Börsenfieber
Ein modernes Märchen. Von Klaus Britting
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Es war um die Jahrtausendwende, als immer mehr Menschen die
Aktienkurse verfolgten. Und weil sie hörten, daß man mit Aktien
praktisch im Schlaf viel Geld verdienen könne, kauften sie auch
Aktien. Und immer mehr Menschen hörten dies, kauften sich Computer und
Börsensoftware, lasen Börsenzeitschriften und gingen ins Internet, um
gleich online direkt bei ihrer Bank zu ordern. Und so stiegen die
Aktienkurse unaufhaltsam.
Und meinte jemand vorsichtig, daß diese oder jene Aktie vielleicht
überteuert sei, weil der Börsenwert des Unternehmens inzwischen beim
Zweihundertfachen, ja sogar beim Tausendfachen des Gewinns liege, so
wurde ihm von Leuten, die sich Analysten nennen, umgehend bedeutet,
daß er keine Ahnung habe. Schließlich handle es sich um Zukunftsmärkte
mit ungeahnten Möglichkeiten. Und hier müsse man beim
Kurs-/Gewinnverhältnis bitte schon ein bißchen weiter in die Zukunft
blicken. Als schließlich die BLIND-Zeitung, die ansonsten glücklich
war, wenn es ihr gelang, Microsoft von Zewasoft zu unterscheiden,
immer häufiger von jungen Börsenmillionären in ihren prächtigen Villen
berichtete, stürmten die kleinen Leute die Banken und baten die
Angestellten händeringend, doch einen großen Teil ihrer Ersparnisse
sofort in Aktien anzulegen, weil sie auch so reich werden wollten.
Erfahrene Banker, die in ihrem Leben mehrere Crashs erlebt hatten,
sprachen untereinander grinsend von der sogenannten
Dienstmädchenhausse, hüteten sich aber, dies öffentlich kundzutun.
Verständlich.
Es geschah praktisch über Nacht. Der amerikanische Notenbankpräsident
erlitt während einer wichtigen Rede einen Hustenanfall, weil er vorher
unvorsichtigerweise drei Stück Diätzwieback gegessen hatte. Ein dabei
ausgestoßenes Wortfragment wurde von niemandem verstanden, deshalb als
sehr negativ für den Markt betrachtet, worauf der Dow Jones innerhalb
von 90 Minuten 420 Punkte verlor. Am folgenden Tag brachen zunächst
die asiatischen, dann die europäischen Börsen im Schnitt um sechs
Prozent ein. Das führte an der Wall Street zu einem weiteren Rückgang
von acht Prozent, worauf die Asiaten mit einem Minus von neun bis
zwölf Prozent konterten. Das ließ den DAX nicht ruhen, er stürzte um
zehn Prozent. Der Down Jones in New York ließ sich nicht lumpen und
gab weitere sechs Prozent nach, worauf der DAX am nächsten Morgen
schon in der ersten Stunde sieben Prozent verlor. Und in den folgenden
Wochen fielen die Kurse immer mehr.
Nun meldeten sich die Analysten zurück, wiesen auf die exorbitant
gestiegenen Kurse hin und meinten, der Rückgang sei natürlich
vorhersehbar gewesen, man müsse mit weiteren Verlusten in der nächsten
Zeit rechnen. Die Kurs- /Gewinnverhältnisse vieler Aktien seien
geradezu abenteuerlich hoch gewesen. Das hätte man nun wirklich klar
sehen können. Die Hausfrauen und die jungen Zocker, die in ihrem Leben
nie einen Börsencrash erlebt hatten, bekamen zittrige Hände und
versuchten in immer größerem Ausmaß zu retten, was zu retten war. Und
die Kurse sanken und sanken, bis einige Aktien, vor allem jene, deren
Besitz als besonders cool galt, bis zu 90 Prozent ihres Höchstwertes
verloren hatten. Da weinten viele kleine Anleger und schworen sich,
nie wieder mit Aktien zu spekulieren.
Als die Kurse ganz unten waren, stiegen die Banken wieder ein, auch
mit ihren Fonds. Und die Aktien begannen zu steigen und zu steigen.
Dann gaben die Anaylsten in großer Zahl Empfehlungen für Aktienkäufe
und meinten, daß man so billig nie wieder kaufen könne. Und die Kurse
gingen hoch und immer höher und die Analysten empfahlen, weiter
einzusteigen. Und alle, die sich geschworen hatten, nie wieder mit
Aktien zu spekulieren, kauften wieder. Und wenn sie nicht gestorben
sind, werden sie es immer wieder tun.
Ahoi!
J.
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