Die grundsätzlichen Betrachtungen in den sog."Anlagekommentaren" der St. Gallener Privatbank Wegelin & Co sind immer von bestechender Logik, interessant geschrieben und vorzüglich recherchiert. Dies gilt in besonderem Maße für die Nr. 209 vom 2. Juli, die sich mit den Gefahren der EURO-Einführung und der Frage befaßt, was die EU mit dem EURO am Ende wirklich will.
Lesenswert! [Da der Aufsatz ziemlich lang ist, habe ich ein in den Grundzügen wohl allen bekanntes Kapitel gekürzt.]
Grüße
G.
Text:
Wie Europa spart
1. Notenschwemme ab Ende Jahr
In einem halben Jahr beginnt eine der grössten logistischen Übungen in der Geschichte des Finanzwesens. Das Bargeld der 12 EWU-Länder wird durch Euro-Noten und -Münzen ersetzt. Das Zeitfenster zum Umtausch ist knapp bemessen: Innerhalb von zwei kurzen Monaten kann getauscht werden; darnach sind die alten Münzen und Noten nur noch unter erschwerten Bedingungen loszubringen. Das Bankensystem Europas wird in diesen Monaten gefordert sein, denn trotz der immer wichtiger gewordenen virtuellen Zahlungsmittel wie Kreditkarten, Debitkarten und dergleichen bildet die sichere Versorgung mit Bargeld nach wie vor das Rückgrat einer reibungslos funktionierenden Volkswirtschaft. Engpässe mit Warteschlangen vor den Schaltern oder gar mit Umtausch-Rationierungen wären etwa das Letzte, was man sich für die Vertrauensbildung in die neue, nun endlich physisch vorliegende Währung wünschen möchte.
Für den Anleger und den allgemein am wirtschaftlichen Geschehen interessierten Beobachter ist diese Umtauschaktion unter verschiedenen Aspekten interessant. Zunächst einmal fasziniert der logistische Teil im letzten Kapitel der Einführung der europäischen Einheitswährung. Die Jahresenden scheinen es in sich zu haben: 1998/99 mussten in ganz Europa die Computerprogramme um die Parallel-Währung Euro erweitert werden, dann folgte das Milleniumsproblem, und nun darf man sich mit der Aufgabe der Lagerbewirtschaftung für Noten und Münzen beschäftigen. Doch nicht nur damit: Wenn ganz Europa das Bargeld aus den Schubladen und unter den Matratzen hervorklaubt, gibt es nicht zu unterschätzende Sicherheitsfragen. Wer Bankräuber ist oder werden möchte, darf in den Monaten Januar und Februar nächsten Jahres keinesfalls Ferien machen! Aber auch die auf Lira, Peseten, gegebenenfalls Francs und Mark spezialisierten Geldfälscher müssen aktiv werden, denn lange kann man die Falsifikate nicht mehr in harte Währung tauschen. Die unbescholtenen Bürger, unter ihnen ganz besonders die Kassiere in Banken, Supermärkten und Bijouterien, tun gut daran, schon jetzt das Bargeld noch genauer zu überprüfen. Ganz gewiss wird der Übergang zum Euro als physische Währung Spuren in der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hinterlassen. Wir prognostizieren eine situationsbedingte Grosszügigkeit auf das Jahresende hin, wie man sie im Hinblick auf das Milleniumsproblem gesehen hatte. Tiefere Zinsen im Kurzfristbereich dürfen deshalb gegen Ende Jahr nicht zum Nennwert genommen werden. Man erinnere sich: Die auf den Jahrtausendwechsel folgende Rücknahme von Liquidität durch die Notenbanken hatte gravierende Auswirkungen bis in den langfristigen Bondbereich hinein. Die Geschichte könnte sich für einmal ab etwa März 2002 wiederholen. Die EZB wird zu jenem Zeitpunkt wieder das tun müssen, was sich in der dannzumaligen konjunkturellen Situation aufdrängen wird. Der dritte Aspekt ist unseres Erachtens aber der interessanteste. Es wird nun ja, nach den Jahren stetigen Aussenwertverlusts des Euro, allenthalben