Kommentar: Frankfurter Börse
lässt die Show weitergehen
Selten wurde eine Gelegenheit so deutlich vertan, sich im Angesicht der Katastrophe als souverän zu erweisen. Die Deutsche Börse AG demonstrierte am Tag der Anschläge gegen das World Trade Center und das Pentagon eine Art von Gelassenheit, die man so lieber nicht erlebt hätte. Reinhard Schlieker über Fragen der Pietät und Menschlichkeit nach den Anschlägen in den USA.
Es war am frühen Nachmittag des Dienstags, eines eher ereignisarmen, aber auch nicht so deprimierenden Börsentages, als sich die Nachricht vom Anschlag auf das World Trade Center im Börsensaal verbreitete. Es dauerte gewiss eine Weile, ehe den Börsianern klar wurde, dass dies kein schreckliches Unglück, sondern die Tat von Terroristen war.
Zu begreifen, dass Menschen überhaupt in Lage sind, derartiges zu planen und auszuführen, brauchte seine Zeit, und bis jetzt dürfte es den meisten nicht gelungen sein, die gesamten Implikationen des Geschehenen zu erfassen. Das Wort vom Abgrund an Unmenschlichkeit kann man sich hier in Bildsprache übersetzen - der Boden des Abgrunds ist so tief unten, das er kaum zu sehen sein dürfte.
Börsianer gegen Börse
Erste Reaktionen waren auf dem Parkett nach dem Entsetzen die Sorge um die Betroffenen. Da mit dem World Trade Center eines der wichtigsten Finanzzentren New Yorks (und der Welt) vernichtet worden war, musste jeder im Börsensaal fürchten, dass Freunde, Kollegen und Geschäftspartner unter den Opfern sein würden. Schlagartig waren die vertrauten Ansprechpartner jenseits des Atlantik einfach nicht mehr da.
Händler und Makler rechneten mit einer sofortigen Einstellung des Börsenhandels. Stattdessen lief die Maschinerie weiter wie gewohnt - von seiten der Deutschen Börse herrschte Schweigen, abgelöst von Untätigkeit. Die Börsianer konnten es nicht fassen.
Sie mussten, ob sie wollten oder nicht, weiter Geschäfte ausführen, als sei nichts geschehen. Der dramatische Kurseinbruch und einige erratische Indexbewegungen zeigten natürlich sofort sehr deutlich, dass eine vernünftige Kursfindung nicht mehr möglich war.
Ausreden...
Die seither immer wieder gehörten Argumente, man müsse den Handel weiter ermöglichen und den Anlegern die Chance zur Reaktion geben, werden durch Wiederholung nicht wahrer. Da viele Marktteilnehmer anderes im Sinn hatten, als mit ihren Geschäften business as usual zu betreiben, wie die Deutsche Börse AG es offenbar für normal hielt, kamen ohnehin nur verzerrte Kurse zustande. Dass New York als Leitbörse ausfiel, verstärkte diesen Effekt.
Ein weiteres Argument, man dürfe den Terroristen nicht nachgeben und ihnen indirekt das Heft des Handelns überlassen, wirkt angesichts des Geschehenen geradezu zynisch. Privatanleger hatten nicht die geringste Chance, am Nachmittag innerhalb von Sekunden Anlageentscheidungen zu treffen oder zu überdenken.
Die meisten von ihnen dürften in diesem Moment andere Sorgen gehabt haben (wie die meisten Profis auch). Anschließend konnten sie dann feststellen, was die Turbulenzen von ihren Depots übriggelassen hatten. Die Interessenvereinigungen der Kleinanleger raten seither auch dringend davon ab, in der jetzigen Situation Anlageentscheidungen zu treffen.
...und dann Funkstille
Während also Hunderte von Mitarbeitern der großen amerikanischen Investmentfirmen in den Trümmern des World Trade Center ums Leben kamen, brauchte man in Frankfurt eine halbe Ewigkeit, um den Handel wenigstens mit amerikanischen Aktien auszusetzen - für etwas mehr als eine Stunde.
Nach weiterem intensiven Nachdenken verfiel die Börsenleitung auf die Idee, den Parketthandel bereits um 19.15 Uhr zu beenden - das ist eine Viertelstunde (15 Minuten!) vor dem regulären Parkettschluss. Ehe es soweit war, nahm ein anonymer Anrufer mit seiner Bombendrohung der Deutschen Börse die unsägliche Entscheidungsfindung über richtiges Verhalten ab. Mit der Räumung des Hauses war dieser schreckliche Börsentag dann zu Ende.
Es wäre eine Chance gewesen, Größe zu zeigen, wie das einige Industrieunternehmen taten (durch Absage lang geplanter Festlichkeiten und ähnlicher Anlässe). Es hätte eine Gelegenheit sein können, zu beweisen, dass nicht Geld und Geschäft die alles überragenden Themen sein müssen. Man hätte der Ã-ffentlichkeit demonstrieren können, dass man nicht versucht, in jeder noch so schrecklichen Situation die letzte müde Mark zu verdienen.
Alle diese Gelegenheiten wurden vertan und die Deutsche Börse AG, zu deren Anteilseignern eine Menge Privatleute gehören, erwies sich als ungerührt. Ein gefühlloser Koloss, den nichts aus der Fassung bringt - wie sympathisch sich dieses Unternehmen dadurch dargestellt hat, mag jeder selbst beurteilen.
Schaden angerichtet
Abgesehen davon, dass die Börsenhektik nicht im Sinne funktionierender Märkte gewesen sein kann, ist das Verheerendste sicher der Eindruck, der in der Ã-ffentlichkeit entstehen musste. Von hartherzigen Geldmenschen ist da die Rede, von rohen, eiskalten Krämerseelen - der Schaden geht viel weiter als nackte DAX-Zahlen vermuten lassen könnten.
Welchen Eindruck die amerikanischen Geschäftspartner von ihren europäischen Kollegen haben müssen, wollen wir vielleicht so genau gar nicht wissen. Dies ist mehr als ein PR-Desaster. Dies ist indiskutables Verhalten einer börsennotierten Gesellschaft, mit dem sich der Aufsichtsrat und die Anteilseigner der Deutschen Börse AG befassen sollten - und zwar so, dass es die Ã-ffentlichkeit diesseits und jenseits des Atlantik erfährt.
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