--> SPIEGEL ONLINE - 16. Januar 2006, 06:21
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Mumbai
Eine Stadt im Höhenrausch
Von Gerhard Waldherr
Aufwärts, immer weiter, rasend schnell voran: Das ehemalige Bombay gilt als Epizentrum des indischen Wirtschaftswunders. In den feinen Clubs feiern Filmstars und Börsenmakler, die Straßen sind erfüllt von der brausenden Choreografie der Massen.
Es ist Nacht in Mumbai, und vor den Fenstern gleitet die Stadt vorbei - jener Teil, den sie immer noch Old Bombay nennen. Die Hochhäuser von Malabar Hill ragen wie klobige Finger in den mondhellen, blauschwarzen Himmel über dem Arabischen Meer. Ein Schimmer über den dicht gedrängten Wohnblöcken im Norden, dann wieder schwach beleuchtete Straßen und dazwischen die gleißend angestrahlten Monumente der Kolonialzeit: die Universität, das Hauptpostamt, der Bahnhof"Victoria Terminus". Pompöse, verschnörkelte Relikte einer entschlafenen Zeit.
MUMBAI: SCHMELZTIEGEL ALLER ETHNIEN INDIENS
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"Halsband der Königin" nennen sie die Uferpromenade wegen ihres goldenen Glanzes. Der Wein schimmert bernsteinfarben im Glas, das Tischtuch ist aus Damast, schweres Besteck."Es ist alles wie damals." Damals, als Yamini, jung und schön, hier mit einem deutschen Diplomaten saß. Die große Liebe."Wären bloß die kulturellen Unterschiede nicht gewesen..." Im"Pearl of the Orient" haben sie sich getrennt. Yamini seufzt. Noch eine Zigarette. Sie hat später den Sohn einer befreundeten Familie geheiratet, zwei Töchter bekommen, ihren Job als Meeresbiologin aufgegeben."Trotz der Erinnerung", sagt sie,"finde ich diesen Platz immer wieder schön."
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Ptolemäus nannte sie Heptanesia."Sieben Inseln". Die Portugiesen tauften sie Bom Bahia."Gute Bucht". Daraus machten die Briten Bombay. Den Hindus war sie Mambei, Mambe, Bambai, aber vor allem Sonapur,"Stadt aus Gold". Die East India Company garantierte Religionsfreiheit, als sie 1668 die Verwaltung der Inseln übernahm. Bombay wurde zu einem Schmelztiegel der Rassen, Konfessionen, Kulturen. Als in den Südstaaten Amerikas der Bürgerkrieg wütete, wurde Bombay mit Baumwolle reich; eine einzige Schiffsladung machte Reeder zu Millionären.
Später kamen die Textilfabriken, die Hunderttausenden Arbeit gaben. Die Briten nannten es: die große indische Lotterie. Die Briten sind Geschichte, seit 1996 heißt die Stadt Mumbai. Indiens wichtigste Metropole ist sie geblieben. Hier befinden sich die Börse und der größte Hafen des Landes, die Notenbank, Telekommunikationsfirmen, die Hauptquartiere ausländischer Konzerne. Die Büromieten gehören zu den höchsten der Welt, und es leben hier mehr Millionäre als in Deutschland. Die 18 Millionen Einwohner erwirtschaften 40 Prozent der Einkommenssteuer Indiens und fünf Prozent des Bruttosozialprodukts - auf 0,015 Prozent der Landesfläche. In Film City, wo Bollywood zu Hause ist, entstehen mehr Kinofilme als in Hollywood, und die Filmis genannten Stars und Sternchen gerieren sich wie Maharadschas.
"Bombay war zentral", schrieb der Schriftsteller Salman Rushdie,"alle Ströme mündeten in sein menschliches Meer. Es war ein Meer der Geschichten; wir alle waren die Erzähler, und alle redeten auf einmal." Daran muss man hier oben über den Dächern denken: Vom klimatisierten Beobachtungsposten aus und im Schutz der Dunkelheit sieht Mumbai verführerisch aus. Aber am Morgen wird das Leben wieder über alle hereinbrechen wie eine Sturmflut, einen verschlucken, herumwirbeln und zurücklassen: fasziniert und ratlos, inspiriert und erschöpft gleichermaßen.