vorausgesagt, dass mit der Tatsache des physischen Vorhandenseins der Währung in der Form von sieben Noten und acht Münzen der Turn-Around geschafft werde. Erst was mit Händen gegriffen werden könne und die Geldbeutel füllen werde, sei vertrauenswürdig, widerspiegle Werthaltigkeit und werde folglich auch gekauft, aufbewahrt, gehortet. Die Argumentation hat einiges für sich. Denn Geld per se hat ja in der Tat keinen Wert. Nur der Glaube daran, dass mit dem Stücklein Papier oder mit der Metallscheibe künftig ein Gegenwert erworben werden kann, verleiht dem Geld seine Potenz. Glaube hat viel mit Symbolik zu tun, und diese Tatsache wurde bei der Konzipierung der Einführung einer Einheitswährung für Europa möglicherweise unterschätzt. Es waren halt Technokraten am Werk. Aber: Das Fehlen des Symbols in der Einführungsphase der Einheitswährung - ist das ein wirklich hinreichender Grund für den traurigen Kursverlauf des Euro in den ersten Jahren seiner Existenz (der handelsgewichtete Aussenwert verlor seit Euro-Einführung bis heute immerhin 16 Prozent)? Und wenn nein, darf dann ein Turn-Around erwartet werden, wenn das Symbol manifest wird? Wir bezweifeln, dass die Dinge so einfach liegen, und wollen uns deshalb in diesem Anlagekommentar vertieft mit einigen Fragen um Europa, dessen Währung und dessen Wirtschaft befassen. Unsere Analyse knüpft just bei der zu erwartenden Schwemme von alten Lira-, Peseten-, Franc-Noten und Markscheinen an. Der Bargeldverkehr, das Halten und Tauschen fremder Valuten, das Führen von Konten in anderen Ländern und Steuersystemen das alles hat in Europa eine lange und nachhaltige Tradition; es war wichtiger Teil dessen, wie das „System Europa“ funktionierte. Es war auch Teil dessen, wie sich die Individuen gegen alle möglichen Unwägbarkeiten auf dem in geschichtlichen Dimensionen gesehen unerhört gefährlichen Kontinent schützten. Mit der Umtauschaktion von nächstem Winter wird ein Schlusspunkt unter diese Tradition gesetzt. An ihre Stelle tritt ein konstruktivistisches System, das eigentlich diese Schutzfunktion für das Individuum auffangen, verbessern sollte. Die Schwäche des Euro seit seiner Einführung lässt jedoch bezweifeln, ob solches Vertrauen überhaupt je aufgekommen sei. Ist im Gegenteil denkbar, dass der Ursprung den mageren Start des Euro endogener Natur ist, das heisst bei den Europäern selbst liegt, und viel weniger den internationalen Kapitalmärkten zuzuschreiben ist, wie dies immer behauptet wird? Oder anders gesagt: Der schwache Euro als eine Art Volksabstimmung „zu Fuss“, das heisst durch systematisch abwanderndes Kapital?
2.. Irland als Fanal Die Bevölkerung Europas hat ausserordentlich selten und nur in ganz wenigen Ländern Gelegenheit, sich zu Sachfragen zu äussern. Eine für Schweizer ziemlich unvorstellbare Sache: nicht abstimmen zu dürfen über den Bau eines Kindergartens oder über die künftige Sicherheitspolitik des Landes. Was man hierzulande manchmal als eher zu bürgernahe Politik und lästige Pflicht mit allzu vielen Verzögerungsmöglichkeiten durch irgendwelche Interessengruppen beklagt, erweist sich in der EU als eine beträchtliche Schwäche. Die Konstruktion der EU als Zusammenschluss von Staaten mit parlamentarischen Regierungssystemen verbietet praktisch eine direktdemokratische Einflussnahme und
