<font size=4>"Der Handel kam als Monster"</font>
Jahrzehntelang hat der Süden in der Weltwirtschaftsordnung den Kürzeren gezogen. Nun treffen sich die Nationen in der Wüste von Qatar. Die entscheidende Frage: Ã-ffnet der Norden seine Grenzen?
Von Wolfgang Uchatius
©Barry Sweet/AP; Andre Zelck für DIE ZEIT
Die WTO sagt, sie macht die Menschen reicher. Bis zum Jahr 2005 um 510 Milliarden Dollar, sie hat das ausgerechnet. Das ist mehr, als die Deutschen in einem Jahr an Steuern zahlen, mehr als Australien, Malaysia und Algerien in einem Jahr zusammen erwirtschaften. Von diesem Geld könnte man die US-Konzerne Microsoft und Coca-Cola kaufen oder halb Afrika etwas zu essen. Die WTO macht die Menschen reicher.
Oder doch nicht? Der Schweizer Jean Ziegler ist Professor für die Soziologie der Entwicklungsländer, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und Autor des Buches Wie kommt der Hunger in die Welt?. Von Berufs wegen hat er sich angewöhnt, die Welt aus der Sicht der Armen zu sehen. Ziegler sagt, er mache der WTO nur einen Vorwurf:"Dass es sie gibt."
Die WTO. Genf ist eine kleine Stadt an einem großen See. Eine Promenade, ein paar Parks, vor einem ein Tor, ein Schild: World Trade Organisation. Ein langes graues Haus, alt, niedriger als mancher Baum drum herum, an der Eingangstür nicht einmal richtige Sicherheitskontrollen. Die bayerische Staatskanzlei wirkt mächtiger. Globalisierungskritiker würden sagen, die Macht versteckt sich.
Sie sagen auch: Die WTO kommt über die Menschen wie ein Monster. Sie unterstützt die Reichen, unterdrückt die Armen und schert sich nicht um nationale Souveränität. So spricht zum Beispiel Kevin Danaher. Der Amerikaner war 1999 einer der Cheforganisatoren der Demonstrationen von Seattle. Dort fand die bisher letzte große Konferenz der WTO statt - und der erste große Auftritt der Antiglobalisierungsbewegung. Zwei Jahre später ruft die WTO erneut zur Tagung. Sie beginnt diesen Freitag in Doha, im Golfstaat Qatar. Weil Demonstrationen dort verboten sind, bleiben die Globalisierungskritiker daheim. Protestieren wollen sie trotzdem. In 50 Ländern, auf allen Kontinenten soll der Ruf"Smash the WTO!", zerschlagt die WTO, durch die Straßen hallen. Ein guter Moment, um zu fragen, was diese Organisation tatsächlich macht, was sie machen darf, machen kann.
Zu tun hat sie es mit Staaten, die sich mit Papier bekämpfen. Anfang der Achtziger zum Beispiel hatte es Bangladesch geschafft, eine konkurrenzfähige Textilindustrie aufzubauen. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan sah in den billigen Stoffen aus dem armen Land einen Angriff auf amerikanische Hemdenfabriken. Er unterschrieb ein Papier, wonach pro Jahr nur noch eine bestimmte Menge von Textilien aus Bangladesch in die USA eingeführt werden durfte. Er schützte amerikanische Jobs - und machte Tausende Menschen in Bangladesch arbeitslos. So ringen die Länder der Welt seit Jahrhunderten miteinander. Mit Zöllen, Schutzklauseln, Importverboten errichten sie Barrikaden, um ihre Wirtschaft zu schützen.
Die WTO ist die Abrüstungsorganisation. 1947 trafen 23 Länder eine Vereinbarung, das General Agreement on Tariffs and Trade, abgekürzt Gatt. Sie glaubten, dass ihnen das Wettrüsten nicht weiterhalf. Wer vor fremden Produkten seine Grenzen schließt, kann kaum darauf hoffen, im Ausland viel zu verkaufen. Mehr und mehr Länder traten dem Gatt bei. In teils mehrjährigen Verhandlungsrunden senkten sie langsam und schrittweise ihre Zölle - und veränderten die Welt.
1947 lag der durchschnittliche Zoll auf Industrieprodukte bei 40 Prozent. Heute sind es nur noch fünf Prozent. Der Welthandel wuchs um mehr als das Zwanzigfache. Arbeiter verloren ihre Jobs, weil ihre Firmen mit der Konkurrenz im Ausland nicht mithalten konnten. Andere Unternehmen schwollen zu ungeahnter Größe, weil sie ihre Waren jetzt weltweit verkauften - so entstanden neue Arbeitsplätze. Wenn es gut läuft, werden allein die bei den letzten Verhandlungen, der Uruguay-Runde, beschlossenen Zollsenkungen zusätzliche Einkommen von 510 Milliarden Dollar erzeugen - die WTO hat das ausgerechnet.
