-->Da schreibe ich wie wild meinen übliche Stuss, ziehe mich danach, bei dem augenblicklichen Sauwetter hier in Berlin, in meine Bärenhöhle zurück, mit einem Kriminalroman von dem schwedischen Schriftsteller Ake Edwardson, sehr zu empfehlen, lege eine CD von Chick Corea auf, da fällt mir doch auf einmal siedendheiß ein Artikel aus meiner Datenbank ein, einer der sich mit Krankheit und Jugend befasst. Wenn du dich noch zu den Jüngeren zählst, dann möchte ich dir den, einfach nur so, ans Herz legen wollen, viel Spass an der Freude dabei:
Hinfällige Jugend
http://nzz.ch/2004/06/16/fe/page-article9O0GI.html
16. Juni 2004, 02:11, Neue Zürcher Zeitung
Zweierlei Lebenserwartung für Alt und Jung?
Schon Kinder haben Alterskrankheiten. Die heutigen Jugendlichen könnten zur ersten Generation werden, die vor ihren Eltern stirbt. Zum Krieg der Generationen taugen diese Kombattanten nicht.
Und die gängige Idee, Wohlstandsbürger würden immer älter, könnte sich als Fehlinterpretation einer historischen Ausnahmesituation erweisen.
Ein Satz für Extremisten der Existenz: «Live fast, die young» - das passte auf James Dean, Janis Joplin, Sid Vicious, Kurt Cobain. Lauter Idole der Jugendkultur, deren früher Tod ihren Nimbus nur steigerte. Heute ist ihr Vorbild ausser Kurs geraten. Selbst die potenziellen Nachfolger wollen nichts mehr davon wissen.
Courtney Love oder Madonna, die einst wirkten, als frönten auch sie dem Ideal eines rasch verglühenden Daseins, haben sich längst anders besonnen, so konservativ und gesundheitsbewusst, wie sie mittlerweile sind. Für eine rapid wachsende Anzahl von Jugendlichen indessen gilt eine neue triste Variante jener Maxime: «Eat fast (food), die young.» 160 000 Schüler im Alter von elf bis fünfzehn Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation in Europa, Kanada und den USA auf ihre Lebensgewohnheiten hin befragt. Mit dem Ergebnis: Sie haben zu wenig Bewegung, ernähren sich schlecht, rauchen und trinken zu früh und zu viel.
Achtjährige mit Altersdiabetes
Es könnte die erste Generation werden, die vor ihren Eltern stirbt. In Deutschland sind nach offiziellen Angaben inzwischen jeder dritte Jugendliche und jedes fünfte Kind übergewichtig; der Anteil der Fettleibigen hat sich seit 1975 verdoppelt. Beim Tabakkonsum steht der deutsche Nachwuchs europaweit an der Spitze. Schon vor Bekanntwerden der Erhebung der WHO gab es Alarmrufe von Ärzten, weil sie bei Kindern Erkrankungen diagnostizieren, die man in diesem Alter noch gar nicht haben dürfte, verschlissene Gelenke zum Beispiel. Bereits Achtjährige leiden heutzutage unter dem Diabetes Typ II, einer Zuckerkrankheit, die eigentlich erst bei betagten Patienten auftritt. Gebrechliche Sprösslinge hier, vitale Greise dort. Die Überalterung der Wohlstandsgesellschaft ist ein grosses Thema geworden. Dass ein jeder möglichst lange leben will, galt schon immer als selbstverständlich. Im 21. Jahrhundert scheinen Wohlleben und medizinischer Fortschritt die Methusalem-Träume endlich zu verwirklichen. Während aus Japan die Meldung kommt, es gebe dort heuer zweimal so viel Hundertjährige wie noch vor fünf Jahren, wartet das Statistische Bundesamt zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland mit der Prognose einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung auf. Sie soll im Jahre 2050 für beide Geschlechter bei deutlich über achtzig Jahren liegen.
Aber was besagt das schon für die Profiteure des Wandels. Gemeinhin suggeriert die Kunde von steigender Lebenserwartung eine verlängerte Lebenszeit für alle. Und selbst wenn man weiss, dass statistischer Mittelwert und tatsächliche Lebensdauer zweierlei sind, so bleibt doch die Suggestion einer allgemeinen Lebensverlängerung: Zumindest die Chancen, älter zu werden, scheinen für jedermann zu steigen. Ein irriger Egalitarismus, wie aus den schlechten Nachrichten der WHO hervorgeht. Für Kinder mit angeschlagener Gesundheit sinken die Chancen. Ob jene Bevölkerungsstatistiker, die jetzt über das Jahr 2050 spekulieren, die vielen Gebrechen des Nachwuchses überhaupt schon auf der Rechnung haben? Wohl kaum. So wären denn nicht nur populäre Illusionen, sondern auch wissenschaftliche Statistiken zu korrigieren.