führt fast zwangsläufig zu der oft beklagten Bürgerferne. Kommt dazu, dass die Triade von Europäischem Parlament, Ministerrat und EU-Kommission nur ein sehr unvollständiges Abbild der parlamentarischen Systeme der Einzelstaaten darstellt. Was resultiert, ist eine Art von Kabinettspolitik mit vielen Möglichkeiten zu bilateralen, geheimen oder halbgeheimen Absprachen. Das System Europa gewinnt dadurch nicht an Vertrauen. Um so schlimmer, wenn dann doch einmal ein Referendum stattfindet, weil es gemäss Verfassung eines einzelnen EU-Mitgliedstaats stattfinden muss. Das passt dann gar nicht ins Konzept. Hat man sich doch mit Müh und Not in Nizza auf die Spielregeln zur (Ost-)Erweiterung der Union geeinigt und den kleineren Mitgliedstaaten einen Machtverzicht abgerungen - und dann kommt so ein direktdemokratischer Störfaktor, der alles zunichtezumachen droht. So geschehen vor ein paar Wochen mit der Abstimmung in Irland über die Nizza-Verträge. Die in den letzten Jahren durch enorme Liberalisierungsanstrengungen (und nicht in erster Linie, wie man zum Teil meint, durch die EU-Strukturhilfebeiträge) zu deutlich mehr Wohlstand und Wachstum gekommenen Inselbewohner hatten offenbar keine Lust auf Verwässerung. Man kann sich dazu stellen, wie man will, und man kann die EU-Osterweiterung auch wichtig und begrüssenswert finden oder nicht - relevant für unsere Frage, weshalb es in Europa an Vertrauen mangelt, sind nicht diese Themen, sondern der bemerkenswerte Umstand, dass man offenbar in der gesamten EU davon ausgeht, Irland werde seine Haltung schon noch korrigieren. In dieser Richtung und recht unverhohlen äusserten sich jedenfalls unmittelbar nach der störenden Abstimmung der französische Premier und der deutsche Bundeskanzler, als ob ihnen das Recht zustände, gegebenenfalls sogar die Machtmittel zur Verfügung stünden, verfassungsmässig zustandegekommene Volksentscheide einfach zu stornieren. Im Falle Ã-sterreich konnte man über die Legitimation europäischer Besorgnis allenfalls noch diskutieren, selbst wenn man dann die getroffenen Massnahmen für verfehlt, übertrieben und ungeeignet hielt. Im Fall des irischen Referendums gibt es eine solche Legitimation in keiner Weise. Für jeden EU-Bürger muss doch überdeutlich sein: Was hier an Missachtung gegenüber einem kleinen Mitgliedstaat geschieht, kann jederzeit und in noch viel verletzenderer Weise gegenüber den Individuen und Bürgern dieser Union geschehen.
Das Fehlen einer Verfassung, welche die Rechte der einzelnen Bürger und der Teilstaaten regelt und die in glaubwürdiger und nachhaltiger Weise die Macht der Zentrale einschränkt, rächt sich immer mehr und widerspiegelt sich, so unsere These, im Aussenwert der Währung dieses Gebildes. Die EU hat für den Euro eine Geldverfassung geschrieben, ohne selber eine Verfassung zu besitzen. Preise - und Währungsrelationen stellen auch nichts anderes als Preise dar - sind eine Frage der Erwartungen aller Marktteilnehmer für den künftigen Gegenwert. Der Euro leidet unter einem„ „Ohnmachts-Discount“, gedämpften Erwartungen also bezüglich des künftigen Gegenwerts, weil man sich immer wieder in der Ansicht bestätigt sieht, dass die Macht hinter den Kabinettsmauern steckt und weder für die einzelnen (vor allem die kleineren) Mitgliedstaaten noch die individuellen Bürger Verlass ist, in ihren Rechten nicht irgendwann massgeblich eingeschränkt zu werden. Als besonders gefährdet erscheint in dieser Konstellation der vergleichsweise wohlhabend gewordene Mitgliedstaat. Ist es denn Zufall, dass England und Norwegen bis heute der Währungsunion nicht angehören? Der Analogieschluss von der staatlichen auf die individuelle Ebene, also zum wohlhabenden Bürger oder dem, der es gerne werden wollte, liegt nahe: Die EU ist ein System mit ausgeprägten Enteignungsund Verwässerungsmechanismen.
