Ziemlich lang, aber meiner Meinung nach lesenswert. GruĂ, Labrador
Der Geist des Terrorismus
Das Abendland, das die Stelle Gottes eingenommen hat, wird selbstmörderisch und erklÀrt sich selbst den Krieg/ Von Jean Baudrillard
Weltereignisse haben wir schon einige erlebt, vom Tod Dianas bis zur FuĂballweltmeisterschaft, und auch gewaltsame und reale Ereignisse, von Kriegen bis hin zu Völkermorden. Aber ein globales, symbolisches Ereignis nicht bloĂ weltweiter Verbreitung in allen Medien, sondern das selbst der Globalisierung den Kampf angesagt hĂ€tte - so etwas hat es noch nie gegeben. WĂ€hrend der langen Stagnation der neunziger Jahre hatten wir den âStreik der Ereignisseâ (wie der Schriftsteller Macedonio Fernandez dieses Jahrzehnt charakterisiert hat). Nun, dieser
Wenn die Ereignisse stagnieren, muss man die Analyse beschleunigen, sagt Jean Baudrillard, der Analytiker der Moderne - aber wenn sie sich ĂŒberstĂŒrzen, muss man sich Zeit lassen. Gerade hat er in Le Monde seine Sicht vom 11.September prĂ€sentiert - die wir gekĂŒrzt abdrucken - und sofort eine intensive Diskussion ausgelöst.
Streik ist beendet. Die Ereignisse haben aufgehört zu streiken. Bei den Attentaten gegen das World Trade Center haben wir es sogar mit einem absoluten Ereignis zu tun, das in sich alle Ereignisse vereint, die niemals stattgefunden haben - die âMutterâ aller Ereignisse.
Ohne uns durch das allgemeine Stimmengewirr oder die Staubwolken des Krieges beeindrucken zu lassen, und ohne das unvergessliche Aufleuchten der Bilder zu vergessen - bezogen auf das Ereignis selbst und auf die Faszination, die es ausĂŒbt, stellen alle diese Stimmen und Kommentare nichts anderes dar als eine gigantische Abreaktion. Der moralischen Verurteilung, der heiligen Union gegen den Terrorismus entspricht auf der anderen Seite eine erstaunliche Schadenfreude angesichts der Zerstörung der Supermacht, oder besser: angesichts ihrer Selbstzerstörung, ihres Selbstmordes als Kunstwerk. Denn sie selbst hat durch ihre unertrĂ€gliche Ăbermacht nicht nur diese ganze Gewalt geschĂŒrt, von der die Welt erfĂŒllt ist, sondern auch - ohne das selbst zu wissen - die terroristische Phantasie, die in uns allen ist.
Es geht hier nicht bloĂ um den Hass auf die Dominanz dieser Weltmacht, wie er bei den Benachteiligten und Ausgebeuteten verbreitet ist, die das schlechtere Los der Globalisierung gezogen haben. Von diesem GefĂŒhl der Schadenfreude sind gerade auch diejenigen erfasst, die von der neuen, globalen Weltordnung profitieren. GlĂŒcklicherweise ist die Allergie gegen jede definitive Ordnung, gegen jede endgĂŒltige Macht ein allgemein verbreitetes PhĂ€nomen, und die beiden TĂŒrme des World Trade Centers waren - gerade in ihrer Doppelgestalt - eine perfekte Verkörperung dieser definitiven Ordnung. Kein Todes- oder Zerstörungstrieb muss hier postuliert werden, ja nicht einmal das Prinzip der unerwĂŒnschten Nebenwirkung.
Es ist von Ă€uĂerster (und unerbittlicher) Logik, dass es den Willen zur Zerstörung anstacheln muss, wenn eine Macht immer mĂ€chtiger wird. Und diese Macht ist mitschuldig an ihrer eigenen Zerstörung. Als die beiden TĂŒrme zusammenbrachen, hatte man den Eindruck, dass sie auf die Selbstmord-Attacke aus der Luft mit ihrem eigenen Suizid antworteten. Man hat gesagt: âGott selbst kann sich nicht den Krieg erklĂ€renâ. Oh doch! Das Abendland, das die Stelle Gottes eingenommen hat, wird selbstmörderisch und erklĂ€rt sich selbst den Krieg.