Einer ihrer Mitarbeiter, ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler, seit zehn Jahren im Haus, meint, die WTO selbst habe eigentlich gar nichts zu sagen.
Mitte der neunziger Jahre gründeten die Mitglieder des Gatt eine neue Organisation. An das Gatt-Gebäude in Genf kam das neue Schild: World Trade Organisation. 552 Menschen arbeiten für sie. Zieht man die Pförtner, Hausmeister und Übersetzer ab, bleiben 180, die sich mit dem Welthandel beschäftigen, vor allem Ã-konomen und Juristen. Sie alle sind Zuarbeiter, Assistenten der inzwischen 142 WTO-Mitgliedsländer."Die WTO ist nicht viel mehr als ein Verhandlungsforum für Regierungen", sagt Heinz Hauser, Handelsexperte von der Uni Sankt Gallen. Ein Forum, das im Jahr 91 Millionen Dollar zur Verfügung hat, mehr nicht."Die WTO ist eine finanziell ausgehungerte Institution", sagt der Ã-konom Jagdisch Bhagwhati von der Columbia-Universität. Das Budget von Greenpeace ist um ein Drittel größer.
Trotzdem wird die WTO oft in einem Atemzug genannt mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Washington. IWF und Weltbank haben zusammen über 10 000 Mitarbeiter. Beide vergeben Kredite an überschuldete und verarmte Länder und können von diesen dafür bestimmte politische Maßnahmen verlangen. Beide finanzieren sich durch das Geld ihrer Mitgliedsstaaten, und wer das meiste Geld gibt, hat auch das meiste Mitspracherecht.
In der WTO dagegen hat jedes Mitglied eine Stimme, und praktisch jeden Beschluss fasst die WTO einstimmig. In den Broschüren der WTO steht, sie sei nicht undemokratisch, sondern hyperdemokratisch. Wo also versteckt sich die Macht? Oder hat die WTO gar keine?
Sie hat, und das zeigt sich, wenn sich zum Beispiel Land A nicht an die Vereinbarungen hält. In diesem Fall können die Länder B und C das WTO-Schiedsgericht anrufen. Wird die Klage angenommen, dürfen B und C Handelssanktionen gegen A erheben. Nach Ansicht des ehemaligen WTO-Generalsekretärs Renato Ruggiero ist das Schiedsgericht das wesentlich Neue an der Welthandelsorganisation. Die Macht der WTO besteht darin, dass sie die Liberalisierung des Welthandels nicht nur beschließen, sondern auch durchsetzen kann.
Globalisierungskritiker wie der Amerikaner Kevin Danaher halten diese Macht für dunkel:"Die WTO ist für die Konzerne und gegen die Umwelt." Das Argument stützt sich auf die Tatsache, dass manches Gesetz als Handelsschranke wirkt, obwohl es anderen Motiven entsprang. In der EU ist es verboten, Rinder mit Hormonen zu füttern. In den USA ist es erlaubt. Alle WTO-Mitglieder dürfen hormonhaltiges Fleisch von außen abweisen - nur müssen sie beweisen, dass es gesundheitsschädlich ist. Da die EU dies nicht einmal versuchte, gab das Schiedsgericht den Amerikanern Recht. Jetzt dürfen die USA Sonderzölle auf EU-Produkte erheben, allerdings nur so weit, dass den Europäern dadurch derselbe Verlust entsteht wie zuvor den US-Rindfleischexporteuren. Was zeigt, dass auch die Macht des Schiedsgerichts so groß nicht ist. Nach Ansicht von Razeen Sally von der London School of Economics sind die WTO-Sanktionen"eher bescheiden".
Die WTO macht nur, worauf sich ihre Mitglieder einigen. Die EU zum Beispiel will den Handel mit auch nur potenziell umwelt- oder gesundheitsschädlichen Produkten beschränken. Die übrigen Mitglieder wollen das nicht, noch nicht. Dabei könnten die WTO-Regeln in Konflikt geraten mit internationalen Umweltabkommen. Dann, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, komme es darauf an, was den Regierungen wichtiger ist. Den Regierungen, nicht der WTO, und in vielen Fällen damit den gewählten Parlamenten. So gesehen, hellt sich das Dunkle an der WTO auf. Im Licht erscheint das seltene Beispiel einer funktionierenden Weltinnenpolitik.