3. Das Fehlen von Alternativen Um nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, der Wegelin-Kommentar habe nun definitiv den Pfad der Tugend politischer Enthaltsamkeit verlassen, sei angefügt, dass die Erfahrungen der einzelnen (namentlich der kleineren) europäischen Staaten wie auch der europäischen Bürger bezüglich der Wahrung ihrer Rechte ohne das multilaterale System der EU keinesfalls besser waren. Es müsste gegenüber der Geschichte völlig blind sein, wer an den dramatischen Übergriffen gegenüber Staaten und Individuen im zwanzigsten Jahrhundert vorbeisähe. Die EU ist eine Antwort auf das grauenvolle Kapitel der zwei europäischen Weltkriege. Und es gibt eine Art übergeordneter europäischer Staatsräson, die gewisse Einschränkungen sowohl auf einzelstaatlicher wie auch auf individueller Ebene zu rechtfertigen vermag. Eine Alternative zum europäischen Integrationsprozess ist nur schwer vorstellbar und irgendwie auch etwas weltfremd. Die Anerkennung des Sachverhalts, dass Alternativen zum europäischen Integrationsprozess vermutlich fehlen und dass eine Rückkehr zum vielstaatlichen Durcheinander kaum vorstellbar
ist, darf aber keinesfalls gleichgesetzt werden mit der Hinnahme jeglicher Konstruktionsfehler im europäischen System. Wenn es sich zudem herausstellt, dass die Konstruktionsfehler möglicherweise die Ursache für anhaltende Kursverluste einer der wichtigsten Weltwährungen sein könnten, dann muss die (gegebenenfalls durchaus auch politisch motivierte) Kritik zur messerscharfen ökonomischen Analyse mutieren. Denn es ist weder aus volkswirtschaftlicher Sicht noch für den Anleger ganz gleichgültig, wie es um die Kursaussichten der Anlagewährung Euro aussieht und weshalb die eine oder andere Entwicklung zu erwarten ist. Hier sei ein kleiner persönlicher Exkurs des Wegelin-Kommentators angefügt. Er hatte vor ein paar Monaten Gelegenheit, den für Steuerfragen zuständigen EU-Kommissar Vanden Abeele im kleinen Kreis kennenzulernen. Auf die Frage angesprochen, ob die EU-Kommission denn nicht allenfalls einen Zusammenhang zwischen den nicht eben anlegerfreundlichen Steuerplänen der EU und der mangelnden Attraktivität des Euro sehe, antwortete dieser, der Aussenwert des Euro kümmere die EU-Kommission angesichts des hohen Anteils an Binnenhandel in keiner Weise. Welch ein Unterschied zum kürzlich erfolgten Rückzieher’ der neuen US-Regierung von der Steuerharmonisierungs-Initiative der OECD! Die Amerikaner argumentierten just mit dem immanenten Kapitalhunger ihrer Wirtschaft und mit der Notwendigkeit, den Dollar und den amerikanischen Kapitalmarkt attraktiv zu erhalten. Europa braucht offenbar kein Kapital... Wenn es keine vernünftige Alternative zur europäischen Integration gibt, müsste wenigstens über Alternativen in der Gestaltung des Systems bzw. über Alternativen in der personellen Besetzung nachgedacht werden. Das Fehlen von Alternativen in der politischen Ausrichtung der europäischen Union und das faktische Vorherrschen sozialistischer Konzepte ist einer der grossen Unterschiede zwischen Europa und Amerika. Die USA beweisen alle paar Jahre, dass sie in der Lage sind, Präsidenten und deren Gefolgschaft abzuwählen. Einen vergleichbaren Prozess gibt es in Europa nicht. Eben: Es fehlt die Verfassung, und weil diese fehlt, kann sich auch kein Vertrauen bilden.
4. Arabesken und Filigrane Eines der Probleme rund um das mangelnde Vertrauen liegt darin, dass sich die Europäer unter dem alten Regime der Vielstaatlichkeit einigermassen zu arrangieren wussten und dass diese Arrangements im neuen System nun keinen Platz mehr haben dürfen bzw. auch vom neuen System aktiv bekämpft werden. Und, dass gerade deshalb und zusätzlich das neue System auf wenig Gegenliebe, Glaubwürdigkeit und letztlich Vertrauen stosst. Wir haben eingangs die gross, Notenumtauschübung erwähnt. Das feine Netzwerk von grösseren und kleineren Absicherungen der Europäer ausserhalb ihres eigenen Wirtschafts-, Rechts- und Steuerraums entfallt dadurch teilweise. Rigorose fiskalpolizeiliche Kontrollen machen das Bankkonto des Deutschen in Luxemburg zum Grossrisiko. Mit der Absicht, für Zinszahlungen grenzüberschreitcnd ein Meldeverfahren zwischen den Steuerbehörden einzuführen, bezweckt die EU, das über das zwanzigste Jahrhundert gewachsene feine Netzwerk der individuellen Absicherung, sprich Vorsorge, im jeweils anderen Wirtschafts- Rechts- und Steuerraum zu zerstören.
