-->Den Teufelskreis der Angst durchbrechen
Versucht man, das Auf und Ab der Weltwirtschaft in den letzten Jahren zu verstehen, wird man an das Krankheitsmuster einer manischen Depression erinnert. Auf die Euphorie und die Übertreibungen der späten neunziger Jahre folgte der Kater des Absturzes der New Economy. Er wurde massiv verschärft durch die Anschläge vom 11. September 2001. Von ihnen hat sich die Stimmung in den USA, und fast noch mehr in Europa, nie ganz erholt. Geprägt ist sie, obwohl der Begriff von Ã-konomen gerne verdrängt wird, durch Angst. Auf Sören Kierkegaard geht die häufige Unterscheidung zwischen Angst und Furcht zurück. Angst ist nach ihm ein diffuses Gefühl des Bedroht- und Verlorenseins. Furcht richtet sich dagegen auf eine spezifische, identifizierbare Gefahr. Wer sich fürchtet, weiss, wie Guy Kirsch in dem von ihm herausgegebenen Buch «Angst vor Gefahren oder Gefahren durch Angst?» (Verlag NZZ, 2005) schreibt, wogegen er kämpfen oder wovor er sich in Sicherheit bringen soll. Angst dagegen mündet eher in Kopflosigkeit oder Lähmung.
Die unterschwellige Angst, die heute Gesellschaften und Volkswirtschaften prägt, hat verschiedenste Quellen. Die offenkundigste ist die terroristische Bedrohung. Sie scheint, wie der menschenverachtende Anschlag von London wieder gezeigt hat, allgegenwärtig zu sein. Der Versuch, Ross und Reiter klar zu benennen, die al-Kaida oder den Irak verantwortlich zu machen, ist nichts anderes als der Versuch, dieses undifferenzierte Gefühl der Angst in das fokussierte Gefühl der Furcht umzuwandeln. Doch selbst wenn nach Anschlägen die Täter eruiert oder gar dingfest gemacht werden, bleibt immer etwas von der Angst zurück - von der Angst, es könnten andere anderswo wieder zuschlagen. Diese Angst ist nicht vordergründig, sie ist subkutan, aber sie lebt - und lähmt.
Leider ist die Angst vor dem Terrorismus auch nicht die einzige kollektive Angst, die auf den Industriestaaten lastet. In den meisten Ländern Westeuropas geht seit langem die Angst vor der Arbeitslosigkeit um. Auch sie ist diffus. Nicht jeder oder jede bangt konkret um den eigenen Arbeitsplatz. Doch die lange Dauer der Bedrohung hat nicht etwa zur Gewöhnung geführt, sondern dazu, dass immer mehr Menschen damit rechnen, es könnte auch sie oder ihr Umfeld einmal treffen. Von besonderer gesellschaftlicher Sprengkraft ist dabei die hartnäckige Jugendarbeitslosigkeit, die bei den Schul- und Studienabgängern die Angst nährt, keine Arbeit zu finden, lange auf eine Stelle warten und sich dann mit zweit- und drittbesten Lösungen zufrieden geben zu müssen.
Dumpfe Angst herrscht ferner in der Altersvorsorge. Die meisten ahnen, dass die soziale Sicherung alles andere als sicher ist. Selbst in der Schweiz mit ihrem relativ vorbildlichen Drei-Säulen-System glaubt beispielsweise kaum ein Arbeitnehmer unter vierzig, dass er einmal jene AHV-Rente erhalten wird, die ihm heute versprochen ist. Die Checks sind zu einem rechten Teil ungedeckt, die Kassen leer. Das sehen alle - doch so richtig wahrhaben wollen sie es nicht. Diese Vogel-Strauss-Politik hat mit Angst zu tun: «So wahr es ist, dass die Erfindung des Sozialstaates eine der grossen Möglichkeiten ist, den Menschen die Existenzangst zu nehmen, so richtig ist auch, dass Einschnitte in das soziale Netz Existenzangst wieder aufleben lassen» (Klaus Mackscheidt).
