>Kennen Sie dieses Gefühl? Sie glauben instinktiv zu wissen, dass irgendetwas nicht stimmt, aber Sie können es einfach nicht zuordnen? Sie könnten nichtmal sagen, auf welchem Bereich der Schuh drückt; privat, beruflich, zwischenmenschlich, politisch - Sie wissen nur, dass etwas gerade fürchterlich schief läuft, aber Sie wissen nicht, was es ist.
>Ich fühle mich schon wie ein Zombie. Ich habe das dumme Gefühl, etwas ist faul in dieser Welt. Es ist, als säße ich auf einem Pulverfass und höre, wie jemand in der Dunkelheit das Streichholz anreißt.
>Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie die Erde und mit ihr die Menschheit, in einer Spirale festsitzt, die sich immer schneller zu drehen beginnt - und ich glaube den Moment zu sehen, in dem die Bewegung außer Kontrolle gerät.
>Und dann wieder frage ich mich, ob ich zu viele Bücher wie „1984" oder „Fahrenheit 451" gelesen habe, und zu viele Filme wie „ExistenZ", „13th Floor" oder „Matrix". Ich frage mich, ob ich der einzige bin, der merkt, dass etwas Merkwürdiges vor sich geht auf unserem Planeten, ob ich langsam schon paranoid bin, oder ob andere es auch merken. Ich sitze in der U-Bahn mit diesem verdammt miesen Gefühl in der Magengegend und denke darüber nach, wie lange es wohl noch dauern könnte, bis mich diese Fragen um den Verstand bringen.
>Oder ich fahre in meinem Auto durch die Stadt und merke, die Autofahrer werden immer aggressiver. Offenbar merke nicht nur ich das, sondern auch Experten wollen schon festgestellt haben, dass immer mehr Deutsche (und auch andere Europäer) am Steuer ein immer prä-pubertäreres Verhalten an den Tag legen.
>Aber hört es denn bei den Autofahrern schon auf? Ich habe den Eindruck, die Menschen werden allgemein immer aggressiver. Der Einzelne zählt immer weniger. Was bedeutet heute noch das Leben eines Menschen in unserer Gesellschaft? Ich meine damit nicht, dass schon Mord und Totschlag in unseren Straßen herrschen. Ich spreche viel mehr von einer Gesellschaft, die im Rennen um einen Platz an der Sonne alle Regeln des guten Geschmacks, der Höflichkeit und oftmals leider auch der Ethik zu vergessen scheint.
>In unserer Gesellschaft macht sich eine wachsende Entmenschlichung zunehmend bemerkbar. Es heißt, inzwischen glauben siebzig Prozent der sechs- bis dreizehnjährigen, es sei ganz normal, dass man als Mensch irgendwann ermordet werde und nicht nach einem langen und erfüllten Leben an Altersschwäche oder einer Krankheit sterbe.
>Aber auch diese Sichtweise ist immer noch viel zu stark fokussiert. Beginnen wir noch eine Stufe höher: In den Wirtschaftsbetrieben. Im Rennen um immer mehr Gewinn, immer schnellere Produkt-Innovationen und immer geringere Kosten wird der Mensch zu einem unbedeutenden Zahnrad einer riesigen Maschinerie. Den Bossen der Unternehmen werden ihre Mitarbeiter immer fremder. „Human Ressources", wie der neudeutsche Begriff für das Personalwesen heißt, macht es bildlich: Man stelle sich vor, dass eine Firma ein Lager im Keller hat, in dem Arbeitskräfte gespeichert werden. Ein Angestellter, der zu teuer, unbequem oder krank wird, kann wie eine ausgebrannte Glühbirne ersetzt werden.
>Das Bangen um den Arbeitsplatz ist für viele zu einer ganz normalen Alltagssorge geworden. Und um ständig wachsende Ansprüche und Kosten abdecken zu können, ist es häufig nötig, dass beide Teile eines Ehepaares oder einer Lebensgemeinschaft arbeiten müssen, so dass sie nicht am finanziellen Minimum knabbern.
