-->Vandana Shiva ist ein schönes Beispiel wie man dem Diktat einer WTO die Stirn bietet und den Betroffenen wieder zur Freiheit verhilft. Es nützt nur wenig ein Problem zu erkennen und dann den Kopf in den Sand zu stecken.
Wehret den Anfängen.
Ich wünsche euch allen ein gesegnetes Jahr 2005,
Weisheit Gefahren zu erkennen
Kraft und Mut zu helfen
Liebe um zu begreifen was Glück und Wohlergehen bedeutet.
Artikel 7: Zeit-Fragen Nr.24 vom 21.6.2004
Tochter der Erde
Die Inderin Vandana Shiva kämpft für eine naturnahe Landwirtschaft
von Rainer Hörig
In sanftem Rhythmus schaukelt der Waggon über holprige Schienen. Ab und zu stösst die Lokomotive ein warnendes Hupsignal aus. Felder, Dörfer und Bauernhöfe fliegen am Fenster vorüber. Wir erkennen Wasserbüffel, die hoch mit Stroh beladene Karren ziehen, sehen Frauen in bunten Saris über die Erde gebeugt Weizenbüschel schneiden und freuen uns über eine Schar weisser Reiher, die einem pflügenden Bauern übers Feld folgt.
«Schauen Sie genau hin, dies ist der Reichtum meines Landes», erklärt meine Begleiterin, eine leicht ergraute, füllige Dame Anfang Fünfzig, mit der Klarheit und Überzeugung einer Hochschulprofessorin. «Im Gegensatz zu Europa spielt die Landwirtschaft hier in Indien eine führende Rolle: Sie hält 70% der Bevölkerung in Arbeit und Brot, und sie bestimmt viele Bereiche des öffentlichen Lebens.»
Vandana Shiva beeindruckt mich von der ersten Minute an. Ihre Rede ist flüssig und gestochen scharf, untermalt mit temperamentvollen, typisch indischen Gesten, die ihre Zuhörer in Bann ziehen. Dabei bleibt sie stets gelassen, erklärt selbst komplizierte Zusammenhänge mit einem Lächeln auf den Lippen. Vandana Shiva bezeichnet sich als Ã-ko-Aktivistin. In der indischen Szene ist sie ein Star, wenn auch ein nicht ganz unumstrittener. Sie erhielt zahlreiche indische und internationale Auszeichnungen, unter anderem den Alternativen Nobelpreis 1993 und den «Orden der Goldenen Arche» des niederländischen Königshauses. Vandana Shiva demonstriert gegen die Globalisierung, streitet für Kleinbauern in der dritten Welt, beschreibt und lehrt einen partnerschaftlichen Umgang mit der Natur. Einst studierte sie Quantenphysik in Indien und Kanada. Heute leitet sie drei Bürgerinitiativen, berät Politiker und Frauengruppen, arbeitet in nationalen und internationalen Kommissionen. Nach wochenlangen Vorbereitungen, vielen telefonischen Anfragen und E-Mails gelang es mir schliesslich, einen Termin für ein Interview zu vereinbaren - im Eisenbahnzug von Neu-Delhi nach Dehra Dun, einer Provinzstadt in den Vorbergen des Himalaja.
Monokultur und Bauernsterben
«Lassen Sie sich nicht von den idyllischen Bildern täuschen», rät Vandana Shiva, die zeitweise in die Rolle einer Fremdenführerin schlüpft. Unsere Bauern stecken tief in der Krise. Die Grüne Revolution, also die Einführung von Hochertragssorten, verbunden mit chemischer Düngung und Pestiziden, hat Indien zwar unabhängig von der Einfuhr von Nahrungsmitteln gemacht, aber sie fordert einen hohen Preis: Die Verdrängung traditioneller, an örtliche Verhältnisse angepass-ter Landbaumethoden, die mit der Natur und nicht gegen sie arbeiten.»
In letzter Zeit häuften sich Verzweiflungstaten von Kleinbauern, die hochgiftige Pestizide tränken, um sich das Leben zu nehmen, werfe ich ein. «Eine direkte Folge der industriellen Landwirtschaft und der Globalisierung», bestätigt Vandana Shiva. «Schauen Sie jetzt aus dem Fenster: meilenweit nichts als Zuckerrohrfelder. Diese riesigen Monokulturen sind nur mit massivem Einsatz von Chemikalien lebensfähig. Während aber deren Preise stetig steigen, sorgt die Globalisierung mit subventionierten Billigimporten dafür, dass die Erzeugerpreise einbrechen. Die Folge: Kleine Bauernhöfe geraten in einen Strudel der Verschuldung. Vielen Bauern erscheint Selbstmord als letzter Ausweg!»