Die Korrekturen könnten dazu taugen, einige bevölkerungspolitische Szenarien sowohl zu verschärfen wie zu relativieren. Verschärft stellt sich das Drama der Überalterung dar. Wenn viele junge Menschen schon jetzt an Altersleiden kranken - muss man dann nicht die bisher auf Senioren fixierte Vision einer vergreisenden Gesellschaft um hinfällige Junioren erweitern? Den Sozialstaat und seine Pflegeeinrichtungen bedroht eine Kostenlawine, die alle früheren Schätzungen in den Schatten stellt. Auch scheint es, als hätten die Alten künftig kaum noch junge Schultern, auf die sie sich stützen könnten, denn diese Jungen werden mit ihren eigenen Zipperlein beschäftigt sein. Das von Frank Schirrmacher propagierte «Methusalem-Komplott» brauchten die Alten demnach weniger zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins als zur Ausbildung von Netzwerken gegenseitiger Hilfe. In einer Gesellschaft, die ihre Kinder vorzeitig beerdigen muss, wären sie mehr als je zuvor allein unter ihresgleichen.
Andererseits, und dies beträfe die Relativierung eines Schreckensszenarios, muss der düster beschworene Krieg der Generationen wohl ausfallen.
Die ungelenke und zuckerkranke Jugend taugt nicht zum Kombattanten. Übergewichtig, wie sie ist, kann sie die Alten nicht einmal mehr mit Körperidealen beschämen. «Wir sind faltig, ihr seid fett», werden die Alten kontern - und sich dann wieder ihren Übungen in den Fitnessstudios widmen, wo viele von ihnen schon jetzt zur Stammkundschaft zählen. Für eine raubtierhafte Attacke der Jungen auf die Besitzstände und Identitäten der Grauköpfe fehlen einstweilen die Anzeichen. Stattdessen vermehren sich nun auch nördlich der Alpen die «Mammoni», wie jene italienischen Muttersöhnchen und -töchterchen heissen, die auch als Erwachsene partout bei den Eltern wohnen bleiben.
Es ist nicht ganz einfach, die besorgniserregenden Befunde der WHO mit der Zukunftsmusik biowissenschaftlich argumentierender Demographen zu einer schlüssigen Vision zu verquirlen. Die einen erklären schlecht ernährte Jugendliche zu Frühsterblichen, die anderen propagieren eine weitere Vermehrung der über Hundertjährigen. Beides kann stimmen - nur eben für verschiedene Gruppen. Wie bei der Bildungsstudie PISA stehen auch hier wieder Kinder aus sozial schwachen und Migrantenfamilien auf der Verliererseite. Die Scheidelinie zwischen unterschiedlichen Lebensspannen wäre demnach sozioökonomisch bestimmt und nicht etwa durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Generationen. Junge stürben nicht deswegen früher, weil sie ausgerechnet heutzutage jung sind, sondern weil sie arm, missachtet, deklassiert und verwahrlost aufwachsen.
Glückskinder der Geschichte
Was aber, wenn die Zeitgenossenschaft als solche doch eine Rolle spielte? Wenn es, trotz jenen bevorzugten Kindern, die jetzt mit einer vielleicht sogar nochmals gesteigerten Lebenserwartung antreten, einen generellen Nachteil der jüngeren Generation gegenüber der älteren gäbe? Ein heute Vierzig- oder Fünfzigjähriger hätte Anlass, die Nachgeborenen zu bedauern. Er könnte ihnen sagen: Wir hatten eine begünstigte Jugend. Bewegung bekamen wir genug, denn die Strasse gehörte noch uns, nicht wie heute den Autos, und wir streunten frei herum. Der flexible Kapitalismus war noch nicht erfunden, die Arbeitszeiten der Eltern waren berechenbar, die Mahlzeiten regelmässig. Die Politik liess Schulen und Badeanstalten noch nicht verkommen. Fernsehprogramme, die uns zu Stubenhockern hätten machen können, waren noch kein Problem. Mangel und Überfluss waren in unserem Dasein gerade richtig dosiert. Als Glückskinder der Geschichte haben viele von uns jetzt die Chance, erstaunlich alt zu werden. Demographen neigen dazu, diesen Trend linear fortzuschreiben. Dabei sind wir wohl doch bloss, die WHO-Studie verrät es, Nutzniesser einer historischen Ausnahmesituation.
Joachim Güntner
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