Angst ist in vielfacher Hinsicht Gift für eine offene Gesellschaft. Sie lähmt, erstens, die Konjunktur, indem sie unter anderem zu dem führt, was man als Angstsparen bezeichnet, und indem sie die Investitionslust dämpft. Angst führt, zweitens, oft zu Panikreaktionen, vor allem an den Finanzmärkten. Im Fachjargon ist dann von hoher Volatilität die Rede: Kleinste Veränderungen und für sich genommen keineswegs weltbewegende Informationen lösen kräftigste Kursausschläge aus. Zurzeit wirken die Märkte zwar robuster als auch schon, aber die Erfahrung der letzten Jahre bleibt, dass auf Meldungen über Unregelmässigkeiten, einen schlechteren Geschäftsgang oder konjunkturelle Trübungen oft überreagiert wird.
Eine häufige Reaktion auf Angst ist, drittens, der Glaube, ihr mit kraftvoller Regulierung beikommen zu können. Die Übertreibungen der Corporate-Governance-Bewegung oder der Sarbanes-Oxley Act sind Versuche, dem durch Fehlentwicklungen aller Art entstandenen Unwohlsein mit der «Sicherheit» staatlicher Korsette zu begegnen. Selten finden die Regulatoren dabei das richtige Mass. Verwandt damit ist schliesslich, viertens, dass Angst oft zum Festhalten an dem, was man hat, und nicht, wie man hoffen könnte, zu Reformfreudigkeit führt. Wer nicht an die Zukunft glaubt, nimmt lieber schleichende Wohlstandsverluste in Kauf, als dass er das Risiko des Strukturwandels eingeht. Erst recht gilt dies, wenn es ihm ohnehin ziemlich gut geht. Dass auch langsames Abgleiten irgendwann im Absturz endet, wird in der Regel zu spät realisiert.
Obwohl Angst eine natürliche Reaktion auf diffuse Gefahren ist, darf man sich von ihr nicht leiten lassen. Gefragt sind vielmehr die urliberalen Eigenschaften Elan und Optimismus. Wie aber lässt sich Angst eindämmen, ja überwinden? Angst hat viel mit Vertrauensverlust zu tun; sie findet dort kaum Nährboden, wo Vertrauen herrscht. Doch fast alle Führungsschichten haben dieses Vertrauen in den letzten Jahren verspielt - oft wegen einiger schwarzer Schafe. In der Weltpolitik hat es George W. Bush nie geschafft, über Teile des eigenen Landes hinaus Vertrauen zu gewinnen. In der Wirtschaftspolitik haben Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, die Brüchigkeit der sozialen Sicherung und der offenkundige Mangel an Selbstdisziplin (Stichwort: Maastricht) in der europäischen Bevölkerung das Vertrauen in Kompetenz und Charakter der Machthabenden in beunruhigendem Masse zerstört.
Vorkommnisse wie jene im Volkswagen- Konzern oder die Stützung von Jürgen Schrempp bei Daimler-Chrysler ausgerechnet durch die Arbeitnehmerseite haben ferner die Glaubwürdigkeit von Gewerkschaftern und Betriebsräten untergraben. Die Führungskräfte der Wirtschaft sind ohnehin durch Bilanzskandale, Debatten über ihre Entschädigung sowie unkluges und ungeschicktes Gebaren diskreditiert worden. Und selbst Kirche und Kultur bieten oft nicht jene moralische Führung, die man von ihnen erwarten könnte. Zu sehr haben sie sich im Allzumenschlichen verstrickt. Der für laizistische Gesellschaften irritierende Zulauf zum Begräbnis von Papst Johannes Paul II. war insofern wohl weniger Ausdruck der Glaubwürdigkeit einer Institution als vielmehr Zeichen des Hungers nach Orientierung. Vertrauen ist leicht zerstört, wird aber nur mühsam wieder aufgebaut. Die meisten Politiker scheinen immer noch zu glauben, man könne die Angst überwinden, indem man dem Volk Sand in die Augen streut. Sie versuchen es mit Entdramatisieren, Beschönigen und Gesundbeten. Doch diese Strategie ist kontraproduktiv. Nachhaltig ist nur der Aufbau von Vertrauen mittels Realismus, Ehrlichkeit und Mut. Es braucht den Realismus, die Bruchstellen, die Gefahren, die Risiken klar zu erkennen. Es braucht die Ehrlichkeit, die Diagnosen schonungslos und ungeschminkt zu kommunizieren. Und es braucht schliesslich den Mut, das Notwendige zu tun, obwohl es in der Regel zunächst unpopulär ist. Nur auf dieser Basis kann es gelingen, den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen und nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Dynamik und Offenheit zurückzugewinnen.
G. S.
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