>Der Mensch beginnt, sich von seiner Arbeit, seinem Leben und letztlich seinen Mitmenschen immer mehr zu entfremden. Hilflos hängt er in einem Strudel fest, der ihn immer weiter hinabzieht.
>So hat also der Mensch in einem schneller werdenden Lebensstil immer weniger Zeit für seine Mitmenschen - und auch für seine Familie. Kein Wunder, dass eine steigende Anzahl von Ehen geschieden wird. In Deutschland ist es immerhin etwa die Hälfte. Eine feste Bindung ist in einem Zeitalter, das vor allem Flexibilität fordert, allzu häufig nur hinderlich.
>Eine Sekunde nicht aufgepasst, und vielleicht hat man schon jetzt etwas Essentielles versäumt.
>So wachsen mehr Kinder als je zuvor bei allein erziehenden Eltern auf. Oder beide Elternteile sind den ganzen Tag nicht im Haus, weil sie den nötigen Lebensunterhalt verdienen müssen.
>Da ist es doch kein Wunder, wenn die Kinder nach und nach zusehends an Verhaltsstörungen leiden. Und wenn Babysitter Fernseher sinnlose Gewalt vorbetet - welche Sittenprediger wundern sich dann entsetzt-schockiert über die hohe Rate der Jugendkriminalität? Fast möchte ich diese Leute für solche Vermessenheiten ohrfeigen!
>Und auch dass die Erwachsenen immer gleichgültiger werden, ihnen die Erziehung ihrer Kinder oft keinen Pfifferling wert ist und jeder, wie beschrieben, nur noch versucht, sein eigenes Schaf ins Trockene zu bringen - ist es denn wirklich ein Wunder?
>Die Frustration über schlechte Arbeitsbedingungen, steigende Lebenskosten und die Unfähigkeit, den Überblick über die gesellschaftlichen Entwicklungen zu behalten, tendieren mehr und mehr zum Grenzenlosen.
>In den letzten hundert Jahren ist die technologische Entwicklung förmlich explodiert, und noch immer folgen neue Erfindungen in ständig rasanter werdender Geschwindigkeit aufeinander. Die technischen Produkte werden immer kleiner, leichter, leistungsfähiger - und vor allen Dingen schneller. Vermutlich könnte man sie noch unendlich weit verbessern. Aber bereits jetzt ist bei vielen Menschen der Punkt erreicht, an dem sie einfach nicht mehr Schritt halten können. Von Überreizung sprechen die einen, von Information-Overflow die anderen - während die Mühlen der Technik uns mit steigender Wahrscheinlichkeit irgendwann zu zermahlen drohen, uns zu ihren Sklaven machen.
>Der Mensch, nicht in der Lage, sich der Geschwindigkeit anzupassen, bekommt über kurz oder lang Komplexe. Wie nie zuvor müssen Psychiater so viele Patienten wegen Depressionen oder Minderwertigkeitsgefühlen behandeln.
>Soll denn am Ende nur noch eine kleine Oberschicht von Bürgern mit besonders schneller Auffassungsgabe alle Fäden in der Hand haben; immer der Gefahr ausgesetzt, bereits beim geringsten Fehler in die Schlucht zu stürzen?
>Und mit Sicherheit bin ich nicht der Erste, der denkt, man muss die Menschen vor sich selbst schützen: Um die Kriminalität in die Schranken zu verweisen, werden bereits ganze Stadtteile mit verborgenen Kameras überwacht. Die Polizei greift in den Stadtzentren Jugendliche, potentielle Schulschwänzer auf und überprüft per Handy, warum sich die Schüler nicht in der Schule befinden. Auch die Überwachung des Menschen bei seinen Tätigkeiten im Internet läuft nach wie vor weiter und kann nichtmal wirklich unterbunden werden.