Ein Freitag gegen Mittag. Um uns ein Strom von Leibern, Autos, Motorrikschas, Handkarren. Vom Minarett ruft der Muezzin. Ächzend regnen die Suren auf die Passanten, die sich durch Stoffballen, Obst- und Gemüsestände winden. Muslime eilen zum Gebet, während Bettler barfuß vor den Restaurants sitzen, stumm wartend auf die Armenspeisung. Die Stadt brodelt. Saftpressen, Teekocher, Garküchen. Kühe stehen regungslos. In den Läden flatternde Saris auf Kleiderbügeln. Da sind Berge von Sandalen. Alles fließt ineinander in der feuchten, stickigen Luft. Menschen, Tiere, Dinge. Die bröckelnden, bemoosten Fassaden der Häuser. Farben, Formen und Düfte.
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Der Chor-Basar, der Markt der Diebe, ist der Bauch Mumbais. In jeder Gasse ein anderes Schauspiel. Bei den Gewürzhändlern leuchtend rote, safrangelbe, orangenfarbene Pyramiden. Bei den Schrotthändlern stapelt sich das Innenleben von Maschinen. In den Schaufenstern der Goldhändler funkeln Vermögen. Vor einem Hindutempel werden Ketten aus Jasminblüten geflochten. Räucherstäbchen glimmen. Der Bauch verdaut unablässig. Sogar die eigenen Ausscheidungen. Da sind kaputte Transistorradios, ausrangierte Fernseher. Verkauft wird, was noch irgendwie zu gebrauchen ist. Und sie können alles irgendwie gebrauchen.
Mit stoischem Gleichmut lenkt Krishna den Wagen. Krishna Karanjakar, unser Chauffeur, ein kleiner, schmaler Mann mit Oberlippenbart. Er war 13 Jahre alt, als sein Vater ein Dutzend Ziegen auf Kredit kaufte. Der Vater, Bauer in einem Dorf südlich von Mumbai, wollte den kärglichen Verdienst aufbessern. Weil die Mutter krank wurde, musste Krishna die Schule verlassen, die Ziegen hüten. Eines Morgens waren alle tot, dahingerafft von einem Virus."Jemand", sagt Krishna müde,"musste den Kredit abbezahlen."
So folgte er seinen älteren Schwestern nach Mumbai. Putzte im Postamt. Wusch Mietwagen in einem Hotel, Taxis am Flughafen. Machte den Führerschein. Jetzt ist er 24, und der Kredit ist immer noch nicht abbezahlt. Man stellt sich Krishna vor: ein Kind vom Land, mühsam lesend und schreibend, der allein den Dialekt seiner Region sprach. Dann Mumbai: alle Sprachen und Ethnien des Subkontinents, alle Religionen der Welt. Dazu das Gedränge, das Chaos. Krishna manövriert den Wagen auf die Mohammed Ali Road, über die sich eine bedrohliche Betontrasse wölbt. Die Namen auf den Schildern der Läden darunter sind ein vielsagendes Potpourri. Tendulkar - Hindu; Valiji - Muslim; Readymoney - Parsen; Braganza - Christ portugiesischer Abstammung.
Seit Jahrhunderten zieht diese Stadt die Menschen an; derzeit kommen täglich etwa 2000. Das Resultat ist eine urbane Unfassbarkeit. Überall in der Stadt wuchern Slums aus Wellblech, Plastikplanen, Sperrholz, Bambusstangen, Müll. Wer mit dem Zug kommt, ist den Baracken so nahe, dass er sie beinahe anfassen könnte. Schon 1990 gehörte die Stadt zu den am dichtesten besiedelten der Welt."Trotzdem wollen alle hier leben", sagt Samier Amritwar,"und wer einmal in Mumbai ist, kommt von Mumbai nicht wieder los. Wir sind alle stolz, Mumbaikars zu sein."
