Der Balanceakt der Fed wird immer schwieriger
Je aggressiver die Zinssenkungen, desto größer die Inflationsgefahren / Produktivität sinkt
dri. NEW YORK, 9. Mai. An der Wall Street wächst die Befürchtung, daß die amerikanische Zentralbank (Fed) mit ihren aggressiven Zinssenkungen über das Ziel hinausschießen könnte. Nach Angaben des Arbeitsministeriums in Washington ist die Produktivität im ersten Quartal um 0,1 Prozent gefallen, womit die Lohnstückkosten mit einer Jahresrate von 5,2 Prozent in die Höhe geschossen sind. Die Zahlen stellen in Frage, ob die deutlichen Produktivitätssteigerungen der vergangenen Jahre zu einem großen Teil struktureller Natur gewesen sind.
Fed-Chairman Alan Greenspan selbst hatte immer wieder einer"New Economy" das Wort geredet, in der Inflation aufgrund steigender Produktivität keine größere Gefahr darstellt. Sollten die Produktivitätsfortschritte jedoch nur zyklischer Natur gewesen sein, stünde der Fed jetzt ein schwieriger Balanceakt bevor. Es ist nicht auszuschließen, daß die Schwächephase, die die amerikanische Wirtschaft derzeit durchläuft, zu kurz ausfällt, um den allgemeinen Preisdruck vor einem Wiederanspringen der Konjunktur signifikant zu verringern.
"Die Fed spielt derzeit ein sehr gefährliches Spiel, glaubt aber keine andere Wahl zu haben, weil sie unter allen Umständen eine Rezession vermeiden will", sagt Robert Podorefsky, Marktanalyst bei Fleet Global Markets. Für Podorefsky ist die Kombination von fallender Produktivität, niedrigeren Leitzinsen, stark wachsender Geldmenge, Steuersenkungen und höheren Energiepreisen ein unangenehmer Hexentrunk. Seiner Prognose zufolge wird die Fed ihre Geldpolitik im laufenden Quartal noch lockern, binnen zwölf Monaten werde sich aber ein klassisches Stagflationsszenario entfalten. Eine Stagflation ist durch starken Preisauftrieb bei stagnierender Wirtschaftstätigkeit und wachsender Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Dianne Swonk, Chefökonomin der Bank One, rechnet sogar damit, daß die Fed schon gegen Jahresende einen Teil ihrer Zinssenkungen rückgängig machen muß. Inflation werde in einem Jahr das größte Problem der amerikanischen Notenbank sein. Das Produktivitätswachstum sei dann nicht mehr hoch genug, um den Zug steigender Lohnstückkosten aufzuhalten, sagt Swonk, die im Weißen Haus als eine potentielle Kandidatin für den Federal Reserve Board gehandelt wird.
Je mehr diese Inflationsängste in den Finanzmärkten um sich greifen, desto stumpfer droht die Geldpolitik der Fed zu werden. Die Notenbank selbst steuert nur den Zielsatz für Tagesgeld (Federal Funds) und beeinflußt damit vornehmlich das kurze Ende der Zinskurve. Ihre volle stimulative Wirkung entfaltet Geldpolitik aber erst dann, wenn sie auch zu niedrigeren Zinsen am langen Ende der Zinskurve führt. Denn Investitionsfinanzierungen sind in der Regel langfristige Finanzierungen. Obwohl die Fed ihren Leitzins in.
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diesem Jahr schon um insgesamt 2 Prozentpunkte zurückgenommen hat, ist die Rendite der Staatsanleihe mit 10 Jahren Laufzeit, die die Referenzanleihe (Benchmark) für private Schuldner ist, sogar leicht gestiegen. Dies zeigt zwar auch, daß der Anleihemarkt ein Anschlagen der Zinsmedizin unterstellt und auf eine relativ schnelle konjunkturelle Wiederbelebung wettet. Die Zahlen zur Produktivitätsentwicklung könnten aber dazu führen, daß am langen Ende der Zinskurve schon bald eine höhere Inflationsprämie eingebaut wird.
Dies stünde den Intentionen der Fed entgegen, da sie mit ihren Zinssenkungen nicht nur die privaten Konsumenten bei Laune halten, sondern auch den Unternehmen der"Old Economy" stärkere Anreize geben will. Die Hoffnung, daß die Zinspolitik in naher Zukunft auch die Investitionsneigung bei den Unternehmen der"New Economy" stimuliert, dürfte dagegen nicht sehr ausgeprägt sein, da deren Probleme in der Regel nicht die Kosten der Refinanzierung, sondern vielmehr Überkapazitäten und hohe Lagerbestände sind.
Die Zinsphantasie im Markt war vor knapp zwei Wochen eigentlich schon deutlich zurückgegangen, nachdem die erste Schätzung für das Wirtschaftswachstum Amerikas im ersten Quartal einen überraschend hohen Wert von 2 Prozent beschert hatte. Zwischen der ersten und dritten Schätzung liegen die Abweichungen zwar durchschnittlich bei mehr als 1 Prozent. In einem Markt, der seit Monaten nach guten Nachrichten dürstet, wurde dies aber vorübergehend verdrängt. Eine Woche später zog mit dem Arbeitsmarktbericht für April wieder Nüchternheit ein. Die monatliche Einbuße von 223 000 Arbeitsplätzen und der Anstieg der Arbeitslosenquote von 4,3 Prozent auf 4,5 Prozent hat die Rezessionsängste wieder genährt, da von steigender Arbeitslosigkeit die größte Gefahr für den Konsum, den letzten Stützpfeiler der amerikanischen Konjunktur, ausgeht.
Die Wall Street ging jedoch relativ gelassen über die Arbeitsmarktdaten hinweg. Einmal mehr wurde die positive Seite der Medaille in den Vordergrund gerückt: Die Fed dürfte angesichts der Arbeitsplatzverluste bei ihrer regulären Sitzung am 15. Mai erneut kräftig an der Zinsschraube drehen. Alles andere als eine erneute Zinssenkung um 50 Basispunkte würde in der Finanzmeile Manhattans als eine faustdicke Überraschung gewertet werden. Es ist nicht das erste Mal, daß der Aktienmarkt schlechte Arbeitsmarktdaten quasi ignoriert. Arbeitsmarktzahlen sind schließlich konjunkturelle Spätindikatoren. Während beispielsweise die letzte Rezession im März 1991 endete, erreichte die Arbeitslosigkeit erst im Juni 1992 ihr Hoch. Der S&P 500, der Referenzindex von Standard & Poor's, war seinerzeit im Oktober 1990 auf sein zyklisches Tief gefallen. Bis Juni 1992 kletterte der Index um 45 Prozent, während die Arbeitslosenquote in der gleichen Periode von 5,9 Prozent auf 7,8 Prozent anstieg.
Der Markt wird freilich nur so lange über einen nachlaufenden Indikator wie die Arbeitsmarktzahlen hinwegschauen können, wie die Frühindikatoren Besserung verheißen, sagt Tony Crescenzi, Anleihestratege bei Miller Tabak & Co. Zu diesen Frühindikatoren zählt er den heißlaufenden Häusermarkt, die drastisch reduzierten Lagerbestände der Unternehmen, die schnell wachsende Geldmenge, die steile Zinskurve, die überdurchschnittlichen Kursgewinne zyklischer Aktien, den starken Dollar und den seit Anfang April zu beobachtenden Anstieg der industriellen Rohstoffpreise. Dies seien in der Kombination gute Gründe, nicht mehr in den Rückspiegel zu schauen, sagt Crescenzi.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.05.2001, Nr. 108 / Seite 33
gruss mcmike
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