Mit Leidenschaft und Wut klagt die ehemalige Wissenschafterin die grossen Agrarkonzerne Europas und der USA an, einen Krieg gegen die Bauern in den Ländern des Südens zu führen. Sie benutzten «Massenvernichtungswaffen» wie Herbizide, die beispielsweise im Vietnam-Krieg als Entlaubungsmittel «Agent Orange» eingesetzt wurden.
Mit lebensschädlichen Chemikalien und unfairen Handelsbedingungen pressten sie immer höhere Profite aus der Landwirtschaft des Südens. Nun versuchten sie mit Hilfe der Gentechnik die Bauern endgültig zu versklaven, etwa durch teures, genmanipuliertes Saatgut, das sterile Samen produziert, so dass die Bauern immer wieder neues Saatgut kaufen müssten (Terminator-Saatgut von Monsanto).
«Vor hundert Jahren zwang die britische Kolonialverwaltung indische Bauern, statt Nahrungsmitteln Indigo für die englische Textilindustrie anzubauen. Hungersnöte waren die Folge. Heute zwingen internationale Patentinhaber die Bauern, für ihre Konzernbilanz zu wirtschaften. Aber so wie Mahatma Gandhi die britischen Salzgesetze brach und mit eigener Hand aus dem Meer Salz gewann, so werden wir die Patentgesetze missachten und unser Saatgut selbst verwalten. Es ist unsere Pflicht, dieses Geschenk unserer Vorfahren und der Natur zu schützen, ausserdem brauchen wir es zum Leben!»
Rund 600 Millionen Menschen arbeiten in der indischen Landwirtschaft. Sie erwirtschaften immerhin ein Drittel des Bruttosozialproduktes. Auch auf die Industrie hat die Landwirtschaft grossen Einfluss. Wenn eine gute Ernte mehr Geld in die Kassen der Bauern spült, finden Industrieprodukte mehr Käufer. Sagt das Wetteramt einen reichhaltigen Monsun vorher, dann steigen die Aktienkurse.
Indien verfügt über einige der besten Böden der Welt. Seit Jahrtausenden entwickeln und verbessern indische Bauern eigene Techniken zur Bewässerung, zur Düngung und zum Pflanzenschutz, die den natürlichen und sozialen Bedingungen vor Ort angepasst sind. Die Mehrzahl indischer Höfe wirtschaftet in erster Linie für den Eigenverbrauch, meist nach traditionellen Methoden. Wer genug Land besitzt, baut darüber hinaus Getreide oder Gemüse für den Markt an. Der Staat erleichtert den Einstieg in die «moderne», das heisst kommerzielle, Landwirtschaft mit Subventionen für Strom zum Betrieb von Bewässerungspumpen, für chemischen Dünger und Pestizide.
Heute ist das Leben auf dem Lande im rasanten Wandel. Über das Satellitenfernsehen erreichen Werbespots selbst entlegene Dörfer, wecken neue Bedürfnisse. Mit der Integration in moderne Märkte verändern sich auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Anil Choudary von der Entwicklungsorganisation Peace berichtet aus den Dörfern Bihars und Uttar Pradeshs: «Gewöhnlich werden hier die Löhne in Naturalien ausgezahlt. Zum einen erhalten die Arbeiter während der Arbeitszeit eine Mahlzeit. Nach der Ernte gibt ihnen der Grundbesitzer einen Teil der Feldfrüchte sowie Geld aus dem Verkaufserlös. So wird der Lohnabfluss zeitlich gestreckt, und die Arbeiter brauchen sich während der Arbeit nicht um ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Aber seit fünf Jahren wird dieser Brauch durch die Gesetze des Marktes zerstört. Bald werden indische Landarbeiter nur noch Geld erhalten.»
Dank der Grünen Revolution wurde das ehemalige Hungerland Indien in der Nahrungsmittelproduktion weitgehend autark. In einigen Regionen gelangten viele Bauern zu Wohlstand. Heute ist Indien weltweit das führende Produktionsland von Zucker, Milch und Tee. Die staatlichen Lagerhäuser quellen mit Vorräten von rund 50 Millionen Tonnen Getreide über, erstmals kann Indien Weizen und Reis exportieren. Dennoch, Millionen Inderinnen und Inder können sich nicht regelmässig satt essen. Hunger ist nicht mehr ein Mangel an Nahrungsmitteln, sondern ein Problem fehlender Kaufkraft.