Das System der für das traditionelle Europa so typischen wirtschaftlichen Seitensprünge in andere Länder bzw. das filigrane Netzwerk eine teilweise im Schattenbereich operierenden Wirtschaft hat bis heute wenig Attraktion für ökonomische Analysen ausgeübt. Es liegt in der Natur der Sache, dass kaum Zahlen vorliegen und dass man deshalb auf Schätzungen angewiesen ist. Man geht, je nach Land, von einem Anteil von etwa 10 bis 25 Prozent der im grauen Bereich operierendcn Wirtschaft am Bruttosozialprodukt aus. Oder anders ausgedrückt: Der Anteil der nicht durchwegs in fiskalischer Legalitat arbeitenden Wertschöpfung ist in hohem Masse wohlstandsrelevant. Es besteht kein Zweifel, dass zeitweise in Ländern wie Italien die wirtschaftliche Tätigkeit völlig zum Erliegen gekommen wäre, hätten sich die Bürger nur in ihrem „offiziellen“ Beruf betätigt und nicht frühmorgens und nach Feierabend.,richtig“ zu arbeiten begonnen.
Die Existenz einer so gewichtigen Grauwirtschaft ist zum Teil erklärbar mit den in den meisten Ländern Europas vorherrschenden sehr hohen Steuerlasten. Wer 50 und mehr Prozent seines Einkommens an den Fiskus zurückgeben muss. dem fehlt jeglicher Anreiz zum Arbeiten, und vor allem, er kann kaum etwas zur Seite legen; es ist ihm das Sparen praktisch verwehrt.
5 Die Mikroökonomie des Schwarzgeldes
Hohe Steuerlasten allein erscheinen uns für die Erklarung des massiven Aufbaus von Vermögensanlagen ausserhalb des eigenen Systems allerdings nicht hinreichend. Denn den offenkundigen Vorteilen tiefer oder völlig abwesender Steuerbelastung auf den Kapitalien und auf den daraus fliessenden Einkünften stehen ja gravierende Nachteile gegenüber. Die Vermögensverwaltungskosten im Offshore-Bereich Sind typischerweise höher als im Onshore-Bereich, denn die damit beschäftigten Institute verfügen aufgrund der besonderen Konstellation uber eine (beschränkte) Monopolsituation, d.h. können den Spielraum zwischen dem marginalen Steuersalz., den ein Kapitalflüchtling in Heimatland zu entrichten hätte, und den im Offshore-Bereich auferlegten Gebühren weidlich ausnützen. Selbstverständlich teilen sich dann Anwälte, Treuhänder und weitere Instanzen in die sich anbietende Marge. Doch nicht nur Gebühren drücken: Vielfach ist auch das Zinsniveau im Offshore-Geschäft leicht tiefer, da es sich an den abwesenden Quellensteuern orientiert.
Ein weiterer, gewichtiger Nachteil des Offshore-Sparens liegt in der erschwerten Ruckführbarkeit des Ersparten, sollte man es denn einmal brauchen. Oder anders gesagt: Im Normalfall sind ausserhalb des heimischen Systems gebrachte Vermögensteile richtiggehend unbrauchbar. Sie stehen zwar als gebildetes Kapital den Volkswirtschaften über die Institutionen wie den Euromarkt, ggf. auch ziemlich direkt durch Portfolio-Investitionen in Aktien zur Verfügung. (Nebenbei bemerkt zeigt sich in diesem Sachverhalt auch die Doppelmoral der Fisken: Während sie auf der einen Seite jeder Mark und jeden Pfennigs an Steuersubstrat habhaft zu werden versuchen, bedienen sie sich auf ihrer Kapitalsuche völlig unbesehen der Offshoremärkte.) Für den Vermögensaufbau stehen dem Offshore-Kunden mit anderen Worten alle Türen offen. Der allfällige Entsparungsvorgang geht hingegen durch ein Nadelöhr. wenn überhaupt.