In gewissem Sinne ist es der Gesamtzustand des Systems, das heiĂt seine innere SchwĂ€che und Zerbrechlichkeit, die dem primĂ€ren Akt des Terrorismus Vorschub leistet. In New York sind es achtzehn Kamikaze-AttentĂ€ter, die mit der absoluten Waffe des Todes, die noch gesteigert wurde durch ihre technischer Effizienz, ein Katastrophengeschehen von globaler Reichweite auslösen.
Wenn die Situation so sehr durch das Monopol einer einzigen Weltmacht gekennzeichnet ist, durch eine unerhörte Konzentration aller Funktionen im technokratischen Apparat und durch ein âDenken ohne Alternativeâ - welcher andere Ausweg bleibt dann noch als der Ăbersprung in den Terrorismus? Es war das System selbst, das die objektiven Bedingungen fĂŒr diesen brutalen RĂŒckstoĂ geschaffen hat. Indem es selbst alle Vorteile auf seiner Seite bĂŒndelt, zwingt es den Anderen, die Spielregeln zu Ă€ndern.
Und die neuen Regeln sind deshalb barbarisch, weil das barbarisch ist, was auf dem Spiel steht. Auf ein System, dessen Ăbermacht eine Herausforderung darstellt, die faktisch nicht pariert werden kann, antworten die Terroristen mit einem endgĂŒltigen Akt, der ebenfalls nicht mehr Gegenstand eines Tausches sein kann. Der Terrorismus ist jener Akt, der im Herzen eines allgemeinen Tauschsystems wieder etwas SingulĂ€res schafft, das nicht auf etwas anderes zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann.
Terror gegen Terror? Es gibt hinter alledem keine Ideologie mehr. Wir sind fortan an jenseits von Ideologie oder Politik. Die Energie auf den Begriff zu bringen, die diesen Terror speist und unterhÀlt - dazu ist kein Programm, keine Ideologie imstande, auch nicht der Islam. Hier geht es nicht einmal mehr um die VerÀnderung der Welt; hier geht es - wie einst in den HÀresien - nur noch darum, die Welt durch das Opfer zur radikalisieren, wÀhrend das System seine Welt mit Gewalt realisieren will.
Wir haben es also nicht mit einem Zusammenprall der Kulturen oder Religionen zu tun, und das betrifft auch keineswegs nur den Islam und Amerika, auf die man den Konflikt gerne zuspitzt, um sich die Illusion einer sichtbaren Konflikts und einer gewaltsamen Lösung vorzugaukeln. Es geht hier in der Tat um einen grundlegenden Antagonismus, der freilich in Gestalt Amerikas (das vielleicht das Zentrum, aber keineswegs die einzige Verkörperung der Globalisierung ist) und in Gestalt des Islam (der ebenfalls nicht der Inbegriff des Terrorismus ist) die triumphierende Globalisierung bezeichnet, die mit sich selbst in Konflikt gerÀt. In diesem Sinne kann man durchaus von einem Weltkrieg sprechen; nicht vom dritten, sondern vom vierten, dem einzigen, der seinen Namen wirklich verdient, weil es dabei unmittelbar um die Herausbildung einer globalen Welt geht.
Die beiden ersten Weltkriege entsprachen dem klassischen Bild des Krieges. Der erste beendete die europĂ€ische Vorherrschaft und das Zeitalter des Kolonialismus. Der zweite beseitigte den Nationalsozialismus. Der dritte Weltkrieg, der in Form des Kalten Krieges und der Abschreckung stattfand, machte dem Kommunismus ein Ende. In jedem dieser Kriege kam man dem Ziel einer einzigen, globalen Weltordnung ein StĂŒck nĂ€her.