Schattenseiten der Grünen Revolution
Seit den siebziger Jahren treten die Schattenseiten der Grünen Revolution zutage: Die zunächst bewunderte Ertragssteigerung lässt sich nicht beliebig fortsetzen. Heute müssen die Bauern immer mehr Chemikalien einsetzen, um die Erträge wenigstens zu stabilisieren. Mittlerweile sind fast alle indischen Lebensmittel mit bedrohlich hohen Pestizid-rückständen belastet. Die permanente Bewässerung, verbunden mit massivem Chemieeinsatz, verdirbt die Böden. In der Provinz Punjab, Indiens Brotkorb, sind 180000 Hektar bester Ackerböden versumpft und daher unbrauchbar geworden. Mehr als 14 Millionen Menschen, unter ihnen viele Angehörige indigener Völker (in der Amtssprache Hindi: Adivasi), mussten in den vergangenen 50 Jahren dem Bau grosser Staudämme und Bewässerungsanlagen weichen. Für die meisten endete die Vertreibung im Slum einer Grossstadt.
1995 trat Indien der Welthandelsorganisation WTO bei, die den freien Welthandel propagiert. Ihren Statuten gemäss musste Indien im April 2001 seine Grenzen für Agrar-importe öffnen. Was dann geschah, schildert der Agrarjournalist Devinder Sharma an einem besonders drastischen Beispiel: «Noch im selben Jahr landete eine Schiffsladung Milchpulver aus Dänemark in einem indischen Hafen. Sie müssen wissen, Indien ist der Welt grösster Milchproduzent, hier liegen die Produktionskosten sehr niedrig. Trotzdem war das dänische Milchpulver mit 1400 US-Dollar pro Tonne um 16 Prozent preiswerter als indisches Milchpulver. Wie kann das sein? Ganz einfach, die Europäische Union zahlt eine Exportsubvention von 1000 Dollar pro Tonne Milchpulver. Das billige Zeug wurde in der Provinz Punjab vermarktet, mit dem Ergebnis, dass die Preise für Milch und für Milchvieh schlagartig fielen. Tausende von Bauern waren gezwungen, die Milchwirtschaft aufzugeben!»
Seit Jahren verschlechtern sich die Markt- und Produktionsbedingungen für Millionen von Bauern. Sie wehren sich, protestieren etwa gegen die Einfuhr billigen Palmöls aus Malaysia und Indonesien, das die Preise für indische Kokosnüsse ruiniert. Die Landflucht, die jedes Jahr Millionen Menschen in die Städte spült, könnte katastrophale Ausmasse annehmen, warnen Experten wie Devinder Sharma: «Wenn billige, subventionierte Importe unsere Märkte überschwemmen, dann könnte sich die Landflucht verfünffachen. Kaum vorstellbar, welche sozialen und wirtschaftlichen Krisen auf Indien zukommen!»
Saatgut-Patente und die Versklavung der Bauern
Mit der Globalisierung kommen auch neue Technologien ins Land, etwa genmanipuliertes Saatgut, auf das amerikanische Konzerne einen Patentanspruch erheben. Im vergangenen Jahr wurden erstmals in Indien Freilandversuche mit gentechnisch veränderter Baumwolle der US-Firma Monsanto durchgeführt - mit grossem Erfolg in Form höherer Erträge, so behauptet der Hersteller. Bauernverbände und Umweltschützer proklamieren dagegen, viele Bauern klagten über schlechte Ernten. Vandana Shiva bekommt beim Stichwort «Saatgut-Patente» funkelnde Augen: «Ich werde wütend, wenn Leute behaupten, sie hätten neues Leben erfunden. Was für ein Frevel! Das ist ein Attentat auf unseren Artenreichtum, denn wenn es nach den Konzernen ginge, würde unsere Landwirtschaft auf fünf, sechs Sorten reduziert. Schliesslich handelt es sich auch um ein Verbrechen gegen die Gerechtigkeit, denn diese Politik führt zur Versklavung der Bauern!
Das Patentgesetz besagt im Grunde folgendes: Wir haben ein Patent, okay? Du darfst also deine Samen nicht aussäen, ohne uns Gebühren zu zahlen, denn uns allein gehört dieses Zeug. Wenn du nicht gehorchst, werden wir dich ruinieren.»
Ich fühle mich an den Fall des kanadischen Bauern Percy Schmeiser erinnert, der die Firma Monsanto verklagte, weil sein Rapsfeld über den Wind mit genmanipuliertem Pollen kontaminiert worden war. Doch die Richter sahen den Fall ganz anders und verurteilten Schmeiser, weil patentgeschützte Pflanzen auf seinem Acker wuchsen, zur Zahlung von einer Lizenzgebühr und einer Strafe in Höhe von 130000 US-Dollar.