Kommt dazu, dass die Gefahr, mit den Strafverfolgungsinstanzen irgendwann enmal in Konflikt zu geraten, in den letzten Jahren drastisch gestiegen ist. Der immer grösser gewordene Geldhunger der Staatskassen wurde deich eine Tendenz zur Kriminalisierung des Steuervergehens begleitet. Aus der demokratischen Legitimation der Steuergesetze wird eine entsprechende Gleichschaltung von Steuerdelikten mit anderen strafrechtlich relevanten Tatbeständen wie Betrug, Diebstahl und dergleichen abgeleitet. Der Kapitalflüchtling sieht sich dadurch in dieselbe Kategorie von Menschen eingeteilt wie der Drogenkriminelle und der Mafioso. Geldwäscherei für alle, sozusagen.
Man kann es drehen, wie man will: Die mikroökonomische Rechnung geht nicht auf- wenn nicht ein zusätzliches, gewichtiges Argument für das Offshore-Sparen sprechen würde. Denn die finanziellen wie die sachbezogenen Nachteile der Vermögensbildung ausserhalb des heimischen Systems überwiegen die Vorteile der Abwesenheit fiskalischer Lasten bei weitem. Was könnte aber ein anderes, zusätzliches, gewichtiges Argument sein?
Bei scheinbar verlustbringendem Verhalten von Individuen bewährt es sich in mikroökonomischen Überlegungen immer, den Versicherungsgedanken ins Spiel zu bringen. Eine Versicherung definiert sich ökonomisch durch den Umstand, dass aus einem wahrscheinlichen Verlust ein sicherer Verlust gemacht wird. Beziehungsweise, dass die Individuen bereit sind, Kosten (=sichere Verluste) auf sich zu nehmen, um sich in Bezug auf gewisse Wahrscheinlichkeiten besserzustellen. Jede Feuer- und jede Unfallversicherung funktioniert so. Man zahlt Prämien und erleidet damit sichere Verluste, dafür hat man im unwahrscheinlichen Fall eines Schadeneintritts finanzielle Sicherheit.
Das Rätsel der Vermögensbildung im Offshore-Bereich löst sich damit auf: Offshore-Geld hat wenig, zumindest viel weniger als allgemein angenommen, mit steuerlichen Vorteilen zu tun, sondern kommt einer Versicherung der Individuen gegen den Organismus, dem sie als Bürger angehören, gleich. Für den Fall, dass sich dieser einmal gegen sie wenden könnte. Schon hier sei vorweggenommen, dass gerade deshalb die Absicht der EU, ihr unbestritten immenses Offshore-Problem unter dem Titel der aus ihrer Sicht notwendigen Steuerharmonisierung anzugehen, einer Operation am falschen Objekt und mit den falschen Instrumenten entspricht. Es geht nicht um Steuern, es geht um sehr viel mehr.
6. Gute Gründe für Misstrauen
Weiter oben haben wir über den Umgang der europäischen Bürger mit der Vielstaatlichkeit im zwanzigsten Jahrhundert gesprochen. Mittels Arabesken in andere Nachbailander und eines filigranen Netzes von kleinen oder grösseren Gaunereien an den Steuer- und an den Zollbehörden vorbei haben sie persönliche Vorsorge für den Fall der Fälle betrieben Dieser Fall der Fälle ist in der Geschichte mehrmals eingetreten. Die Deutschen haben bei zwei Währungsschnitten ihr ganzes Vermögen verloren und beim Zusammenschluss mit der DDR eine deutliche Verwässerung ihrer Währung erlitten. Es steht ausser Frage, dass sich der Organismus, dem sie angehörten, mehrfach gegen sie gewendet hat. Für die Franzosen und die Italiener sieht die Bilanz nicht viel besser aus. Italien litt noch bis vor wenigen Jahren unter periodischen Inflationsschüben, wie man sie heute vielleicht in der Türkei noch kennt. Inflation ist eine typische endogene Autoimmunerkrankung. Die Widerwärtigkeiten können noch weitgehender sein: Aus der subtilen strukturellen Gewalt der Entwertung und der Inflationierung kann unter bestimmten Umstanden durchaus auch manifeste Gewaltanwendung werden. So wurden noch in den siebziger Jahren in Portugal ganze Familien ins Gefängnis geworfen, nicht weil sie irgend etwas verbrochen hatten, sondern allein deshalb, weil sie wohlhabend waren. Das war die Zeit der kommunistischen Regierung. Wenn solche Leute Geld auf Banken ausserhalb ihres Organismus angelegt haben - wer kann ihnen das verdenken? Fiskalische Gründe hat dieses Vorsorgesparen sicherlich nicht!
