FLÜCHTLINGSDRAMA IN AFGHANISTAN
Das unsichtbare Elend
Von Marion Kraske
7,5 Millionen Menschen brauchen dringend Nahrungsmittel, mehrere hunderttausend Menschen sind auf der Flucht - die humanitäre Situation in Afghanistan ist verheerend. Doch die menschliche Tragödie spielt sich unter Ausschluss der Ã-ffentlichkeit ab. Hilfsorganisationen schlagen Alarm.
DPA
Afghanische Flüchtlingskinder in einem Camp an der Grenze zu Tadschikistan: Nur eins von fünf Kindern erreicht das 5. Lebensjahr
Hamburg - Den Anfang machte die Uno-Menschenrechtskommissarin. Fast eine Woche nach Beginn der amerikanischen Luftanschläge auf Ziele in Afghanistan forderte Mary Robinson Ende vergangener Woche eine Unterbrechung der Angriffe."Wir brauchen eine Pause, um humanitäre Hilfsorganisationen im großen Rahmen starten zu können", forderte Robinson eindringlich und stellte klar:"Wir brauchen dringend Zugang zur Zivilbevölkerung." Stand bislang die uneingeschränkte Solidarität mit den USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus im Vordergrund, mehren sich nun die Stimmen, die vor allem die humanitäre Lage im Blick haben. Das vorrangige Ziel der Militäraktion, den Sturz des Taliban-Regimes, scheint mit ausbleibendem Erfolg dahinter zu verblassen.
Auch die Grünen machen inzwischen Front gegen die US-Luftschläge. Nachdem die Parteivorsitzende Claudia Roth von einem mehrtägigen Reise aus Pakistan zurückgekehrt war, forderte sie - in Anlehnung an die Menschenrechtskommissarin - eine zeitlich befristete Feuerpause. Ihr Credo: Die Anti-Terror-Koalition sei auch eine Koalition der Humanität. Nun müsse den Menschen in Afghanistan geholfen werden, die von einer Hungersnot bedroht seien. Der grüne Parteirat schloss sich der Forderung an, einen vorübergehenden Stopp der Luftangriffe zu prüfen - zum Unmut von Kanzler und Koalitionspartner.
Tatsächlich ist die Lage im Land verheerend. Ein Drama, das sich allerdings weitgehend im Verborgenen abspielt. Denn anders als im Kosovo, in Bosnien, oder in Ruanda gelangen diesmal kaum Bilder von Flüchtlingstrecks in die Ã-ffentlichkeit. Die meisten Journalisten haben das Land verlassen oder sind im Norden des Landes unterwegs. Was sich im afghanischen Kernland abspielt, weiß daher eigentlich niemand. Flüchtlinge, die erschöpft in Auffanglagern im Norden oder im Nachbarland Pakistan ankommen, lassen jedoch das Ausmaß der Not vermuten.
7,5 Millionen in Not
Nach Einschätzung der Vereinten Nationen sind in Afghanistan zurzeit etwa 7,5 Millionen der 20 Millionen Menschen direkt auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, etwa zwei Millionen mehr als vor den Luftangriffen. In den vergangenen Monaten erlebte das ohnehin vom Bürgerkrieg gebeutelte Land die schlimmste Dürre seit Jahren. Hinzu kommen die Folgen des Taliban-Regimes, die das Land weiter zugrunde richteten. Die Folgen sind dramatisch: Teile der Bevölkerung sind unterernährt, berichtet die Hilfsorganisation"Ärzte ohne Grenzen", die seit 20 Jahren vor Ort tätig ist. Nach Angaben des Kinderhilfswerkes der Vereinten Nationen (Unicef) stirbt jedes vierte Kind in Afghanistan vor seinem fünften Geburtstag.
REUTERS
Die Flüchtlinge, die sich in die Nachbarländer durchschlagen, lassen das wahre Ausmaß der Katastrophe erahnen: Der zweijährige Gul Baz wiegt gerade einmal 5,3 Kilogramm
Die EU-Kommission stufte das Land in ihrem Jahresbericht als"vergessenen Konflikt" ein. Auch vor den US-Angriffen waren Tausende Afghanen auf der Flucht vor den Kämpfen der oppositionellen Nordallianz und der Taliban-Truppen. Durch die Bombardements hat sich die Lage nun weiter verschärft: Die Binnenmigration hat seit den Luftangriffen weiter zugenommen. Viele Afghanen versuchen ihre Familien vor den Bombenschlägen in Sicherheit zu bringen.
"Es droht eine humanitäre Katastrophe"
Zusätzlich haben die Vereinten Nationen ihre Hilfslieferungen vorübergehend eingestellt. Andere Hilfsorganisationen klagen darüber, dass sich zurzeit keine Fahrer finden, die bereit sind, Hilfsgüter ins Land zu bringen."Wir sind sehr besorgt, wir befürchten das Schlimmste", erklärt Ärzte-Ohne-Grenzen-Sprecherin Kattrin Lempp gegenüber SPIEGEL ONLINE. Wenn in den nächsten vier Wochen keine neuen Lebensmittel ins Land kommen, werden viele"verhungern und erfrieren", warnt auch Uli Post, Sprecher der Deutschen Welthungerhilfe."Dann kommt es zu einer humanitären Katastrophe."