Ein Blick aus dem Fenster. Am Horizont erheben sich kleine Hügel, die ersten Vorboten des Himalaja-Massivs. Wir fahren jetzt durch dichten Dschungel mit wilden Mangobäumen, in denen Affen turnen. Ein Bahnbediensteter serviert Tee. Jeder Fahrgast erhält einen weissen Styroporbecher, zwei Teebeutel, eine Thermoskanne mit heissem Wasser sowie eine Handvoll kleiner Beutelchen mit Milchpulver und Zucker. Eine alltägliche Begebenheit, über die wir gewöhnlich keine Gedanken verlieren. Doch Vandana Shiva nimmt das Tee-Service zum Anlass für einen Diskurs über den vielgepriesenen freien Markt: «Sie leben schon länger in Indien, nicht wahr? Sicher werden Sie sich erinnern, wie früher der Tee in der Eisenbahn serviert wurde: Aus einer grossen Kanne goss der Kellner das fertig gebraute und gezuckerte Getränk in eine aus Ton gebrannte Tasse, die man nach Gebrauch völlig unbedenklich aus dem Fenster werfen konnte. Und nun sehen Sie sich das an: Berge von Abfall produzieren wir mit unserer Teepause - was für ein Wahnsinn! Tausende von dörflichen Töpfern haben ihre Arbeit verloren, weil ein findiger Unternehmer die Bosse der Eisenbahn überzeugt hat, dass Styroporbecher besser seien als Tontassen. Dieselben Mechanismen sind seit der Grünen Revolution in der Landwirtschaft am Werk - kommerzielles Saatgut verdrängt die einheimischen Sorten vom Markt. Das können wir doch nicht zulassen!»
Erfolgreicher Widerstand
Zum Beginn der neunziger Jahre erregte ein umfassendes Patent auf den Niem-Baum die indische Ã-ffentlichkeit. Der widerstandsfähige Baum ist in Indien beheimatet und wird von altersher in der Hausmedizin und zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt. Nun hatte die amerikanische Firma W. Grace für ein auf dem Niem-Extrakt basierenden Pestizid ein Patent erhalten. Bürgergruppen und Prominente drängten die indische Regierung, das Patent gerichtlich anzufechten. Dabei stand Vandana Shiva an vorderster Front. Sie war es schliesslich, die mit Unterstützung der Grünen im Europa-Parlament das Niem-Patent vor dem europäischen Patentamt anfocht und zu Fall brachte.
«Nachdem wir den Niem-Fall gewonnen hatten und dachten, wir könnten uns ein wenig ausruhen, kam die Nachricht, dass die texanische Firma Rice-Tech ein Patent auf Basmati-Reis beantragte, für den meine Heimat Dehra Dun berühmt ist. Diese amerikanische Firma behauptete, sie hätte die Pflanze erfunden, mit einer gewissen Höhe, mit fest definierten Grössen des Korns und mit seinem einzigartigen Aroma. Selbst die Art der Zubereitung wollten sich die Amerikaner patentieren lassen. Mein Gott - eines der ersten Dinge, die meine Mutter mir beibrachte, war das Kochen von Basmati-Reis. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Aroma nicht allein auf genetische Eigenschaften zurückzuführen ist, sondern im Zusammenspiel mit bestimmten Umweltbedingungen in den Tälern des Himalaja entsteht. In den Ebenen angebaut, entwickelt unsere Basmati-Saat längst nicht dasselbe Aroma. Und dann kommt eine amerikanische Firma auf die Idee und deklariert diesen Reis und dieses Aroma als ihre Erfindung! Uns blieb nichts anderes übrig, als uns wieder in den Kampf zu stürzen. Ich alarmierte die indische Regierung und reichte Klage beim Obersten Gerichtshof des Landes ein, startete eine internationale E-Mail-Protestkampagne. Ich reiste nach Texas und gewann viele Unterstützer. Wir marschierten zum Hauptquartier von Rice-Tech und machten unserem Protest Luft. Schliesslich musste das US-Patentamt das Rice-Tech-Patent widerrufen.»
Ich hake nach, möchte wissen, warum sie sich über amerikanische Patente echauffiert, die doch in Indien nicht gültig sind. Noch nicht, doch das sei nur eine Frage der Zeit, antwortet Vandana Shiva. Indien sei Mitglied der Welthandelsorganisation WTO, und in deren Gremien versuche die US-Regierung ihre Patentregeln dem Rest der Welt aufzuzwingen. Das Instrument dafür sei das 1995 verabschiedete «Abkommen zu handelsbezogenem geistigen Eigentum», bekannt unter der englischen Abkürzung Trips, das die Mitgliedsstaaten auf bestimmte Standards zum Schutz geistigen Eigentums verpflichte. «Wir drängen unsere Regierung, beim Trips Änderungen auszuhandeln, so dass amerikanisches Patentrecht nicht auch in Indien zur Anwendung kommt», erklärt Vandana Shiva.