Nun wird man einwenden, dass eben anstelle und gerade zur Verhinderung solcher und ähnlicher Entwicklungen in einzelnen Mitgliedsländern die EU mit ihren Garantien der Freiheiten, den Regeln des Binnenmarktes und dem Währungsvertrag von Maastricht getreten sei. Die Geschichte sei Geschichte und solle es auch bleiben. Selbstverständlich ist man weit davon entfernt, sich etwas anderes zu wünschen. Nur: Um jede Spur von Misstrauen auszuräumen. müssten auch die wesentlichsten Probleme, gerade in dem für jedes Individuum so sensitiven Vorsorgebereich, gelöst sein. Sie sind es nicht.
7. Die demografische Zeitbombe
[Folgt eine ausführliche Begründung der Ansicht, daß die europäischen Altersvorsorgesysteme aus demogrfischen Gründen unfinanzierbar sind.]
9. Die Kapitalbildung fehlt
Wir vermuten, dass der EU-Bürger um die Aussichtslosigkeit der bestehenden Alterssicherungssysteme in dar EU weiss oder sie zumindest erahnt. Darin liegt der Grund, weshalb es eine so grosse Zahl derer gibt, die sich trotz Steuerlast oder an dieser vorbei eine Absicherung ausserhalb des Organismus leisten. Auf den Zusammenhang mit der Stellung der Schweiz und ihrem Bankgeheimnis zur Europäischen Union wird ganz am Schluss des Kommentars zurückzukommen zu sein.
Die Übermacht von transferorientierten Vorsorgesystemen ist unseres Erachtens die Ursache für eine weitere strukturelle. Schwäche des Alten Kontinents gerade gegenüber den Vereinigten Staaten: Europa bildet zu wenig Kapital. Indem ein grosser Teil des nicht für den Konsum bestimmten privaten Einkommens nicht in den Spartopf, sondern in (steuerähnliche) Transferleistungen wandert, verringert sich das Sparpotential und damit die Möglichkeit zur Kapitaläufnung markant. Zwischen Sparen, Kapitaläufnung, Investitionen und Wirtschaftswachstum gibt es einen engen Zusammenhang. Je höher das aus Sparanstrengungen fliessende Kapital, desto investitionsfreudiger kann eine Volkswirtschalt gedeihen. Neueste Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Förderung erhöhter Sparquoten durch Senkung, allenfalls Eliminierung bestimmter Einkommenssteuern (wozu auch Leistungen an die I. Säule gehören) einen bisher unterschätzten Effekt auf die Kapitalbildung und die Investitionsneigung einer Gesellschaft haben.
Europas Unternehmungen, namentlich auch die kleinen und mittleren, finanzieren sich traditionell weitgehend über Bankkredite. Einen sie alimentierenden Kapitalmarkt gibt es nur ansatzweise. Dieses Fehlen ist vielleicht das offenkundigste Zeichen dafür, dass es zwischen Kapitalismus und Sozialismus halt doch einen Unterschied gibt.
Unsere Voraussagen in der Sache sind eher pessimistischer Natur. Zunächst glauben wir aufgrund politokönomischer Überlegungen kaum daran, dass dem politischen System in der EU und in bestimmten Mitgliedsländern wirklich daran gelegen ist, vom Umlageverfahren konsequent wegzukommen. Das Umlageverfahren schafft Untertanen. Das in 10, 20 und mehr Jahren notwendige Aushandeln von Umverteilungsbedingungen zwischen den Generalionen erweitert den Spielraum und die Macht des politischen Systems. Für Leute, denen es um die Maximierung von politischer Macht geht, bestehen keinerlei Anreize, an den Strukturen zu rütteln. Selbst wenn offenkundig das Desaster droht, und das tut es, dann erweisen sich solche Strukturen als erstaunlich persistent. Kapitaldeckung und privat gehaltenes Eigenkapital dagegen schüfe freie und mündige Bürger. Alle Erkenntnisse der politischen Theorie weisen darauf hin, dass darin keine Zielsetzung der an der Politik beteiligten Kräfte besteht (leider sogar unbesehen der politischen Couleur...).