Old Bombay liegt auf dem Daumen
Samier sitzt im Restaurant"Mahesh" am Juhu Beach. Der Stadtteil liegt 20 Kilometer entfernt vom Chor-Basar. Die Fahrt dorthin kann bis zu zwei Stunden dauern, durch Straßen, in denen sich der Verkehr fast rund um die Uhr staut."Sicher, Probleme, Probleme", meint der 28-Jährige,"doch entscheidend ist: Mumbai gibt jedem Menschen Arbeit." Mumbai ma rotlo made, otlo nahi, sagen sie hier in der Sprache Gujarati:"Die Stadt gibt dir zu essen, aber keinen Platz, wo du bleiben kannst."
Deshalb kommen die Bauern aus der Provinz und werden zu Bauarbeitern, ihre Söhne fangen als Schuhputzer an und hoffen auf einen besseren Job; Mädchen arbeiten als Tänzerinnen und träumen von einer Karriere als Model oder Filmstar."Wer etwas anzubieten hat, verkauft es." Muskelkraft, Geschick, ein schönes Gesicht. Samier ist selbst Verkäufer. Er war bei Indiens größtem Medienhaus GroupM mit der Einführung des TV-Kanals von Disney betraut."Sogar die Bettler sind hier Verkäufer", sagt Samier."Sie verkaufen ihr Leid."
Auf der Landkarte sieht Mumbai aus wie eine Faust mit nach unten gestrecktem, krummem Daumen. Auf dem Daumen liegt Old Bombay. Dort befinden sich die Sehenswürdigkeiten."Das Lonely-Planet-Mumbai", hatte Yamini gesagt, als sie durch Colaba geschlendert war zum Taj Mahal Hotel, das seit 1903 wie eine gigantische Hochzeitstorte aus Stein und Ziegel am Hafen thront. Später entstand davor das"Gateway of India", das Wahrzeichen der Stadt, ein Triumphbogen wie aus einem orientalischen Märchen. URBS PRIMA IN INDIS ist in den Stein gemeißelt:"Erste Stadt Indiens".
Hier legten einst die Dampfer aus England an, hier verabschiedeten sich die letzten Soldaten des British Empire, nachdem Gandhi Indiens Unabhängigkeit ertrotzt hatte. In Old Bombay befinden sich immer noch die meisten der offiziell registrierten Arbeitsplätze. Die Mehrzahl der Menschen aber wohnt im Norden, auf dem Handrücken. Geografie ist Schicksal. Umzingelt von Wasser kann die Stadt nur in eine Richtung wachsen. Aus den Vororten pumpen die Züge jeden Tag sechs Millionen Menschen in den Daumen. Und Taxis bringen die Reichen. Etwa aus Bandra und Juhu, wo die Filmis wohnen in bewachten Bungalows. Die Coffeeshops sind voller schöner Menschen, die sich die Klingeltöne ihrer Mobiltelefone vorspielen und nachts in teuren Clubs zu Technomusik tanzen.
Die Grenze ist nur der Himmel
In Mumbai treffen sich"sämtliche Indien", schrieb Salman Rushdie, und hier treffen Indien die Einflüsse aus dem Rest der Welt. Der Starkult, den die Zeitungen um die Filmis machen, übertrifft Hollywood spielend - wer trägt was, wer liebt wen, wer streitet mit wem. Auf dem Gelände ehemaliger Textilfabriken entstanden klimatisierte Einkaufszentren, luxuriöse Apartmenthäuser, Nachtclubs, teure Restaurants. Hier steht das größte IMAX-Kino Asiens, und durch das Multiplexkino"Fun Republic" in Andheri zieht der Duft von Popcorn und Pommes Frites. Mumbai sei, was New York vor 30, 40 Jahren gewesen ist, sagt Rahul Akerkar:"Wer eine gute Idee hat, für den ist nur der Himmel die Grenze."