Die Auseinandersetzungen über die Patente für Niem und Basmati, in denen Vandana Shiva und ihre Verbündeten mächtigen Konzernen empfindliche Niederlagen bereiteten, sind prominente Fälle von Biopiraterie. Sie beschäftigten weltweit Gerichte, Politiker, Wissenschafter. «Ich will Ihnen erklären, warum das nicht fair ist», fährt Vandana Shiva fort, «die Welt hat sich durch den Austausch biologischer Ressourcen entwickelt. Austausch setzt normalerweise ein Geben und Nehmen voraus. Wenn wir ein Geschenk entgegennehmen, fühlen wir uns dafür verantwortlich und behandeln es als etwas Wertvolles, das auch weitergegeben werden darf. Biopiraten aber nehmen Geschenke ohne zu fragen und verwandeln sie in ihr Monopol. Sie versuchen, den Brauch des Schenkens in eine Geldmaschine zu ihrem Vorteil zu verwandeln. Noch schlimmer: Das Fortführen des Brauches wird als strafbare Handlung betrachtet. Wer auf seinem Bauernhof Saatgut bewahrt, stiehlt geistiges Eigentum! Eine solche Art von Vermögensbildung ist doch wohl höchst verwerflich.»
Forschung zum Wohle der Menschen
Der Bahnhof von Dehra Dun, am Ziel unserer Reise, erinnert mich an die Schweiz: Das kleine Empfangsgebäude ist mit Fachwerk gebaut, die Luft ist klar, und die Menschen sind ein wenig zurückhaltender als in der Hauptstadt. Vandanas Bruder Kuldip Shiva begrüsst unsere kleine Gruppe und lotst uns durch die wartende Menge zu seinem Jeep. Bald fahren wir mit gemächlichem Tempo über enge, löcherige Strassen durch goldene Weizenfelder, durchqueren einen dörflichen Wochenmarkt, weichen Hühnern, Hunden, Büffeln und Ochsen aus. In der wolkenverhangenen Ferne erahnen wir die mächtige Fels- und Eisbarriere des höchsten Gebirges der Welt.
Vandana Shiva sieht uns staunen. Über das ganze Gesicht strahlend sagt sie, sichtlich stolz und glücklich: «Dies ist meine Heimat. In diesem Tal bin ich aufgewachsen. In jenen Bergen lernte ich die Frauen der Chipko-Bewegung kennen, die mein Leben veränderten. Aber beginnen wir lieber von vorn. Nach der Schulzeit hier in Dehra Dun studierte ich Physik und schrieb in Kanada meine Doktorarbeit über die Quantentheorie. Die Universität von Ontario bot mir eine Stelle an, aber ich wollte zurück nach Indien und nahm eine Berufung für ein interdisziplinäres Forschungsprojekt in Bangalore an. Während meiner Besuche zu Hause kam ich mit der Chipko-Bewegung in Berührung. Einfache Dorffrauen organisierten sich, um durch das Umarmen von Bäumen die Wälder in der Nähe ihrer Dörfer vor der Rodung zu bewahren. Ich unterstützte diese Frauen, wo ich nur konnte. Allmählich aber wurde mir klar, dass dies kein Ferienjob war, und ich musste mich entscheiden. Ich wählte die Frauen und meine Heimat und kehrte Bangalore den Rücken. Im Kuh-stall meiner Mutter begann ich 1982, mein eigenes Forschungsinstitut aufzubauen. Meine Wissenschaft ist nicht abgehoben vom Leben der Menschen, sondern eingebettet in Volksbewegungen und in ökologische Zusammenhänge.»
Shivas «Research Foundation for Science, Technology and Ecology» hat bahnbrechende Arbeit geleistet, hat etwa die ökologischen Schäden der Grünen Revolution dokumentiert, die wasserschädigende Wirkung von Weltbank-geförderten Eukalyptus-Plantagen nachgewiesen, das Freihandelsabkommen GATT analysiert. Die Arbeiten der Stifung liefern Grundlagen für Shivas zahlreiche Bücher und Artikel in alternativen Magazinen.
«1984 war für mich in vieler Hinsicht ein Schicksalsjahr», setzt Vandana Shiva ihre Erinnerungen fort. «Im Juni stürmte die indische Armee den Goldenen Tempel von Amritsar, das höchste Heiligtum der Sikhs, der wichtigsten Volksgruppe im Punjab. Dies war das Fanal für einen Extremismus, der eben dort einen Nährboden fand, wo die Grüne Revolution ihre grössten Erfolge erzielte. Diese Periode war für Indien sehr irritierend: Warum schlittert der wohlhabendste Bundesstaat in den Terrorismus? Wie kann eine Technologie wie die Grüne Revolution, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, zu Krieg führen? Diese Fragen waren zu schwerwiegend, als dass ich sie hätte ignorieren können.»