Heute ist dieses Projekt an seine Grenzen gelangt; jetzt gerĂ€t es in Konflikt mit diffusen GegenkrĂ€ften, die sich ĂŒberall bemerkbar machen, in allen aktuellen Zuckungen, bis hinein ins Zentrum des Globalen. Ein fraktaler Krieg aller Zellen, aller SingularitĂ€ten, die in Form von Antikörpern revoltieren. So weit unter der Wahrnehmungsschwelle gelegen, dass man die Idee des Krieges von Zeit zu Zeit in spektakulĂ€ren Inszenierungen - wie im Golfkrieg oder heute in Afghanistan - in Erinnerung rufen muss. Aber der vierte Weltkrieg findet anderswo statt. Er ist das, was jede globale Weltordnung, jede hegemoniale Herrschaft wie ein QuĂ€lgeist heimsucht - wĂ€re der Islam die dominierende Weltmacht, wĂŒrde er sich gegen den Islam wenden. Denn es ist die globale Welt selbst, die sich der Globalisierung widersetzt.
Der Terrorismus ist unmoralisch. Das Ereignis des World Trade Centers, diese symbolische Herausforderung, ist unmoralisch, und entspricht einer Globalisierung, die selbst unmoralisch ist. Seien also auch wir unmoralisch, schauen wir uns ein bisschen jenseits von Gut und Böse um, damit wir uns einen Reim darauf machen können. Versuchen wir in diesem Fall, wo wir mit einem Ereignis konfrontiert sind, das nicht nur die Moral, sondern jede Art der Deutung herausfordert, ein Wissen vom Bösen zu erlangen. Der springende Punkt liegt in dem radikalen UnverstĂ€ndnis der abendlĂ€ndischen Philosophie - der AufklĂ€rung - fĂŒr das VerhĂ€ltnis zwischen dem Guten und dem Bösen. Wir glauben naiverweise, dass der Fortschritt des Guten, seine Verbreitung in allen Bereichen, einer Niederlage des Bösen entsprechen wĂŒrde. Niemand scheint begriffen zu haben, dass das Gute und das Böse zur gleichen Zeit mĂ€chtiger werden, weil sie in ein und derselben Bewegung begriffen sind.
In der traditionellen Welt gab es noch ein Gleichgewicht von Gut und Böse, eine Art dialektischer Beziehung, die mehr schlecht als recht fĂŒr Spannung und Ausgewogenheit im moralischen Universum sorgte - ein wenig wie im Kalten Krieg, wo die direkte Konfrontation der beiden SupermĂ€chte ein Gleichgewicht des Schreckens garantierte. Dieses Gleichgewicht wird von dem Augenblick an gestört, wo eine totale Verallgemeinerung des Guten stattfindet. Von diesem Moment an wird das Gleichgewicht gestört; es ist, wie wenn Böse nun eine unsichtbare Autonomie gewinnen wĂŒrde, indem es mit exponentiellen ZuwĂ€chsen verlorenen Boden wiedergutmacht.
Nach dem Untergang des Kommunismus und dem weltweiten Triumph der liberalen MĂ€chte hat sich eine Ă€hnliche Situation in der politischen Ordnung ereignet: Es tritt ein phantomhafter Feind auf, der sich auf dem ganzen Globus verbreitet, der wie ein Virus ĂŒberall eindringt und in allen Fugen der Macht sein Unwesen treibt. Der Islam. Der Islam ist aber ist nur die bewegliche Front, an der sich dieser Antagonismus festmacht. Dieser Gegensatz ist ĂŒberall, und er ist in jedem von uns. Also gilt: Terror gegen Terror. Aber asymmetrischer Terror. Und es ist diese Asymmetrie, welche die globale Allmacht vollstĂ€ndig entwaffnen muss. Im Konflikt mit sich selbst, klammert sie sich umso verbissener an ihre eigene Logik der Macht, ohne das Spiel auf dem Terrain der symbolischen Herausforderung und des Todes annehmen zu können. Vom Tod besitzt sie keine Vorstellung mehr, seit sie ihn in ihrer eigenen Kultur fĂŒr null und nichtig erklĂ€rt hat.
