helsinki mit fast 400 Millionen Menschen,
gerät diese Konstruktion zum undemokratischen Monstrum.
Man stelle sich vor, in der Bundesrepublik würde nicht der
Bundestag, sondern der Bundesrat, also die Abgesandten der
Bundesländer, alle Gesetze beschließen. Die jeweiligen
Vertreter wären jedoch nicht an Weisungen ihrer
Länderparlamente gebunden. Zudem würden alle Verhandlungen
unter Ausschluss der Ã-ffentlichkeit stattfinden, zumeist
würde niemand erfahren, welche Position die einzelnen
Vertreter jeweils tatsächlich einnehmen. Zu allem Überfluss
würden außerdem die Beschlussvorlagen nicht in den
Länderverwaltungen oder -parlamenten geschrieben, sondern
von einer zentralen, mehrere tausend Beamte starken
Behörde, die keiner direkten parlamentarischen Kontrolle
unterliegt, dafür aber von einer ganzen Heerschar
Industrie-Lobbyisten regelmäßig beraten wird. Wohl nur ein
Zyniker würde einem solchen System das Etikett demokratisch
zugestehen. Doch genau so findet Woche für Woche
europäische Gesetzgebung statt.
Denn das zentrale Gesetzgebungsorgan der Union sind die
Ministerräte, zusammengesetzt aus den Ministerialbürokraten
der Mitgliedsländer und - meist nur formal - angeführt von
den nur zu oft ahnungslosen Ministern. Was als so harmlos
bezeichnete"Richtlinie" oder"Verordnung" diese Gremien
verlässt, ist bindendes europäisches Recht, unabhängig vom
Willen der nationalen Parlamente, denen nur die Umsetzung
in nationale Gesetze überlassen ist. De facto schreibt sich
so die Exekutive der Mitgliedsländer ihre Gesetze selbst,
unter Ausschluss der Ã-ffentlichkeit und mit stetig
wachsender Tendenz. Die Absurdität dieser Konstruktion ist
mit einem Satz beschrieben: Jeder Staat, der so verfasst
wäre wie die Europäische Union, könnte niemals Mitglied
dieser Union werden.
So fallen seit Jahren weitreichende Entscheidungen, deren
Folgen stets erst dann debattiert werden, wenn sie auf
nationaler Ebene die dortigen Parlamente erreicht haben.
Von der Liberalisierung der Strom- und Telekommärkte über
die Zulassung von Wanderarbeitern im Baugewerbe bis zum
Umgang mit BSE-verseuchtem Fleisch greifen die Brüsseler
Räte tief in den Lebensalltag der EU-Bürger ein, ohne dass
je ein Politiker um Mehrheiten dafür werben musste. Stets
geht der öffentlich geführte politische Streit nur noch um
die richtige Anpassung an den zuvor in Brüssel geschaffenen
Sachzwang.
Der gelähmte Koloss
Trotz der formalen Machtfülle hat das System bislang
gleichwohl einen gravierenden Mangel: Grundlegende
Entscheidungen, etwa über die Steuer- oder die
Sozialpolitik, können die Brüsseler Räte nur einstimmig
fällen. Volle 72 Politikbereiche sind bislang von der
Abstimmung mit"qualifizierter Mehrheit", also 71 Prozent
der Ratsstimmen, ausgeschlossen. Darum legt das Veto nur
einer Regierung stets die gesamte EU lahm und macht sie zu
einem gelähmten Koloss, ein Markt ohne Staat, dessen
Problemberg schneller wächst, als er abgetragen werden
kann. Hilflos stehen die Finanzminister vor der
Steuerflucht zu den die britischen Kanal- und
Karibikinseln. Ratlos stehen die Innenminister und ihre
Polizeiapparate der grenzüberschreitenden Kriminalität
gegenüber. Tatenlos muss die EU-Kommission dem
betrügerischen Diebstahl von Milliarden Steuergeldern aus
dem Agrar- und Strukturfonds zusehen, weil sie eben keine
gewählte Regierung mit Exekutivbefugnissen ist, sondern nur
eine abhängige Behörde.