Die Grüne Revolution habe die traditionellen Sozialbeziehungen erschüttert und die sozialen Gegensätze in den Dörfern verschärft, meint Vandana Shiva. Wirtschaftliche Konflikte seien von Politikern religiös verbrämt worden. Die Religionsgemeinschaft der Sikhs radikalisierte sich und forderte einen eigenen Staat. Jugendliche Sikhs nahmen den bewaffneten Kampf gegen die Zentralmacht auf. Im Juni 1984 stürmte die indische Armee den goldenen Tempel in Amritsar, wo sich die Führung der Fundamentalisten verschanzt hatte. Der Tempel wurde halb zerstört, mehrere tausend Menschen fanden den Tod.
«Im selben Jahr litt Südindien unter einer Dürre. Aber der Niederschlag war völlig normal gewesen. Beim näheren Hinsehen entdeckte ich, dass es am Saatgut lag. Dürreresistente Feldfrüchte wie Hirse waren durch dürreanfällige wie Reis oder Zuckerrohr ersetzt worden. Und dann ereignete sich am 3. Dezember die Gaskatastrophe von Bhopal. 3000 Menschen starben in dieser Nacht. Bis heute sind 30000 Todesopfer zu beklagen. Etwa 30000 Tote hatte auch der Terrorismus im Punjab gefordert. Das heisst: 60000 Tote, verursacht durch eine Technologie, die doch Entwicklung und sozialen Frieden schaffen soll!
Ich begann, näher hinzusehen. Warum werden Menschen in der Landwirtschaft mit Chemikalien getötet? Es war nicht schwer herauszufinden, dass diese Chemikalien Massenvernichtungswaffen sind, die zum Töten entwickelt und nach Kriegsende auf die Landwirtschaft losgelassen wurden. Bhopal war kein Unfall, es war Teil eines Krieges! Manchmal, wie im Fall Bhopal, sind die Opfer sichtbar, weil das Desaster konzentriert auftritt. Aber die Tragödie entfaltet sich tagtäglich und überall, etwa wenn Bauern beim Hantieren mit Giften auf ihren Feldern zu Schaden kommen. Jeder von uns ist täglich beim Essen davon betroffen, denn es gibt heutzutage in Indien keine Lebensmittel, die nicht mit Gift belastet sind.»
In diesem Jahr beschloss Vandana Shiva, das Schwergewicht ihrer Arbeit auf die landwirtschaftliche Entwicklung zu verlagern und chemiefreie, bioorganische Landwirtschaft zu propagieren. Ihr Slogan: «Kein Bhopal mehr, pflanzt Niem-Bäume!» Wenige Jahre später wurde das Freihandelsabkommen GATT verabschiedet. Mit Protestaktionen gegen das weltweite Agro-Business und gegen Saatgutpatente wandte sich Vandana Shiva nun an eine internationale Ã-ffentlichkeit. Daheim in Dehra Dun rief sie die Organisation «Navdanya» (neun Samen) ins Leben, um traditionelles Saatgut vor dem Untergang zu bewahren.
Navdanya - Widerstand im Einklang mit der Natur
«Navdanya war meine Antwort auf das weltweite Freihandelsabkommen, auf WTO und Saatgut-Monopole. Navdanya steht für konstruktiven Widerstand. Konstruktiv, weil Navdanya Gegenmassnahmen wie das Bewahren von Saatgut und die Promotion organischer Landwirtschaft fördert. Widerstand, weil jeder Farmer, der bei Navdanya Mitglied wird, folgendes Gelöbnis ablegt: «Ich betrachte dieses Saatgut, das ich von Mutter Erde und unseren Ahnen geerbt habe, als Geschenk, das ich für kommende Generationen hüten muss. Ich bekenne mich zur Tradition des Teilens, durch die mir diese Samen anvertraut wurden. Ich gelobe, mich nie mit Gesetzen einverstanden zu erklären, die das Bewahren und den Austausch von Saatgut zur strafbaren Handlung erklären!»
Nach rund einstündiger Fahrt biegen wir von der Landstrasse ab und erreichen über einen ungepflasterten Feldweg die Navdanya-Farm, eines der bedeutendsten Zentren des biologisch-organischen Landbaus in Indien. Bedienstete und Assistenten eilen herbei und begrüssen ihre Chefin mit vor der Brust gefalteten Händen und einer leichten Verbeugung. Vandana Shiva gibt einige Instruktionen und bittet uns zum verspäteten Mittagessen in die Kantine. Dort steht indisches Stahlgeschirr bereit - grosse Teller mit hohem Rand, kleine Schüsselchen, Trinkbecher -, das wir am Buffet mit ungeschältem Reis, Linsencurry, mehreren Gemüsegerichten und Beilagen wie Fladenbrot, Joghurt und scharf eingelegten sauren Mangos füllen. Wir geniessen ein vollwertiges, vegetarisches Mahl, dessen Zusammenstellung auf der altindischen Heilkunde Ayurveda beruht.