Es ist den Terroristen gelungen, aus ihrem Tod eine absolute Waffe gegen jenes System zu schmieden, das sich einer absoluten Todesvermeidung, also dem Prinzip ânull Toteâ verpflichtet hat. Jedes System mit ânull Totenâ ist ein Nullsummenspiel. Und alle Mittel der Abschreckung und Zerstörung sind machtlos gegen einen Feind, der aus seinem Tod eine Waffe fĂŒr den Gegenangriff geschmiedet hat. âWas kĂŒmmern uns die amerikanischen Bomben! Unserer MĂ€nner sind ebenso begierig zu sterben, wie die Amerikaner begierig sind zu leben!â 7000 Tote auf einen Schlag sind unvergleichlich viel, wenn sie einem System zugefĂŒgt werden, das mit ânull Totenâ rechnet.
Die Hypothese des Terrorismus ist, dass das System in Reaktion auf die vielfache Herausforderung durch Suizid und Tod ebenfalls Selbstmord begehen wird. Denn weder das System noch die Macht entgehen der symbolischen Verpflichtung - in dieser Falle liegt die einzige Chance ihrer Katastrophe. Der Tod des Terroristen ist in diesem schwindelerregenden Kreis des Todes, der nicht getauscht werden kann, ein unendlich kleiner Punkt, der freilich eine Sehnsucht, eine Leere, eine Konvektion von gigantischer Sogwirkung erzeugt. Um diesen Punkt herum verdichtet sich das System des Reellen und der Macht, es fÀllt in einen Wundstarrkrampf, blockiert sich selbst und geht an seiner eigenen monströsen Vollkommenheit zugrunde.
Die Taktik des terroristischen Modells ist es, einen RealitĂ€tsexzess zu provozieren und das System darunter zusammenbrechen zu lassen. Das LĂ€cherliche der Situation und die Gewalt, mit der die Macht reagiert, fallen auf sie zurĂŒck, denn die Terrorhandlungen sind das vergröberte Abbild seiner eigenen Gewalt und gleichzeitig das Modell einer symbolischen Gewalt, die ihm untersagt ist, der einzigen Gewalt, die das System nicht ausĂŒben kann: die seines eigenen Todes. Dies ist der Grund, weshalb die ganze sichtbare Macht gegen den winzigen, aber symbolischen Tod einiger Individuen machtlos ist.
Man muss sich klar darĂŒber sein, dass hier ein neuer Terrorismus entstanden ist, eine neue Aktionsform, die das Spiel spielt und sich seine Spielregeln aneignet, um es besser zu stören. Nicht nur kĂ€mpfen diese Leute mit ungleichen Waffen, denn sie setzen ihr eigenes Leben aufs Spiel, wogegen es keine mögliche Antwort gibt (âEs sind Feiglingeâ), denn sie haben sich alle Waffen der herrschende Macht angeeignet. Das Geld und die Börsenspekulation, die Informationstechnologie und die Luftfahrt, die Dimension des SpektakulĂ€ren und die medialen Netze: sie haben sich alle Errungenschaften der Moderne und der globalen Zivilisation zu eigen gemacht, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, das in der Zerstörung dieser Moderne besteht.
Und die gröĂte ihrer Listen war, dass sie sogar die BanalitĂ€t des amerikanischen Alltagslebens als Maske und Tarnung benutzt haben. Als SchlĂ€fer in den VorstĂ€dten, als brave Studenten, hĂ€uslich, arbeitsam und unauffĂ€llig, die vom einen Tag zum anderen als Zeitbomben erwachten. Die perfekte Beherrschung dieser klandestinen Existenz ist fast ebenso terroristisch wie der spektakulĂ€re Akt des 11. Septembers. Denn sie lenkt den Verdacht auf jedes x-beliebige Individuum: Ist nicht jede beliebige, harmlose Person ein potentieller Terrorist?
Wenn diese TÀter unentdeckt blieben, dann ist jeder von uns ein unentdeckter Krimineller, und in einem tieferen Sinne ist dies vielleicht sogar wahr. Denn es entspricht vielleicht einer unbewussten Form der potenziellen, maskierten und sorgfÀltig verdrÀngten KriminalitÀt, die stets in Gefahr steht, wenn nicht auszubrechen, so doch klammheimlich mitzufiebern angesichts der Auftritte des Bösen. So wird das Ereignis zur Quelle eines noch subtileren, mentalen Terrorismus.