Oder doch nicht? Wenn der UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler der WTO vorwirft, dass es sie gibt, spricht er, aus der Weltperspektive gesehen, über seinen Nachbarn. Auch Ziegler hat sein Büro in Genf, an der Universität. Jahrelang hat Ziegler in Afrika und Brasilien gelebt, in der Schweiz gilt er als Enfant terrible, und wenn er über die Armut, den Reichtum und den Welthandel spricht, muss man erst die Rhetorik von seinen Sätzen kratzen, um an die Argumente zu kommen.
Er sagt zum Beispiel, dass das eine armselige Weltinnenpolitik ist, die nur dann Sanktionen ergreift, wenn es um Hürden für den Handel, also um Geld geht, nicht aber um Menschenrechte. Er sagt, mit den WTO-Richtlinien geht es den Entwicklungsländern wie einem Passanten, den plötzlich eine neue Regel zwingt, gegen den Weltmeister zu boxen. Er sagt, die einen profitieren von der Globalisierung und die anderen nicht.
Die WTO sagt, sie macht die Menschen reicher - und begründet das mit der Lehre des britischen Ã-konomen David Ricardo. Der hat schon vor 200 Jahren herausgefunden, dass es für alle Länder am günstigsten ist, wenn sie den Handel liberalisieren und dann vor allem das produzieren, was sie am besten können, und den Rest importieren. Ricardo nannte das die Ausnutzung komparativer Kostenvorteile. Demnach müssten die Industrieländer vor allem hochwertige Industrieprodukte herstellen und die Entwicklungsländer vor allem Agrarprodukte. Noch immer sind die meisten Menschen in der Dritten Welt Kleinbauern.
Es ist nicht so, dass die Industrieländer ihnen nicht helfen. Zum Beispiel an der Elfenbeinküste. Dort, in der Hauptstadt Abidjan, haben die Europäer vor einigen Jahren einen Schlachthof finanziert, damit die Nomaden ihre Rinder in die Stadt bringen und dort das Fleisch verkaufen können. Nur exportierte die EU gleichzeitig ihr eigenes subventioniertes Fleisch in westafrikanische Städte, wo wegen des Überangebots der Markt zusammenbrach. Entwicklungsbremse statt Entwicklungshilfe.
Von wegen komparativer Kostenvorteil: Noch 1970 hatten die Europäer mehr Agrarprodukte gekauft als verkauft, aber schon 15 Jahre später waren sie der Welt größter Exporteur. Auf Platz zwei: die USA. Beider Erfolgsgeheimnis: Subventionen und hohe Zölle. Sie schenkten ihren Bauern so viel Geld, dass sich der Nachteil in einen Vorteil verwandelte. Damit verstießen sie zwar gegen den Geist der Welthandelsabkommen, aber nur gegen den Geist. Denn von den Gatt-Verträgen waren Agrarprodukte bis zur Uruguay-Runde ausgeschlossen. Erst Mitte der Neunziger verpflichtete sich der Norden, die Agrarzölle bis zum Jahr 2000 um rund 30 Prozent zu reduzieren, aber nur im Durchschnitt. Bei Produkten wie Zucker, Reis oder Fleisch liegt der effektive Zoll in EU wie USA teilweise noch immer bei über 50 Prozent.
Auch die Exportsubventionen für Agrarprodukte haben die Industrieländer um rund ein Drittel gekappt. Nur gingen sie vom hohen Niveau der späten Achtziger aus. Mit der Folge, dass sie ihre Landwirtschaft noch immer mit jährlich 330 Milliarden Dollar unterstützen. Genug, um jede Kuh in ein Flugzeug zu setzen und einmal um die Welt zu fliegen."Die Bauern im Süden kämpfen gegen die finanzielle Kraft der Reichsten der Welt", sagt Sherman Robinson vom International Food Policy Research Institute in Washington.
Um dagegenzuhalten, haben die Entwicklungsländer nicht das Geld - und wenn sie es hätten, dürften sie nicht. Denn auch sie mussten sich fast alle verpflichten, auf Subventionen zu verzichten. Und gleichzeitig die Zölle für Industriegüter zu senken. Damit ist vielen von ihnen ein möglicher Weg zum Wohlstand versperrt: mit Zöllen und Subventionen junge Unternehmen zu schützen, bis sie konkurrenzfähig sind. So sind die USA und Deutschland zu Industriemächten geworden und Exentwicklungsländer wie Südkorea und Malaysia zu erfolgreichen Exporteuren. Den Ã-konomen der WTO fällt kaum ein Land ein, das mit einer anderen Strategie Erfolg gehabt hätte."Außer Hongkong", sagt einer."Und Taiwan." Von den Entwicklungsländern wird es trotzdem verlangt.
