Zum Pendeln zwischen dem Ruf nach Mehr-Staat und Weniger-Staat bzw zwischen Regulierung und Deregulierung war heute ein interessanter Artikel in der BaZ.
(Das Thema ist an Beispielen aus der Schweiz aufgehängt, geht aber über sie hinaus; Hervorhebungen von mir.)
<font size="5">Das Ende des Nachtwächterstaates </font>
Pierre Weill
Die Terroranschläge in den USA und das Swissair-Debakel in der Schweiz sind von den politischen und menschlichen Dimensionen her nicht vergleichbar. Beide Krisen haben aber etwas Gemeinsames: Sie legitimieren und stärken die Macht des Staates.
In den USA galt bis zum 11. September jeder, der dem Staat eine grössere Rolle in der Gesellschaft zuordnen wollte, als «liberal», was sich seit den Reagan-Jahren schleichend zu einem Schimpfwort entwickelt hat. Mit den Terroranschlägen von New York und Washington hat der Staat, personifiziert durch die furchtlosen Feuerwehrleute, wieder an Bedeutung und Ansehen gewonnen.
In der Schweiz prägte die FDP das Schlagwort von «mehr Freiheit, weniger Staat». Zumindest für einen Teil der Swissair-Mitarbeiter dürfte das Motto jetzt heissen «mehr Freiheit, dank mehr Staat». Denn ohne finanzielle Unterstützung von Bund und Kantonen in der Höhe von 2,43 Milliarden Franken hätten sie ihren Job verloren.
Von den Anfängen des Liberalismus Ende des 18. Jahrhunderts bis zur grossen Depression in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts musste der Staat primär für Ruhe und Ordnung sorgen, deshalb bezeichnete man ihn auch als «Nachtwächterstaat». Der englische Ã-konom John Maynard Keynes und der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt sahen im Staat einen Katalysator, der antizyklisch wirken sollte, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wenn also eine Rezession herrscht, soll der Staat Aufträge erteilen und Geld in die Wirtschaft pumpen. Dadurch schafft er Arbeitsplätze und Vertrauen, so dass die Aktienkurse steigen, der Konsum angeregt und die Krise überwunden wird. Roosevelt hat zunächst viel zu wenig staatliche Mittel in die Wirtschaft gepumpt. Erst die massive Aufrüstung als Folge des Zweiten Weltkrieges hat die Konjunktur in Schwung gebracht.
Die während des Krieges eingenommenen Positionen hat der Staat in den westlichen Industrieländern nicht mehr abgegeben. Immer mehr Bereiche hat der Staat kontrolliert, wobei in Europa die Märkte stärker reguliert waren als in den USA. Telekommunikation, Verkehr, Ausbildung, elektronische Medien und anderes waren immer Sache des Staates.
Die Ã-lkrise 1973 markierte das Ende der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit. Dies erschütterte auch den Glauben an die Allmacht des Staates. Thatcherismus und Reaganismus waren in den 80er Jahren Trumpf. Die neoliberalen Kräfte förderten die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung der Wirtschaft. Bereiche wie die Luftfahrt, der Schienenverkehr, die elektronischen Medien, die Telekommunikation und andere wurden dereguliert und privatisiert. Der Staat wurde nicht mehr als Katalysator für die Wirtschaft betrachtet, sondern grundsätzlich als negativ und ineffizient eingestuft.
Die Privatisierungswelle führte tatsächlich zu einer effizienteren Wirtschaft und zu höherer Produktivität, denn der Wettbewerb erwies sich wirklich als der Motor des unternehmerischen Denkens und Handelns. In Kontinentaleuropa ist die Deregulierung bedeutend langsamer vorangeschritten als im angelsächsischen Raum. In den USA beträgt die Staatsquote, also die Staatsausgaben inklusive obligatorische Sozialversicherungen, 30,1%, in der Schweiz gemäss Eidgenössischem Finanzdepartement 37,7%. Drei Jahre früher lag der Anteil in der Schweiz noch bei 39,4%. Auf Grund von Privatisierungen, wie dem Waffen- und Munitionsbereich oder der Swisscom, nimmt der Anteil des Staates am Bruttoinlandprodukt ab.
In den USA senkte Präsident Reagan in den 80er Jahren die Steuern massiv. Die Folge war ein Rekorddefizit von über 200 Mrd. Dollar. Der Staat musste deshalb seine Ausgaben kürzen, wobei besonders die Beiträge im Erziehungs- und Sozialwesen reduziert wurden. Der Glaube an die Allmacht des Marktes erreichte seinen Höhepunkt.