Der ungeheure Erfolg eines solchen Attentats stellt ein Problem dar. Wer ihn erklĂ€ren möchte, muss sich von unserer abendlĂ€ndischen Optik lösen und zu verstehen suchen, was sich in der Organisation und den Köpfen der Terroristen abspielt. Eine solche Effizienz wĂŒrde bei uns ein Maximum an Berechnung, an RationalitĂ€t voraussetzen, die bei den AttentĂ€tern anzunehmen uns schwer fĂ€llt. Aber selbst wenn diese Voraussetzungen gegeben wĂ€ren, mĂŒssten auch hier, wie in jeder rationalen Organisation und in jedem Geheimdienst, undichte Stellen und Pannen vorkommen.
Das Geheimnis dieses Erfolges liegt also anderswo. Der Unterschied liegt darin, dass diese TĂ€ter keinen Arbeitsvertrag erfĂŒllen, sondern einen Pakt und eine Verpflichtung zum Opfer realisieren. Eine solche Verpflichtung ist immun gegen jeden Verrat und ĂŒber alle Versuchungen erhaben. Es ist diesen Leuten gelungen, sich an das globale Netz, an die Erfordernisse des technischen Protokolls anzupassen, ohne irgendetwas von ihrer Komplizenschaft auf Leben und Tod aufzugeben - darin liegt das eigentliche Wunder. Im Unterschied zum Vertrag bindet ein Pakt keine Individuen - selbst ihr âSelbstmordâ ist kein individueller Heroismus, sondern eine kollektive Opferung, die durch einen idealen Anspruch untermauert wird. Und es ist diese VerknĂŒpfung zweier Dispositive, einer operativen Struktur und eines symbolischen Paktes, die eine Tat von dieser MaĂlosigkeit möglich gemacht hat.
Die Selbstmord-Terrorismus war zuvor ein Terrorismus der Armen; hier haben wir es mit einem Terrorismus der Reichen zu tun. Und das macht uns ganz besonders Angst: Dass diese Leute reich geworden sind und trotzdem nicht aufhören, von unserem Untergang zu trĂ€umen. Gewiss, nach unseren Wertvorstellungen spielen sie mit falschen Karten: Es gehört sich nicht, dass man seinen eigenen Tod aufs Spiel setzt. Doch das kĂŒmmert sie nicht, und die neuen Spielregeln gehören nicht mehr uns.
So kommt uns jedes Mittel gelegen, um ihre Taten in Verruf zu bringen. Etwa von âSelbstmördernâ und âMĂ€rtyrernâ zu sprechen, um dann gleich hinzuzufĂŒgen, dass der MĂ€rtyrertod nichts beweise, dass er nichts mit der Wahrheit zu habe, ja dass gerade der MĂ€rtyrer - wie Nietzsche sagt - der schlimmste Feind der Wahrheit sei. Gewiss, ihr Tod beweist nichts, doch das ist einem System, wo Wahrheit selbst unerreichbar ist, auch gar nicht nötig - oder wollen wir behaupten, dass wir die Wahrheit besitzen?
Andererseits lÀsst sich dieses höchst moralische Argument umkehren. Wenn das freiwillige Martyrium von Kamikaze-TÀtern nichts beweist, dann ist auch mit dem unfreiwilligen Martyrium der Attentatsopfer nichts bewiesen, und es hat etwas UnanstÀndiges und Frivoles, daraus ein moralisches Argument zu machen (ohne damit ihr Leiden und ihren Tod in Frage stellen zu wollen).