Vandana Shiva lädt zur Besichtigung ihrer Farm, auf der Hunderte verschiedener Pflanzen gedeihen - Getreide, Hülsenfrüchte, Gemüse, Heilkräuter, Bodenbedecker und Leguminosen. Regenwürmer zerknabbern Ernteabfälle, Tierkot und andere Biomasse zu natürlichem Dünger. Kuhurin und das bittere Ã-l des Niembaumes halten schädliche Insekten in Schach. Vandana Shiva setzt sich ausdrücklich von «industriellen» Biobauern im Westen ab, die biologische Dünger und Spritzmittel zukaufen. Ihr Hof arbeite mit kompletten Naturkreisläufen und produziere alle Inputs selbst. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung sei organischer Landbau sehr profitabel: «Nach unseren Berechnungen kann ein hiesiger Bauer, der auf organisches Wirtschaften umstellt, eine Verdreifachung seines Einkommens erwarten. Die Produktionskosten sinken drastisch, weil er keine Chemikalien kaufen muss. Die Produktivität seiner Farm steigt, wenn man nicht nur die Hektarerträge, sondern alle Produkte, also auch Dünger und Biomasse, einrechnet. In einer Monokultur mag der Hektarertrag höher liegen, aber punkto Gesamtertrag ist die biologische Landwirtschaft sicher überlegen.» Shiva macht staatliche Subventionen für Chemie und Strom, die den Markt verzerren, dafür verantwortlich, dass der Biolandbau oft als wenig produktiv erscheint.
Wir erreichen ein im einheimischen Baustil errichtetes, mit Lehm verputztes Haus, vor dem Körbe mit roten Chilischoten, gelben Linsenkörnern und goldgelbem Weizen in der Sonne stehen. «Hier ist unsere Samenbank untergebracht, die mittlerweise rund 700 Sorten, darunter 250 verschiedene Reiszüchtungen, enthält», erklärt unsere Gastgeberin. «Darüber hinaus kooperieren wir mit etwa 20 ähnlichen Einrichtungen im ganzen Land. Schauen Sie, ein junger Künstler aus dem Süden hat die Lehmwände mit traditionellen Motiven des Warli-Volksstammes bemalt.» Wir blicken uns um: Zwischen Pflanzenornamenten und stilisierten Figuren stehen Schränke und Truhen voller Beutel und Körbe, alle mit einem weissen Schildchen gekennzeichnet. In einer Ecke lagern prall gefüllte Jutesäcke. Das Schatzhaus der Vandana Shiva!
Navdanya verfolgt drei Wege, um organische Landwirtschaft zu fördern. Neben der Samenbank, die einheimisches Saatgut sammelt und verleiht, trainiert das Institut Bauern im ökologischen Landbau. Schliesslich unterstützt das Institut mehrere hundert Mitglieder bei der Vermarktung ihrer Produkte. Auf dem von Touristen gerne besuchten Handwerksmarkt «Delhi Haat» in Neu Delhi betreibt Navdanya einen Laden, der bioorganische Lebensmittel anbietet. Das Navdanya-Büro in der Hauptstadt organisiert einen Zustelldienst für frisches Biogemüse aus dem Himalaja. Produzenten und Konsumenten sind als Mitglieder in Navdanya vereint, eine Kooperative im besten Sinne.
Den Selbstbestimmungswillen des Volkes stärken
«Wir orientieren uns am indischen Freiheitskampf gegen das Kolonialregime und an Mahatma Gandhi», fährt Vandana Shiva fort. «Gandhi hat nicht einfach nur Transparente hochgehalten und gegen das britische Imperium gewettert. Nein - er belebte die Tradition des häuslichen Spinnens wieder, und siehe da, das mächtige Kolonialreich bröckelte unter dem Selbstbestimmungswillen des indischen Volkes. Die Menschen erkannten, dass sie nicht so blöd sein und ausländische Kleidung tragen mussten. Sie entwickelten Stolz auf eigene Produkte wie das handgewebte Khadi und boykottierten ausländische Stoffe. Heute sind die organische Landwirtschaft und die Selbstverwaltung des Saatguts unsere Spinnräder! Damit befreien wir die Bauern von der Tyrannei der Agrarmultis.»
