Hallo dottore,
ich muß gestehen, daß ich etwas gerührt war, als ich Ihr Posting über das Mittelalter eben gesehen und gelesen habe. Ich finde es klasse, daß Sie hier einfach so Ihnen völlig fremden Menschen eine Art Geschichtsunterricht erteilen. Da ich es war, der die MA-Debatte hier vom Zaun gebrochen hat, möchte ich noch was dazu sagen: ich habe Ihre und meine letzten Postings zu diesem Thema nochmal gelesen und dabei ist mir aufgefallen, daß mein vorletztes recht forsch und fordernd war. Das finde ich nicht richtig, denn wie komme ich dazu, irgendwelche Ansprüche an Sie oder irgendjemand sonst zu stellen? Es ist mir leider erst jetzt aufgefallen, tut mir leid und ich hoffe, Sie nehmen’s mir nicht übel.
Nun zum Mittelalter: Beim Lesen Ihres Postings fiel mir auf, daß ich spannender als die Daten bezüglich der Preise im MA die darauf bezogene Vorstellung vom MA bzw. Projektion (im psychologischen Sinne) aufs MA fand, die die Leute später vornahmen (Freiwirte sowie die beiden Bücher, die Sie aufgeführt haben). Da scheinen einige auf der Suche nach einer „hehren, reinen Zeit“ zu sein. Das kommt den Gründen nahe, aus denen heraus ich dieses Thema angesprochen habe: Wo bekommen wir (oder „interessierte Kreise“) das Unterfutter her für den so allmählich anstehenden System- und Denkwechsel? Diese Projektion eines „sauberen Geldsystems“ ins Mittelalter ist so ein wenig das, was ich mir vorstellte oder wonach ich auch gesucht habe.
Nicht ganz schlau werde ich aus der Rezeption des MA während der Nazi-Zeit. Letzte Woche war ein recht guter Artikel im „Spiegel“ über Architektur im 3. Reich. In diesem Artikel hat der Verfasser darauf hingewiesen, daß die ästhetischen Vorbilder der Nazi-Architektur aus der Antike und der Renaissance kamen, und daß Hitler die Gotik ablehnte. Zugleich aber hat man versucht, gerade aus den Versatzstücken bzw. Vorstellungen vom Mittelalter so etwas wie eine deutsche „ideelle“ Kultur zu schaffen (Wagners „Meistersinger“). Irgendwie hat man die Diesseitigkeit von Antike und Renaissance mit der Mystik des Mittelalters verbinden wollen, ohne allerdings die Jenseitsbezogenheit dieser Mystik dabei haben zu wollen - denn der Heiland war nicht im Himmel, sondern am Rednerpult des Parteitags.
Das mit den Großsakralbauten im MA stellt m.E. auch keine „Hochkultur“ oder „Blütezeit“ dar, denn es war wohl eher die Konzentration aller Kräfte auf ein einziges Projekt. Besonders gut finde ich ist es z.B. in Chartres zu sehen, wo die gigantische Kathedrale von einem bedeutungslosen kleinen und ärmlichen Dorf umgeben ist. Es war wohl keine Kraft mehr für etwas anderes übrig. In Vezelay ist es genau so.
Sie schreiben, daß eine Wiederholung dieser für den „kleinen Mann“ sehr unerquicklichen Zeiten abwegig und sogar völlig ausgeschlossen sei. Da bin ich hellhörig geworden: weshalb denn nicht? Natürlich raffinierter und getarnter, nicht über eine so lange Zeitepoche, aber eine Enteignung durch Inflation ist doch gerade unterwegs. Hochinteressant auch die Entwicklung der Vermögensverteilung: haben wir das nicht auch seit geraumer Zeit in unserem Kulturkreis, eine sich immer weiter verschärfende Verteilungskluft?
Frage: kann man sagen, daß die Zeit der „Hochgotik“ insgesamt eine inflationäre gewesen war? Wo kam denn dieser langdauernde Inflationsdruck her? Waren es die permanenten Kleinkriege untereinander und gegen die Araber?
Um die Sache nicht zu verzetteln: Der Ausgangsgedanke war, daß das MA als eine unserer Zeit sehr fremde Epoche, vor allem hinsichtlich der Prioritätensetzung hin zu einem mystifizierten Jenseits, uns Aufschlüsse darüber geben könnte, welche Richtung die Reise demnächst nehmen könnte. Besonders interessant wäre da die Frage, wie die im Vergleich zu heute sehr viel stärkere Jenseitsbezogenheit sich aufs Wirtschaftsleben ausgewirkt hat. Heute werden die Leute durch „positive Thinking“ verdummt - und im MA? Denn wenn „positive thinking“ in einer langen Wirtschaftskrise als wirkungslos entlarvt wird, muß doch eine neue „Sau“ her, die man dann durch’s Dorf treiben kann - und nach der suchen wir hier, auch im MA.
Danke für den Buchtip (Borst: Alltagsleben im Mittelalter), ich werde es mir besorgen und lesen.
Gruß, F.
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