Ein anderes zweifelhaftes Argument: Diese Terroristen tauschen ihren Tod gegen einen Platz im Paradies ein. Ihr Handeln ist nicht selbstlos, also ist es auch nicht aufrichtig. Es wĂ€re nur dann selbstlos, wenn diese Leute nicht an Gott glauben wĂŒrden, wenn also fĂŒr sie der Tod so hoffnungslos wĂ€re, wie er das fĂŒr uns ist. Auch hier kĂ€mpfen sie also mit ungleichen Waffen; sie leben in der Gewissheit eines Heils, auf das wir nicht einmal mehr hoffen können. Wir haben den Tod bereits abgeschrieben, fĂŒr sie ist es der höchstmögliche Einsatz. Die Ursache, der Beweis, die Wahrheit, die Belohnung, die Mittel und Zwecke - im Grunde ist es eine typisch abendlĂ€ndische Rechnung, die hier aufgemacht wird. Selbst den Tod bewerten wir danach, was er abwirft, nach seinem Kosten/Nutzen-VerhĂ€ltnis.
Es ist völlig verkehrt, im Handeln der Terroristen nur die reine Logik der Zerstörung am Werk zu sehen. Es scheint mir, dass ihr eigener Tod nicht von diesem Handeln getrennt werden kann - ganz im Gegensatz zur unpersönlichen Vernichtung des anderen. Entscheidend bleiben Herausforderung und Zweikampf, das heiĂt die duale, persönlichen Beziehung zur gegnerischen Macht. Von ihr ging die DemĂŒtigung aus, sie soll nun selbst gedemĂŒtigt werden. Es genĂŒgt nicht, sie zu vernichten. Man muss sie dazu bringen, das Gesicht zu verlieren. Und dies erreicht man nie durch bloĂe Gewalt und Beseitigung des anderen. Dieser muss vielmehr von der vollen Wucht des Missgeschicks getroffen werden.
Ăber den Pakt hinaus, der die Terroristen untereinander verbindet, gibt es hier auch eine Art von Paktieren mit dem Gegner wie bei einem Duell. Es ist also das genaue Gegenteil jener Feigheit, die man ihnen zum Vorwurf macht, und es ist das genaue Gegenteil der amerikanischen KriegfĂŒhrung im Golfkrieg (die sich nun in Afghanistan zu wiederholen scheint), wo das Ziel unsichtbar bleibt und getötet wird auf Knopfdruck.
Zu den verschiedenen Waffen, welche die Terroristen dem System entwendet und gegen ihre Besitzer gerichtet haben, gehört die Echtzeit der Bilder, ihre sofortige Verbreitung auf allen KanĂ€len. Sie haben sich der Medien ebenso bedient wie der Börsenspekulation, der Informatik oder des Flugverkehrs. Die Rolle des Bildes ist ambivalent. Das Ereignis wird im Bild nicht nur verstĂ€rkt, sondern gleichzeitig zur Geisel genommen. Es wird in seiner medialen Abbildung nicht nur unbegrenzt vervielfĂ€ltigt, sondern gleichzeitig zerstreut und neutralisiert. Diese ZusammenhĂ€nge werden regelmĂ€Ăig ĂŒbersehen, wenn von der âGefahrâ der Medien die Rede ist. Die Abbildung konsumiert das Ereignis, das heiĂt sie verschlingt es und reicht es dann zum Konsum. Gewiss, das Ereignis kann so einen Einfluss ausĂŒben, der vorher undenkbar war, aber nur als Bild-Ereignis.
Was ist nun aber mit dem realen Ereignis, wenn ĂŒberall das Bild, die Fiktion und das Virtuelle die RealitĂ€t bestimmen? Man hat die Terror-Attacken zum Anlass genommen, von einer RĂŒckkehr des Realen und der Gewalt des Realen in ein angeblich virtuelles Universum zu sprechen. Vielleicht war man sogar ein wenig erleichtert. âSchuss mit dem ganzen Gerede von der VirtualitĂ€t - das da ist echt!â Auch von der Wiederauferstehung der Geschichte nach ihrem angekĂŒndigten Ende war die Rede. Doch ĂŒbertrifft die RealitĂ€t wirklich die Fiktion?
