Die Risikowette als neue Lebensform
Ãœber das Wunder des Bezahlens
und die Börse als Modell einer Gesellschaft mit veränderlichen Werten
Von Arnulf Marzluf
Wieviel pure Imagination in einem Börsenkurs steckt, wurde für Millionen Anleger in den vergangenen Monaten zum Erlebnis. Sie erlebten es, weil sie verloren. An der Spitze 65 Millionen US-Bürger. Jeder zweite Erwachsene dort ist Aktionär. Kranken-hauschefs berichten, dass zahlreiche Schwerkranke geplante Operationen absagen, die sie mit dem Verkauf von Aktien hatten bezahlen wollen. Studenten brechen ihr Studium ab weil die Eltern es nicht mehr finanzieren können, und wer Aktien für seine Altersversorgung auf Kredit kaufte, ist nicht nur sie los, sondern plagt sich mit Schulden.
Das ist Daseinsvorsorge nach dem Prinzip der Risikowette: Die anderen bei ihrem Tun zu beobachten, ähnlich oder ganz anders zu handeln, um sein eigenes Ding zu drehen. Es steht nach den USA auch in Deutschland eine Gesellschaftsreform ins Haus, die mehr auf der Kraft der Imagination aufbaut, als es eine metaphysisch orientierte Ordnung jemals von ihren Mitgliedern in der Vergangenheit erwartete. Für Peter Sloterdijk beginnt die Diktatur der Lottokönige.
Doch wir haben alle schon lange geübt. Bei jeder Barbezahlung oder gar Uberweisung erschaffen wir uns aus reinen Zeichen reale Dinge. Das wunderbare Spiel funktioniert, weil es eine unendliche Kette generiert und jeder das Zeichen weiterreichen kann für einen weiteren"Schöpfungsakt".
An keiner Stelle der Kette muss jemand dafür haften, dass Geld nur aus bedrucktem Papier besteht. Wie man anhand von Zeichen zu Reichtum gelangen kann, erzählt Edgar Allan Poe in"The Gold Bug" (Der Goldkäfer). Der Ich-Erzähler jagt einen Skarabäus-Käfer, dabei fällt ihm ein Fetzen Pergament in die Hände, mit dem er den widerspenstigen Käfer einwickeln will. Käfer und Pergament entpuppen sich als Glieder einer Ereigniskette, die den Erzähler zu einem von Piraten vergrabenen Schatz führen. Poe frönt in der Erzählung seiner Liebe zur Kryptografie, die ihm dazu dient, in ihrer Vereinzelung zunächst sinnlose Zeichen auf dem Pergament verketten zu können und die Kette als Spur zum Schatz zu lesen. Das Papier spielt, so die Interpretation des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Marc Shell, die Rolle eines Zeigers auf den Schatz. Er vergleicht das Pergament mit Dokumenten, die in den Anfängen des Papiergeldes auf den Inhaber ausgestellt waren.
Geld ist ein Versprechen der Einlösung eines Zeichens und existiert somit zeitlich vor dem eingelösten Ding. Das ist entscheidend, denn dieser Gedanke korrigiert das traditionelle Selbstverständnis, dass zuerst das Ding und dann der Name sei. Und er stellt die Annahme in Frage, dass das Geld"gedeckt" sei. Auf diesen Umstand wies der englische Mathematiker Brian Rotman in seinem unlängst auf Deutsch erschienenen Buch"Die Null und das Nichts" hin und meinte, mit der Aufhebung der Gold-deckung des Dollars in den siebziger Jahren sei das Geld zu einem leeren Zeichen gewor-den und vollende den früheren Schritt von Gold zu Scheingeld. Es sei das"Ende des Gegründet-Seins" der Geldzeichen.
Doch auch Gold wie Schatz waren Zeichen, wenngleich hochpotente, die auf die halbe Welt zeigten und mit deren Hilfe der Einzelne sich unvorstellbar viel leisten konnte. Edgar Allen Poe greift auf die Skarabäus-Metapher zurück, die bei den alten Ägyptern Bewegung und Werden bezeichnet. In Platons Timaios finden wir noch einen Reflex davon, wenn Gold für den Weltgrundstoff steht, der jede Gestalt annehmen kann und ebenso nur auf Möglichkeiten zeigt, im Falle der Materie sind es solche, die man sich totaler nicht denken kann. In der neuen Denkungsart haben wir es hier mit hochbedeutenden Leerstellen zu tun, die für alles und jedes stehen können. Wichtig ist nur, dass sie besetzt und in Anspruch genommen werden. Der Wert des Geldes wird aufrechterhalten, indem es ständig zirkuliert und ständig im Kaufen und Verkaufen"beglaubigt" wird.