Durch gelbe Rapsfelder kehren wir zum Hauptgebäude zurück. Schon von weitem fällt mir ein etwas abseits stehender, nach allen Seiten offener Rundbau auf, unter dessen Strohdach zwei Dutzend Bauern sitzen und einem Vortrag lauschen. Auf Nachfrage erklärt Vandana Shiva, sie habe hier ein College eingerichtet, das regelmässig Kurse über organischen Landbau anbietet. Eine Gruppe von Bauern, unter ihnen auch Gäste aus Afrika und den USA, informiere sich heute über die Kompostierung mit Hilfe von Regenwürmerkulturen.
«Bijaa Vidyapeeth» - Samen-College nennt Vandana Shiva ihr drittes Projekt. Nach dem Vorbild des von ihrem Freund Satish Kumar geleiteten Schumacher-College in Grossbritannien will sie damit zur gesellschaftlichen Erneuerung beitragen. «Die Gesellschaft hat eine Neuorientierung nötig, damit sie die Basis eines sinnvollen Lebens wiederfinden kann. Heutzutage richtet sich alles nach dem Geld, nicht danach, wie die Menschen ein friedvolleres, ganzheitlicheres und zufriedeneres Leben führen können. Das ist es doch, wonach wir alle hungern!»
Die Lehrgänge des College umfassten auch praktische Tätigkeiten in der Land- und Forstwirtschaft. International renommierte Wissenschafter und Aktivisten hielten Gastvorlesungen. So wolle das College die Menschen näher an die Realitäten des Lebens führen und ein neues Weltenbürgerbewusstsein vermitteln, das auf Ã-kologie, Gerechtigkeit und Frieden basiert.
«Wenn Sie jeden Tag an der Börse wetten und einen Hundertdollarschein in eine Million verwandeln können, beginnen Sie ernsthaft zu glauben, Wachstum fände im globalen Kasino statt. Arbeiten Sie jedoch auf einem Bauernhof, dann wissen Sie, dass Wachstum aus harter Arbeit, aus der Kraft der Samen, aus Bodenfruchtbarkeit und Wasserzufuhr entsteht. Sie erkennen ebenfalls, dass dem Wachstum Grenzen gesetzt sind und würden kaum der Illusion eines grenzenlosen Wachstums verfallen.
Die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat den indischen Frauen die Verantwortung für das Leben übertragen, die Männer dagegen in lebensfremde Positionen abgeschoben, in Plantagen und Bergwerke, in die Aktienmärkte. Das hat dazu geführt, dass Frauen die meisten ökologischen Bewegungen in Indien anführen. Nicht, dass sie biologisch dafür bestimmt sind, aber auf Grund ihrer politischen und sozialen Marginalisierung sind sie hier im Vorteil. Frauen denken anders. Sie berücksichtigen den Wald, den Baum, den Samen, den Fluss, anders als geldgierige Unternehmer, die nur Staudämme und Kanäle wahrnehmen. Diese Frauen müssen 10 Meilen laufen, um Trinkwasser zu besorgen. Sie sind es, die die Hauptlast der Umweltzerstörung tragen müssen. Daher stehen Frauen in vielen ökologischen Auseinandersetzungen an vorderster Front, sei es in der Chipko-Bewegung, beim Kampf um Wasserrechte oder im Kampf gegen die kommerzielle Krabbenzucht an der Küste. Wer demonstriert auch heute noch, 19 Jahre nach der Katastrophe in Bhopal für die Rechte der Opfer? Die Frauen!»
Es ist Abend geworden. Die Sonne versinkt langsam hinter den Bergen. Vandana Shiva begleitet mich zurück zum Wagen. Ich frage die Unverheiratete zum Abschied nach ihrem Privatleben. «Das findet schlicht und einfach nicht statt», kommt die Antwort ohne Zögern. «Ich versuche, meine Zeit zu je einem Drittel meinen Projekten wie Navdanya, der nationalen Kampagnenarbeit sowie internationalen Aktivitäten zu widmen. Für mich selbst bleibt da einfach keine Zeit mehr übrig. Darüber bin ich aber gar nicht traurig, denn alles, was ich öffentlich unternehme, ist gleichzeitig auch privat! Wenn ich einmal 60 werde und hoffentlich erreicht habe, dass Bauern ihr Saatgut bewahren können, dann werde ich mich wieder der Quantenphysik widmen.»
Quelle: Dieser Artikel ist erschienen in der Zeitschrift"Natürlich" Nr. 3, 2004: www.natuerlich-online.ch
Siehe auch:
Vandana Shiva, Biopiraterie - Kolonialismus des 21. Jahrhunderts, Münster 2002, ISBN 3-89771-416-7
www.vshiva.net
www.navdanya.org
www.bijavidyapeeth.org
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