von Philipp Gerbert
"Die US-Wirtschaft ist in tiefer Rezession.“ Aber nein, dies ist eine üble Verleumdung. Die Statistikien sind ja gerade erst erschienen: Das Wachstum hat zwar abgenommen, ist aber keineswegs auf null gefallen. Selbst die Entlassungen waren im Juli nicht mehr so schlimm wie im Juni.
Es gibt Zeitpunkte im Leben, in welchen die unmittelbare Wahrnehmung in krassem Gegensatz zu offiziellen Verlautbarungen steht. Und selbst wenn man nicht genau sagen kann, worauf die Diskrepanz zurückzuführen ist: Im Zweifel sollte man der eigenen Wahrnehmung trauen.
Ostdeutschland 1991
Im Frühjahr 1991 wurde ich als junger Berater nach Berlin gesandt, um bei der Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft zu helfen. Nach wenigen Wochen wurde uns klar, dass die gesamte ostdeutsche Industrie de facto zusammengebrochen war. Mit der harten D-Mark war auch die harte Wirtschaftsrealität gekommen: Millionen Metallarbeiter waren nicht nur momentan überflüssig. Nein man würde sie einfach nie wieder brauchen.
Und was berichteten die offiziellen Stellen? „Erste Erfolge bei der Privatisierung.“ „Überdurchschnittliche Wachstumsraten im Osten“. „Aufbruchstimmung wie in der Gründerzeit.“ Die Presse nahm den Optimismus auf und kreierte eine wirklichkeitsferne Wahrnehmung, wie es eine konzertierte DDR-Propaganda nicht besser hätte erzielen können.
USA 2001
Aber das kann man doch unmöglich vergleichen! Die USA haben hochsensible und langjährig getestete Wirtschaftsindikatoren. Wenn die offiziellen Statistiken hier nicht korrekt sind, wo den dann auf der Welt?
Hier im Silicon Valley mag es ja trist aussehen, aber der Rest des Landes ist doch in Ordnung. Doch wo genau? In San Francisco? Kaum, dort fliehen die Einwohner bereits vor der Krise aus der Stadt. In Chicago und Detroit? Auch nicht - die traditionellen Sektoren sind genauso betroffen. In New York? Selbst da hat der Abschwung Einzug gehalten. Vielleicht in Texas? Nicht einmal der Präsidentenstaat blüht mehr, trotz seines Ã-lreichtums.
Das Problem mit Statistiken
Am Freitag, den 3. August veröffentlichte die Arbeitsbehörde der USA „verhältnismässig“ erfreuliche Nachrichten. Nur 42 000 Stellen seien im Juli verloren gegangen und die Arbeitslosenrate unverändert geblieben. Nach dem Wochenende widersprach die renommierte „Outplacement“-Agentur, Gray&Christmas diesen Zahlen entschieden: Im Juli seien über 200 000 Stellen verloren gegangen, 65 % mehr als im Juni. Im gesamten ersten Halbjahr 2001 seien bereits 777 362 Stellen elimiert worden.
Es ist für den Leser natuerlich nicht entscheidbar, wer nun besser zählen kann, aber ein paar andere Beobachtungen drängen sich auf:
Export der Stellenkürzungen:Wenn die Gesundheit einer Wirtschaft an den Entlassungen gemessen wird, so muss man zur vollen Erfassung der Lage über die Landesgrenzen hinwegschauen: In den Zuliefererländern in Asien, insbesondere in Taiwan, Japan, Singapore und den Philippinen haben nach derzeitigen Schätzungen mehr Menschen auf Grund der Nachfrageschwäche in der US High-Tech-Industrie ihre Arbeit verloren, als in Nordamerika selbst.
Der Dienstleistungssektor hält die Luft an: Wie in den meisten Rezessionen ist zunächst die produzierende Industrie betroffen. Doch zum ersten Mal macht sich die Krise auch im gesamten Dienstleistungssektor bemerkbar, wobei die Creme der Branche nicht verschont bleibt: Den Investmentbanken fehlen die Deals und seit Jahresanfang sind viele Bereiche massiv unterbeschäftigt. Es brauchte einige Monate, bis das Tabu gebrochen wurde und die ersten Entlassungen vorgenommen wurden und selbst jetzt hält sich die Branche noch zurück. Aber lange werden es die Banker nicht mehr durchhalten können.
Unternehmensbratungen und IT-Consultants geht es nicht viel besser. Selbst Branchenprimus McKinsey, normalerweise als"Cost-Cutter" gerade in Rezessionen erfolgreich, bleibt nicht verschont. Inbesondere die Finanzzentren Toronto und London wurden in Mitleidenschaft gezogen. Der in der Presse weit diskutierte „Capital Call“ an die weltweite McKinsey-Partnerschaft, um das Kapitalpolster der Firma zu erhöhen, war zwar im Grunde nichts ungewoehnliches. Allerdings diente er diesmal wohl nicht der Expansion, wie in frueheren Jahren, sondern eher der Konsolidierung. Die Boston Consulting Group wiederum machte Schlagzeilen, als sie ihren Klienten „preisgünstig“ Berater zur Uebernahme anbot. IBM Global Services, Cap Gemini Ernst&Young, PriceWaterhouseCoopers und viele mehr haben bereits Entlassungen vorgenommen, während andere, wie Deloitte Consulting, eher sehr niedrige Auslastungsraten akzeptieren. Die Internet-Berater sind kaum mehr zu retten: Razorfish, Sapient, Scient/IXL und Viant sind in freiem Fall, während MarchFirst schon aufgegeben hat.
Die meisten dieser Dienstleister versuchen die Luft anzuhalten und durchzustehen - aber wie lange noch?
Bollwerk Konsum?
Der Star der derzeitigen Krise ist der amerikanische Konsument. Er allein stabilisiert derzeit die Wirtschaft durch einen ungebrochenen Ausgabedrang.
Doch wer kann schon glauben, dass das immer so weitergeht. Zwar wird die zunehmende Verschuldung des Durchschnittsamerikaners - für die meisten Menschen offensichtlich - von einigen „modernen“ Ã-konomen angezweifelt. Wenn man alles richtig in Betracht ziehe und das Auto (auch den Cadillac) als Investition und nicht als Konsum ansehe, so wäre die Zunahme der Verschuldung gar nicht so gross. Man kann kaum umhin an die „New Economy“-Analysen der letzten Jahre erinnert zu werden, welche auf ähnliche Art und Weise die Aktienmarktblase wegzuanalysieren versuchten.
Zuletzt könnte es eben doch wie in Ostdeutschland ausgehen und der Konsumrausch sich als kurzlebig erweisen. Und dann wird auch der phantasievollste Statistiker sich schwer tun, die Krise wegzudiskutieren.
Dann bleibt nur noch die Hoffnung, dass der nordamerikanische Kontinent seine fundamentale Stärke, auf erkannte Krisen schnell zu reagieren, nicht verloren hat.
HANDELSBLATT, Dienstag, 07. August 2001
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