INFORMATIONEN ZU MUMBAI
Telefon
Internationale Vorwahl Indien: 0091, für Mumbai: 22. Zeitunterschied: Plus 4,5 Stunden (Berlin 12 Uhr = Mumbai 16.30 Uhr; während unserer Sommerzeit plus 3,5 Stunden)
Geld
Landeswährung ist die Indische Rupie (INR). 1 Euro = 54 INR, 100 INR = 1,9 Euro (Stand: Okt. 2005)
Sprachen
Wo es Touristen gibt, wird meist Englisch gesprochen.
Einreise
Beste Reisezeit
Oktober bis April, im Sommer Monsun mit teils dramatischen Regenfällen. Um Weihnachten und zu Fest tagen sind viele Hotels ausgebucht.
Einreisedokumente
Sechs Monate gültiger Reisepass sowie ein Visum, das vor der Abreise bei einem Indischen Konsulat beantragt werden muss (50 Euro; Adressen unter www.indischebotschaft.de).
Anreise
Fast alle großen Airlines fliegen Mumbai an. Die Preise schwanken stark nach Saison. Lufthansa bietet Direktflüge ab Frankfurt.
Veranstalter
Die meisten Veranstalter haben Mumbai als Teil ausgedehnter Indienreisen im Programm. Beim Spezialisten Comtour ist Mumbai u.a. Teil einer Maharashtra- Reise (15 Tage ab 1455 Euro zzgl. Flug), der Veranstalter bietet zudem einen Baustein"Bombay" an (7 Tage, ab 899 Euro; Tel. 02054- 95470, www.comtour.de) Take Of Reisen hat die Stadt in"Südindien Individuell" integriert (18 Tage ab 1895 Euro, Tel. 040- 422 22 88, www.takeoffreisen.de)
Internet
www.mumbainet.com
www.maharashtratourism.gov.in
Rahul steht am Eingang seines Lokals"Indigo" in der Mandlik Road, gleich hinter dem Taj Mahal Hotel. Er hat handverlesene Gäste auf seine Dachterrasse geladen: Architekten und TV-Produzenten, Möbeldesigner und Investmentbanker. Im gelgestärkten Haar stecken Sonnenbrillen, an beringten Händen führen die Herren tief dekolletierte Damen. Es riecht nach Zigarren und Parfüm. Als der Club vor einigen Jahren öffnete, lobten die Zeitungen Rahuls Mut, aber gaben ihm keine Zukunft. Das Interieur kühl, postmoderner Chic, an den Wänden abstrakte Kunst. Auf der Speisekarte geröstete Tandoori-Entenbrust mit Ahornsirup und Cranberries sowie neuseeländisches Lamm mit Rosmarinpolenta. Es funktioniert. Rahuls Publikum kann nicht genug davon kriegen und diskutiert nebenher die Aufführung der"Vagina-Monologe", der Theaterprovokation des Jahres.
Schon sprechen Politiker davon, Mumbai in ein indisches Shanghai zu verwandeln. Mit monumentalen Brücken und Highways, seit Jahren werden dafür Elendsquartiere abgerissen. Es klingt wie aus einem Bollywood-Film: der Traum der Stadt, ihre Gegensätze zu beseitigen. Es gibt ebenso viele Kritiker der großen Pläne wie Befürworter. Und dann gibt es noch den Dichter Jerry Pinto, der nicht in Machbarkeiten denkt, sondern die große Stadt als ein einziges Gedicht liest, als Poesie.
Anders wäre sie auch nicht zu fassen, diese abgründige Magie von Mumbai. Etwa dieses Aquarium mit einem bunten Zierfisch, das wie ein unbegreifbarer Ruhepunkt im Getümmel einer Gasse stand. Die brausende, virtuose Choreografie der Menschenmengen, die im Victoria Terminus im Minutentakt aus den Zügen quellen. Die allgegenwärtigen Darstellungen des Elefantengottes Ganesha, den sie verehren als Beseitiger von Hindernissen. Oder dieser Moment im Wohnraum eines Armenviertels, wo sieben Menschen auf sieben Quadratmetern leben, im Fernseher ein tanzender Mann, der singt:"Das Leben ist eine große Frage, manchmal bringt es dich zum Lachen, manchmal zum Weinen."
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