Die sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Wachstumsprognosen drastisch zurückgenommen und sehen Deutschland am Rande einer Rezession. In ihrem Herbst-Gutachten, das vor der offiziellen Veröffentlichung am Dienstag schon am Vorabend bekannt wurde, hieß es:"Die deutsche Wirtschaft befindet sich zurzeit am Rande einer Rezession." Das Wachstum werde 2001 nur 0,7 Prozent erreichen, 2002 aber auf 1,3 Prozent anziehen und damit deutlich unter der Frühjahrsschätzung der Institute liegen. Die Arbeitslosenzahl werde im Durchschnitt des Jahres 2002 mit 3,86 Millionen noch über der des laufenden Jahres liegen. Fünf der sechs Institute fordern daher, Steuersenkungen vorzuziehen und befristet ein höheres Staatsdefizit hinzunehmen, was Finanzminister Hans Eichel (SPD) erneut ablehnte.
Eichel hatte erst kürzlich seine Wachstumsschätzungen auf 0,75 Prozent für dieses Jahr nach zuvor rund zwei Prozent und ein bis 1,5 Prozent für das nächste Jahr nach zuvor rund 2,25 Prozent gesenkt. Er erteilte den Forderungen der Institute in der"Bild"-Zeitung eine klare Absage."Wir werden... nicht in höhere Schulden ausweichen", sagte er. Weitere befristete Steuersenkungen würden der Konjunktur kaum helfen. Eichel bekräftigte, er wolle trotz vielfältiger Kritik weiterhin die Tabak- und Versicherungssteuer erhöhen. Der aktuelle Bundeshaushalt sei im Lot."Wir gehen jetzt - wie viele andere Länder, durchs Tal, aber nächstes Jahr wird es auch wieder aufwärts gehen."
Auch die Grünen-Finanzpolitikern Christine Scheel sprach sich gegen einen Kurswechsel in der Finanzpolitik aus. Dem Radiosender FAZ 93,6 sagte sie, ein Vorziehen von Steuerentlastungen würde insbesondere Städte und Gemeinden weiter belasten und für etliche"das Aus" bedeuten. Scheel äußerte die Hoffnung, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen weiter senkt und damit die Konjunktur stützt.
Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) unterstützte die Empfehlungen der Institute und forderte die Bundesregierung zu einem Kurswechsel in der Beschäftigungspolitik aus."Wir brauchen in Deutschland wirklich eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes", sagte Merz in der ARD. Die Konjunkturkrise sei keine Folge der Anschläge in den USA am 11. September, sondern beruhe auf Problemen, die sich bereits seit einem Jahr abzeichneten, was auch die Institute bestätigt hätten.
Die neuesten Wachstumsschätzungen der Institute liegen für 2001 um rund 1,4 Prozentpunkte und für 2002 um rund 0,9 Punkte unter den Prognosen vom April des Jahres. Zwar habe der Abschwung schon vor einem Jahr begonnen, die Auswirkungen der Anschläge in den USA belasteten das Wirtschaftklima aber noch zusätzlich. Auch im Euroraum erwarten die Institute in diesem Jahr mit 1,5 Prozent und 2002 mit 1,8 Prozent ein Wachstum, das deutlich unter ihren bisherigen Prognosen liegt.
Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland dürfte nach Auffassung der Wirtschaftsforscher im Winter 2001 auf saisonbereinigt 3,9 Millionen steigen. Unbereinigt seien das dann rund 4,25 Millionen Arbeitslose. Ende des nächsten Jahres werde sie bei 3,8 Millionen liegen. Das Ziel von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), bis Herbst 2002 die Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen zu senken, ist den Instituten zufolge nicht erreichbar. Die Arbeitslosenquote werde im Durchschnitt des laufenden Jahres 9,0 Prozent und 2002 gar 9,1 Prozent betragen.
Die Konjunkturschwäche wird nach Einschätzung der Institute verhindern, dass die Regierung ihre Haushaltsziele erreicht. Das Staatsdefizit werde in diesem Jahr mit 2,5 Prozent um einen Prozentpunkt über den ursprünglichen Plänen liegen und im nächsten Jahr bei 2,0 Prozent. Dem Staatshaushalt dürften gemessen an der Steuerschätzung vom Mai rund sechs Milliarden Mark fehlen. Dennoch sehen fünf der sechs Institute Raum für ein Vorziehen der für 2003 geplanten Steuerentlastungen, ohne dass unter mittelfristigen Aspekten die Konsolidierungspolitik aufgegeben werden sollte.
Die Institute gehen in ihrem Gutachten von einer weiteren Senkung der Zinsen durch die EZB aus."Die EZB, die bereits vor den Terroranschlägen die Leitzinsen um insgesamt einen halben Prozentpunkt zurückgenommen hatte und danach um einen weiteren Prozentpunkt, dürfte die Zinsen in diesem Jahr nochmals um einen viertel Prozentpunkt auf 3,5 Prozent reduzieren." Der Euro werde sich gegenüber dem Dollar tendenziell leicht verbessern. Die Lohnpolitik sollte die Konjunktur den Instituten zufolge mit einem moderaten Kurs unterstützen. Nur so könnten Inflationsgefahren gebannt werden. Der Anstieg der Verbraucherpreise wird nach Einschätzung der Institute nach 2,5 Prozent in diesem Jahr im kommenden Jahr deutlich auf eine Jahresrate von 1,5 Prozent nachlassen.
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