Abhilfe, so versprechen Schröder, Chirac und Co, soll nun
in Nizza die Ausdehnung des Mehrheitsprinzips bei den
Ratsentscheidungen bringen. Nur vor diesem Hintergrund
sprechen Berlins Außenministeriale neuerdings von einem
Mehr an"demokratischer Legitimation", die nötig sei. Darum
ringen sie nun zäh um die Neuverteilung der Stimmen im Rat,
die bisher eher politisch gewichtetet sind und - unter
Beibehaltung des bisherigen Modus - regelmäßig zur
Überstimmung einer Bevölkerungsmehrheit durch eine
Minderheit führen könnte (siehe Artikel"Streit um die
Macht: Von Stimmen und Verstimmungen").
Doch die Hoffnung, auf diesem Wege die Brüsseler
Räteherrschaft effizienter zu gestalten, wird wohl nicht
aufgehen. Denn die Fortsetzung der Demokratie mit
Beamtenmitteln mobilisiert in allen beteiligten Staaten den
nationalen Abwehrreflex. Britanniens Premier Tony Blair
kann gar nicht zulassen, sich in Steuerfragen überstimmen
zu lassen, dann bräuchte der britische Premier"zur
nächsten Wahl gar nicht anzutreten", gestand auch Joschka
Fischer zu. Genauso tabu ist für Frankreich die
Außenhandelspolitik, mit der bislang Frankreichs Kultur-
und Finanzindustrie vor dem globalen Wettbewerb geschützt
wird. Die Bundesregierung muss bei der Aufnahme von
Flüchtlingen auf einem deutschen Vetorecht bestehen und
Spaniens Aznar muss Einspruch gegen eine drastische
Neuverteilung der Milliarden aus der Strukturförderung
erheben können, andernfalls droht ein Loch im Etat, das ihm
die Wähler übel nehmen würden.
Aber selbst wenn in Nizza der forcierte Aufbruch in die
Beamtendiktatur zunächst gelänge, der Vertrag würde
vermutlich niemals rechtskräftig. Denn mit aller Macht
tritt nun auch das Europaparlament gegen die Räte an. Weil
in"zentralen Bereichen der künftigen Europapolitik das
Mitentscheidungsrecht für das Parlament nicht einmal
vorgesehen ist", werde die Mehrheit der Straßburger
Abgeordneten vermutlich gegen den Vertrag von Nizza
stimmen, prophezeit der SPD-Abgeordnete Jo Leinen, einer
der beiden zuständigen Berichterstatter (siehe Artikel
"Interview:"Das Parlament wird sich wehren"").
Käme es dazu, so Leinen, würde die EU zwar in eine schwere
Krise geraten, aber das sei nur"produktiv". Nur so sei die
Europapolitik"vom Monopol der Regierungen zu
befreien".
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(C) SPIEGEL ONLINE - 07. Dezember 2000, 10:10
Den Artikel erreichen Sie im Internet unter der URL
http://www.spiegel.de/politik/europa/0,1518,106177,00.html
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Zum Thema:
Kontext: - Interview:"Das Parlament wird sich wehren"
http://www.spiegel.de/politik/europa/0,1518,106400,00.html
- Streit um die Macht: Von Stimmen und Verstimmungen
http://www.spiegel.de/politik/europa/0,1518,106172,00.html
Im Internet: - Das bisherige Verhandlungsergebnis der französischen Präsidenschaft
http://db.consilium.eu.int/cigdocs/DE/4810d.pdf
- Der Reformplan der EU-Kommission
http://europa.eu.int/comm/igc2000/offdoc/opin_igc_de.pdf
- Die Reformvorschläge des Europaparlaments
http://www.europarl.eu.int/igc2000/offdoc/pdf/repa50086_1de_de.pdf
- Die Ergebnisse der vorangegangenen EU-Gipfel
http://europa.eu.int/council/off/conclu/index.htm
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