Die Differenzen zwischen den vorhandenen Pensionsvermögen in den EU-Kernländern und beispielsweise England oder den Niederlanden weisen darüber hinaus eher in eine andere Richtung: Es würde nicht verwundern, wenn bald einmal von Brüssel aus eine Initiative zu einer „Rentenharmonisierung“ gestartet würde. Das Ziel wäre, wie immer, innerhalb des EU-Binnenmarktes „gleichlange Spiesse“ zu schaffen; der Effekt liefe auf einen Raubzug der einen bei den andern hinaus.
Es wind spannend sein, inwieweit die Erkenntnis grundlegender struktureller Unterschiede die Briten in ihrer Haltung beeinflussen wird, der Währungsunion beizutreten oder nicht. Jenseits des Ärmelkanals existiert, beinahe wie jenseits des Atlantiks, ein florierender Kapitalmarkt. So mir nichts, dir nichts werden die Engländer ihre harte Wahrung, ihr Pensionssystem und ihren Kapitalmarkt kaum opfern. Von diesen Entwicklungen wird der weitere Kursverlauf des Euro aber massgeblich abhängen.
10. Und das Schweizer Bankgeheimnis?
Bis dahin haben wir tunlichst vermieden, als Teil des „filigranen Netzes und der Arabesken“ die Schweiz mit ins Spiel zu bringen. Aber es ist natürlich so, dass der hiesige Bankenplatz eine der beliebtesten Destinationen für das nach den vorstehenden Überlegungen definierte Vorsorgesparen der Europäer dargestellt hat. Als Nichtmitglied der EU und mit eigener Währung erfüllt die Schweiz geradezu ideal die Bedingungen für die Kapitaläufnung ausserhalb des jeweiligen Organismus der Kunden.
Wir haben analytisch aufzuzeigen versucht, dass es nicht primär fiskalische Gründe (sprich Steuerhinterziehung) sind, die den Europäer zur Kapitaläufnung ausserhalb seines Systems bewegen. Die Erfahrung zeigt im Gegenteil, dass Ausländer in der Schweiz oft in Finanzinstrumente (z.B. Aktien) investieren, die zu Hause auch nicht oder nur gering besteuert würden! Aber eben: der Europäer hat vorderhand wenig Grund, jegliches Misstrauen gegenüber seinem System abzustreiten. Die Nachfrage nach Orten auf der Welt. wo man „ultimatives Eigenkapital“ bilden kann, wird anhalten.
So gesehen wird der Finanzplatz Schweiz in nächster Zeit an Bedeutung gewinnen. Denn innerhalb der EU wird das filigrane Netz, falls die Politik mit dem Meldeverfahren greift, kaum überleben können. Fragt sich dann aber, ob die Schweiz dem jetzt schon offenkundigen und sich vermutlich noch verstärkenden Druck aus Brüssel wird standhalten können. Die Schweizer Regierung hat gegenüber der EU ihre Bereitschaft erklärt, über eine Vereinnahmung von Steuern auf Zinseinkommen zu verhandeln. Das Bankgeheimnis hingegen sei sakrosankt. Am 4. März hat das Schweizer Volk in einer Abstimmung über einen rasch zu vollziehenden EU-Beitritt mit kaum, zu überbietender Deutlichkeit diese Haltung zugunsten des Finanzplatzes noch bestätigt.
Wenn unsere mikrookomomisch hergeleitete Vermutung stimmt, dass fiskalische Gründe nur zu einem Teil das Bedürfnis nach „Geld in der Schweiz“ nach sich ziehen, dann ist die schweizerische Haltung bezüglich einer (angemessenen!) Zinsbesteuerung durchaus konsistent. Die sachliche Verknüpfung der Existenz des Bankgeheimnisses mit der Unfähigkeit Europas, seine Altersvorsorge glaubwürdig zu regeln und für seine Wirtschaft genügend Kapital zu äufnen, dürfte jedoch, wenn die Argumentation überhaupt wahrgenommen wird, da und dort noch etwas Koplzerbrechen und Ärger bereiten. Denn es zeigen sich leider mehr Inkompatibilitäten, als man es vielleicht gerne hätte.
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