>Um die Gesellschaft vor sich selbst zu schützen, wird sie bereits jetzt in einer Art und Weise kontrolliert, für die Menschenrechtler bereits Staatsoberhäupter angeprangert haben.
>Aber nicht genug, dass der Staat seine Bürger in einem zunehmenden Maße zu kontrollieren beginnt. Die eigentlich zum Wohle des Volkes ersonnene Politik, erweist sich oft genug als dem Bürger aufoktroyiertes Gebilde.
>Ein Beispiel dafür ist die Europäische Union: Die Idee, einen besseren Lebensstandard durch mehr Kooperation erreichen zu wollen, zeigt bereits erste Früchte in steigenden Wirtschaftsleistungen.
>Der Euro dagegen befindet sich bereits seit Monaten in einer kaum gebremsten Talfahrt. Von Politikern wird die Entwicklung nach wie vor verharmlost, eine Besserung der Lage scheint nicht in Sicht, dafür aber der Beitritt weiterer, alles andere als finanzstarker Staaten zur EU. Warum gerade sie es schaffen sollten, den kränkelnden Euro wieder ins rechte Lot zu bringen, ist mir persönlich nicht klar.
>Aber die Finanzwelt folgt ohnehin ihren eigenen Regeln, und statt in Arbeitskräfte, wird lieber in Aktien investiert. Wiederum drängt sich das Bild einer Spirale auf, die am oberen Ende immer enger wird.
>Und schließlich zittert der Mensch unbewusst auch in Anbetracht der Bilder, die ihm das Fernsehen tagtäglich liefert. Während er in der Sicherheit seiner vier Wände sitzt, muss er mit ansehen, wie der Rest der Menschheit offenbar nichts Besseres zu tun hat, als wie die Lemminge in den Abgrund zu laufen.
>Bereits bei unseren Nachbarn in Ã-sterreich beginnt sich die zunehmende Unsicherheit der Bevölkerung politisch abzuzeichnen, obschon der Alpenstaat die außenpolitischen Konsequenzen seines politischen Rechtsruckes sofort zu spüren bekam.
>Ein Woge der Kriminalität, die aus dem ehemaligen Ostblock nach wie vor auch zu uns schwappt, trägt nicht eben zu einem besseren Sicherheitsgefühl bei, und auch ansonsten scheint es im Gebälk unserer Welt zu knistern. Während Ã-sterreich sich aber dafür verantworten muss, neuerdings eine rechts-konservative Regierung zu haben, verletzt die russische Regierung ungehindert geltende Menschenrechte, um einige wenige Aufständische nieder zu knüppeln.
>Schlussendlich: Wer gibt mir das Recht, über das Verhalten anderer zu befinden? Und wie kann ich mir anmaßen, die Politik zu kritisieren, ohne mir selbst einen Einblick verschafft zu haben?
>Die Nachrichten im Fernsehen zu sehen und eine Tageszeitung zu lesen, ist einfach. Wer aber garantiert mir eine unbefangene Berichterstattung? Die Medien gewinnen zusehends Einfluss auf unsere Gesellschaft und schaffen es durch gezielte Darstellung, die Meinung der Mehrheit zu beeinflussen - vielleicht sogar die allgemeine Aggressivität zu schüren.
>Mir fällt es immer schwerer, noch etwas zu glauben. Wem soll ich noch vertrauen? Die Politiker, die Medien und die Wirtschaftsbosse haben ihr Vertrauen längst verspielt.
>Verstehen Sie jetzt, was ich meine? Wird die Menschheit immer wahnsinniger, oder spielt sich das nur in meinem Kopf ab? Werde ich langsam paranoid? Halten Sie mich für verrückt? >
>2000-02-05
>© 2000 Nils Schwerdtner
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>Ich denke so geht´s sehr, sehr vielen von uns!
>gruss mcmike
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