Der Einsturz des World Trade Center war unvorstellbar, aber er war nicht ausreichend, um daraus ein reales Ereignis zu machen. Ein ĂbermaĂ an Gewalt genĂŒgt nicht, um in die RealitĂ€t zu gelangen. Denn die RealitĂ€t ist ein Prinzip, und es ist dieses Prinzip, das wir verloren haben. Wirklichkeit und Fiktion sind nicht auseinander zu halten, und die Faszination des Attentates ist in erster Linie eine Faszination durch das Bild. In diesem Fall also addiert sich das Reale zum Bild wie eine SchreckensprĂ€mie, wie ein zusĂ€tzlicher Schauder. Es ist nicht bloĂ erschreckend, sondern auch wirklich geschehen. Nicht die Gewalt des Realen war zuerst da, gefolgt vom Gruseleffekt des Bildes, sondern es verhĂ€lt sich eher umgekehrt: Am Anfang war Bild, und erst dann kam der Schauder des Realen. Gleichsam eine zusĂ€tzliche Fiktion, eine Fiktion, welche die Fiktion ĂŒbertrifft.
Diese terroristische Gewalt bedeutet also weder eine RĂŒckkehr der Wirklichkeit noch eine Wiederkehr der Geschichte. Diese terroristische Gewalt ist nicht ârealâ. In gewissem Sinne ist sie schlimmer als das: Sie ist symbolisch. Gewalt als solche kann von vollkommener BanalitĂ€t sein. Nur symbolische Gewalt vermag SingularitĂ€t zu erzeugen. Und so findet man am Ende in diesem singulĂ€ren Ereignis, in diesem Katastrophenfilm aus Manhattan jene beiden PhĂ€nomene vereint, die die Massen des 20. Jahrhundert mehr als alles andere fasziniert haben: die weiĂe Magie des Kinos und die schwarze Magie des Terrorismus.
Man versucht krampfhaft, dem Ereignis nachtrĂ€glich einen Sinn abzugewinnen oder irgendwelche Deutungsmuster ĂŒberzustĂŒlpen. Doch es gibt keinen, und so bleibt uns einzig die RadikalitĂ€t des Spektakels, seine BrutalitĂ€t als ursprĂŒngliche, letzte Wirklichkeit dieses Ereignisses. Das Spektakel des Terrorismus zwingt uns den Terrorismus des Spektakels auf. Und gegen dies unmoralische Faszination (auch wenn sie eine universelle moralische Reaktion auslöst) ist die politische Ordnung machtlos. Es ist unser Theater der Grausamkeit, das einzige, das uns noch bleibt.
RĂŒckgang der Produktion, der Nachfrage, der Spekulation, des Wachstums (aber gewiss nicht der Korruption): Alles erweckt den Eindruck, als ob das Weltsystem einen strategischen RĂŒckzug, eine schmerzhafte ĂberprĂŒfung seiner Werte vollziehen wĂŒrde. Scheinbar geschieht dies in Reaktion auf die Terrorattacken, im Grunde aber entspricht es durchaus geheimen, systeminternen Erfordernissen; als Folge der absoluten Unordnung kommt es zu Zwangsregulierungen, die das System sich selbst auferlegt, indem es seine eigene Niederlage gleichsam verinnerlicht.
Es gibt keine Lösung fĂŒr diese extreme Situation, vor allem nicht der Krieg, der nur ein Szenario des Altbekannten, also wieder dieselbe Sintflut von StreitkrĂ€ften, geisterhaften Nachrichten, sinnlosen LuftschlĂ€gen, hohlen und pathetischen Ansprachen, Sternstunden der Technik und der Propaganda anbieten kann. Das ist denn auch der eigentliche Zweck dieses Krieges, ein wirkliches, furchtbares Ereignis, das einzigartig und unvorhersehbar ist, durch ein Pseudo-Ereignis der Wiederholung und des Altbekannten zu ersetzen. Der Krieg als die Fortsetzung der Abwesenheit von Politik mit anderen Mitteln.
Von Jean Baudrillard ist zuletzt erschienen âLa Pensee radicaleâ(bei Sens et Tonka, Paris, Februar 2001).
Deutsch von Matthias GrÀsslin
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