Dies musste auch Bill Clinton feststellen. Seine Bemühungen um eine Reform des Gesundheitswesens scheiterten kläglich. Der Grund: der Staat sollte jenen 30 Millionen Amerikanern helfen, die zu arm für eine Krankenversicherung waren.
Mit den Terror-Anschlägen überdenken die Amerikaner auch ihr Verhältnis zum Staat. Ira Jackson, Direktor des Center for Business and Government an der Kennedy School of Government der Harvard Universität, erklärte in einem Gespräch mit Schweizer Besuchern, dass «der 11. September gezeigt hat, dass das Pendel zu stark Richtung Markt ausgeschlagen hatte». Seither hat der Staat in der amerikanischen Ã-ffentlichkeit, aber auch in der Schweiz, wenn wir das Drama um die Swissair betrachten, an Bedeutung gewonnen. Der konservative Bush hat neben Steuersenkungen ein Wirtschaftshilfsprogamm - das er teilweise bereits vor dem Anschlag geplant hatte - in der Höhe von über 60 Mrd. Dollar lanciert. Dies ist nichts anderes als reinster Keynesianismus. Die Bürgerinnen und Bürger erkennen gemäss Jackson, dass die Gesellschaft auf drei Säulen ruht, nämlich dem Markt, der Regierung und der Politik. Der Markt sorgt für die Effizienz, die Regierung sollte für die Moral und Gerechtigkeit eintreten und die Politik muss das Vorgehen legitimieren. Die Gesellschaft kann nur funktionieren, falls Solidarität und Individualität im Einklang stehen. In den USA haben der Terrorismus, in der Schweiz der Amoklauf in Zug und das Debakel um die Swissair zu Solidaritätswellen geführt. Das Pendel zwischen Markt und Kollektivismus schlägt wieder in Richtung Kollektivismus aus.
Allerdings unterscheidet sich die Situation in den USA von jener in der Schweiz und dem übrigen Europa dadurch, dass in den USA die Deregulierung und Liberalisierung viel umfassender ist als in Europa. In den USA ist ein Schritt zurück zweifellos wünschenswert. In der Schweiz muss diese Richtungsänderung etwas differenzierter betrachtet werden. In zahlreichen Bereichen, namentlich im gewerblichen Binnenmarkt, im Bauwesen, aber auch teilweise im Arbeitsmarkt, ist die Deregulierung noch zu wenig fortgeschritten. Hier gilt es punktuell - Baurecht, Ã-ffnungszeiten, Arbeitszeit - weitere Liberalisierungsmassnahmen vorzunehmen.
Die - zumindest vorläufige und teilweise - Rettung der Swissair durch den Staat hat auch hier zu einem Überdenken des Verhältnisses zwischen Individuum und Staat geführt. Der Staat ist letztlich nichts anderes als die Gesamtheit der Bürger, also kann man ihn nicht verteufeln, ohne sich selbst zu verteufeln. Es gibt Güter, die nur der Staat anbieten kann, wie Demokratie, persönliche Freiheit, Menschenrechte. Andere kann der Staat oder aber der Privatsektor anbieten, wobei es in gewissen Fällen optimaler ist, wenn es der Staat macht, beispielsweise aus Gerechtigkeitsgründen, wie Schulen. In wiederum anderen Fällen, wie beim Transport, kann der Staat diese Güter selbst anbieten, er muss es aber nicht.
Was der Staat macht, ist letztlich in einer Demokratie immer richtig, denn es ist durch das Volk legitimiert. Fehler werden, wenn auch oft spät, erkannt und korrigiert, wie beispielsweise das EWR-Nein durch die bilateralen Verträge.
Die Rettungsaktion der Swissair wirft dennoch heikle Fragen auf. Es fehlt die Transparenz, um die Kriterien, die für die Hilfsaktion entscheidend waren, öffentlich verständlich zu machen. Wer bestimmt, welches Unternehmen «rettenswert» ist und welches nicht? Das Volk kann sich nicht dazu äussern, ob der Bund über eine Miliarde Franken in die Airline einschiessen soll. Der Staat darf nicht zum Selbstbedienungsladen verkommen. Seine Aktionen müssen das Ziel haben, dem Wohl möglichst aller Einwohnerinnen und Einwohner zu dienen. Falls dies dank der Rettung der Swissair mittelfristig auch eintritt, wird das Ansehen nicht nur des Staates, sondern auch der Politiker weiter zunehmen.
Nach Jahren der undifferenzierten Liberalismusgläubigkeit schlägt das Pendel jetzt Richtung Staat aus es gilt wachsam zu sein, damit es nicht zu Übertreibungen in die andere Richtung kommt.
http://www.baz.ch/reusable/druckver...59B9D-F4B0-4494-BA1889E3784B4C1C "> Das Ende des Nachtwächterstaates
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