Aus Sicht der Hilfswerke ist die Lage alarmierend. Rupert Neudeck vom Flüchtlingskomitee Cap Anamur kommt gerade aus dem Norden Afghanistans. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE spricht er von einem"Wettlauf mit der Zeit". Mitte November ist bereits mit dem Wintereinbruch zu rechnen. In den Flüchtlingslagern säßen fast 400.000 Menschen fest, die dringend auf Hilfe von außen angewiesen seien."Wir brauchen eine Riesentonnage an Lebensmitteln und winterfeste Sachen", fordert Neudeck.
Die Strategie der Amerikaner, Bomben für das Taliban-Regime und Brot fürs Volk, wird von den meisten Hilfsorganisationen vehement abgelehnt. Die abgeworfenen Care-Pakete stellten keine zielgenaue Hilfe dar, lautet die weitverbreitete Kritik an den"Keksbombern"."Das ist eine gut gemeinte Geste, aber keine humanitäre Hilfe", meint der Sprecher der Deutschen Welthungerhilfe Post und nennt ein weiteres Problem, nämlich das der Verteilungsgerechtigkeit. Mitarbeiter der Organisation, so Post, hätten berichtet, dass sich die Menschen auf der Erde um die Pakete prügelten. Nach Berichten des britischen Senders BBC werden die Nahrungsmittelpäckchen auf Märkten inzwischen zu Höchstpreisen zum Verkauf angeboten.
Zudem warnen das Deutsche Rote Kreuz und Medico International, dass der Abwurf von Lebensmittel-Paketen aus der Luft die Bevölkerung in verminte Gebiete locken könnte. Afghanistan gehört mit zu den am stärksten mit Minen belasteten Ländern weltweit. Außerdem, kritisieren einige Hilfswerke, gehe die Zusammensetzung der Care-Pakete - neben Reis, Marmelade auch Erdnussbutter - an den Nahrungsgewohnheiten der Afghanen vorbei.
Was den Hilfsorganisationen zusätzlich übel aufstößt, ist die Verknüpfung von Militärschlag und humanitärer Aktion."Humanitäre Hilfe muss neutral sein", fordert die Deutsche Welthungerhilfe. Die Organisation baut darauf, dass sie in den nächsten Tagen einen Zugang zu dem Land erhält. Indirekt stützen einige der Hilfswerke die Forderung über eine Aussetzung der Luftangriffe:"Krieg führen und humanitäre Hilfe leisten - beides zusammen geht nicht", lautet der Tenor.
Risiko durch Streubomben
AFP/DPA
Afghanische Flüchtlinge auf dem Weg nach Pakistan. Mittlerweile haben sowohl Pakistan als auch der Iran ihre Grenzen geschlossen
Neben der mangelhaften Versorgungslage machen den Afghanen inzwischen auch die anhaltenden Bombardements der US-Streitkräfte zu schaffen. Nach bislang unbestätigten Berichten sind in dem Dauerangriff auch zivile Opfer zu beklagen, insgesamt sollen 300 Menschen getötet worden sein - die meisten von ihnen in Kurram, einem Dorf nahe Dschalalabad. Eine Gruppe ausländischer Journalisten durfte das Dorf unter Aufsicht der Taliban besuchen. Nach Angaben der Korrespondentin der Nachrichtenagentur Associated Press berichteten Bewohner von bis zu 230 Getöteten seit Beginn der Luftschläge.
Noch vor einer Woche hatte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld betont, die amerikanischen Einheiten nähmen lediglich militärische Ziele unter Beschuss, keine zivilen. Wie wenig zielgenau die US-Flieger allerdings operieren, beweist auch die Bombardierung eines Rot-Kreuz-Lagers in Kabul. Das Pentagon musste inzwischen einräumen, das Gebäude mit einer 450-Kilogramm-Bombe zertrümmert zu haben. Die Streitkräfte hätten irrtümlich ein Lagerhaus der Taliban-Miliz für militärische Zwecke vermutet. Tatsächlich befanden sich nach Auskunft des Internationalen Roten Kreuzes in dem Gebäude Weizen, Decken und Ausrüstung.
Vor diesem Hintergrund geraten auch die von den US-Truppen eingesetzten Mittel zunehmend in die Kritik. Der Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion für Menschenrechte, Rudolf Binding, beklagte jüngst den Einsatz von Streubomben."Diese Streubomben überschreiten die Grenzen." Die Zivilbevölkerung dürfe nicht in den Kampf gegen die Taliban einbezogen werden.
Die so genannten"cluster bombs" werden vorwiegend gegen große Ziele eingesetzt, sie richten fußballfeldgroße Schäden an. Wegen der schweren Wunden, die sie reißen, haben Menschenrechtsorganisationen mehrfach ihre Ächtung gefordert.
www.spiegel.de
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Wo bleibt die Empörung, das Medienecho, die Schweigeminuten, die Fahnen auf Halbmast, die Spendensammlungen, die Gerechtigkeit, ja die «infinite justice»? Sind diese Menschen weniger wert? Aber damit die Medien ja nichts zu berichten haben, werden die Satelitenaufnahmen von einer Privatfirman auch noch von der Regierung aufgekauft. ZUM KOTZEN!
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