Uber diesem Kreislauf etabliert sich die Börse, die täglich ein Vielfaches dessen bewegt, was für Waren- und Dienstleistungsverkehr benötigt wird. Das bedeutet,"dass der konventionelle Vektor von Ursache und Notwendigkeit, der vom Handel auf die Finanzwirtschaft zeigt und von Dingen auf das Geld, umgekehrt worden ist: es ist der finanzielle Schwanz, der mit dem Hund von Wirtschaft und Handel wedelt" (Rotman).
Interessant sind die Schlüsse, die für die Zukunft unserer Gesellschaft daraus gezogen werden."Die Börse", sagt der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker (Soziale Systeme, 1999)"gilt gegenwärtig sowohl als aussichtsreiches Modell der Gesellschaftsreform wie auch als Symptom einer tiefgreifenden Selbstgefährdung der Gesellschaft."
Daseinsvorsorge werde zunehmend über die Börse und abnehmend über den Wohlfahrtsstaat getroffen, ein"Volkskapitalismus" mache sich breit, der Risiken jedoch nicht allein für die Kleinen bereit halte, sondern auch für die Unternehmen, die den kurzfristigen Launen der Aktienbesitzer ausgesetzt seien und kein Verständnis für unternehmerische Wagnisse und deren Zeitbedarf hätten. Damit werde aufs Spiel gesetzt, was die Erfolgsgeschichte dieses Kapitalismus ausmache.
Die Börse stellt unter solchen Voraussetzungen den Index schwer berechenbarer Stimmungslagen der Anleger schlechthin dar, und die Werte haben manchmal wenig mit Unternehmensergebnissen und Branchenaussichten zu tun. An der Börse trifft sich die Weltgesellschaft zur Risikowette und jeder beobachtet jeden, um seine Position zu sichern und zu verbessern. Seine Berechnung summiert sich in der Masse auf zu einem unberechenbaren und nur nür der Logik der Wette beschreibbaren Ereignis. Sie schafft ein selbstbezügliches System, das - so versichern selbst Fachleute aus den inneren Zirkeln der Machtspiele - an die Daten der Unternehmen und Warenmärkte manchmal nur lose gekoppelt ist. Werte haben deshalb heute einen Zeitindex und wer nicht beobachtet und mitspielt, fällt aus dem System heraus. So steht jeder unter Entscheidungszwang und seine Handlungen geraten generell unter Risikoverdacht: Risiken sind nun"keine objektiven Sachverhalte der Welt mehr, an die man so oder anders, falsch oder richtig herangehen könnte", sagt Baecker"sondern Produkte des Zugriffs auf Welt."
Wer handelt, um Risiken zu vermeiden, produziert notgedrungen welche, weil er handelt. Das unterscheidet die Gegenwart erheblich von den zeitenthobenen Seinsbeschreibungen, Selbstdefinitionen und Systemkonstruktionen der Vergangenheit, die uns auch Sozialstaatideen beschert hatten.
In Baeckers Diktion haben wir es heute mit einer generellen"Deontologiserung und Temporalisierung der Welt" zu tun. Nicht nur Dinge und Waren, sondern Werte jeglicher Herkunft sind einer ständigen Neubewertung ausgeliefert, in die auch Selbstbewertungen der Individuen und deren Hand-lungen selber mit eingehen.
So wird in der Analyse Baeckers schließlich die Börse zum Modell eines neuen Zugriffs auf unsere Welt:"Die Börse ist ein Fall dieser Zuspitzung der Moderne auf die immer weiter um sich greifende, nicht nur den Fernhandel und die Eheschließung, sondern auch den Machterhalt und den Wissenserwerb, den Glauben und das Kunstwerk betreffende Reflexion ihrer Weltkonstruktion als Entscheidung." Die Wette gilt: worauf setzten wir heute?
WK, Mai 2001
gruss mcmike
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