In einer kürzlich veröffentlichten Studie schreibt die Weltbank, die beste Chance hätte der Süden theoretisch in Sektoren, in denen es weniger auf Maschinen ankommt als auf billige Arbeiter. Etwa bei Textilien. Ausgerechnet hier trat Anfang der Sechziger die erste von mehreren speziellen Gatt-Vereinbarungen in Kraft, wonach es erlaubt ist, zum Schutz der eigenen Textilfirmen Importquoten festzulegen. Also nur bestimmte Mengen ausländischer Stoffe ins Land zu lassen. EU und USA machten davon reichlich Gebrauch.
Zwar läuft laut Uruguay-Runde dieses so genannte Multi Fibre Agreement nur bis 2005. Dann müssen die Schutzwälle abgetragen sein. Aber bisher hat das den Entwicklungsländern kaum geholfen. Denn bisher haben die USA und die EU erst rund fünf Prozent ihrer Kleidungsimporte von der Mengenbegrenzung befreit. Juristische Hintertüren könnten ihnen erlauben, die Importe aus dem Süden weiterhin einzuschränken, fürchtet die Weltbank.
Seit 1994 schützt gleichzeitig ein Abkommen die geistigen Eigentumsrechte an neuen Produkten. Weil weltweit aber die große Mehrheit neuer Software, Markennamen oder Medikamenten im Norden geschaffen werden, entstehen durch die Vereinbarung über Trade-Related-Property Rights (Trips) vor allem dem Norden neue Gewinnquellen. Dem Süden aber wird der Zugriff auf Technologie erschwert. Die vollständige Umsetzung des Trips-Abkommens würde 30 Milliarden Dollar von Nord nach Süd transferieren, schreibt die Weltbank. Und resümiert, die weltweite Zoll- und Subventionsstruktur bestrafe die Entwicklungsländer.
Wenn die WTO also ein Beispiel für Weltinnenpolitik ist, dann hat diese Politik bisher denjenigen am meisten genützt, die es am wenigsten nötig hatten. Der indische Ã-konom Deepak Nayyar nennt das"die Asymmetrie der Globalisierung".
Seltsam ist nur, dass die Entwicklungsländer der Ungleichheit bislang zustimmten. Jeden der WTO-Verträge hat jedes Mitglied unterschrieben.
Das hat womöglich etwas mit kleinen Wohnungen zu tun. Im diplomatischen Viertel von Genf stehen große Mietshäuser. An so manchem Balkon hängt eine Flagge, und darunter klebt ein Wappen, auf dem steht, dass es sich bei der betreffenden Wohnung um die Vertretung eines afrikanischen Landes handelt. Eines noch vergleichsweise privilegierten Landes.
Denn dreißig WTO-Mitglieder haben gar keinen Botschafter bei der WTO. Fünfzig haben weniger als drei, aber die betreuen dann nicht nur die WTO, sondern auch die übrigen internationalen Organisationen in Genf. Oft treffen sich bei der WTO täglich mehrere Verhandlungsgruppen. Natürlich kann nur verhandeln, wer dabei ist.
Die Übrigen reisen wenigstens zu den großen Konferenzen an, so wie jetzt in Doha. Oder vor einigen Jahren in Brüssel. Damals brachten die Amerikaner 400 Berater mit, mehr als die Delegationen von ganz Lateinamerika und Schwarzafrika zusammen. Die hatten nur noch zu unterschreiben -"und vielen Handelsministern war gar nicht klar, was sie da eigentlich unterschrieben", sagt Peter Wahl von der Entwicklungsorganisation Weed.
Bei der letzten WTO-Tagung in Seattle hatten sie es offenbar verstanden. Die Konferenz platzte. Nicht zuletzt, weil Unterhändler aus Entwicklungsländern zu entscheidenden Beratungen nicht eingeladen wurden. Nicht zuletzt, weil die USA und die EU weltweite soziale Standards in die WTO-Regeln aufnehmen wollten: etwa das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren (siehe Interview). Der Süden lehnte das ab.
Die WTO macht das, worauf sich ihre Mitglieder einigen. Nach Seattle und vor Doha aber sind sie sich plötzlich nicht mehr einig. Viele Konflikte um die weitere Ã-ffnung der Agrar- und Textilmärkte des Nordens, um das Trips-Abkommen sind ungelöst. Gewachsen ist nur der Druck, sich zusammenzuraufen. Ein erneutes Scheitern wollen vor allem die Amerikaner nicht riskieren, aus ökonomischen wie politischen Gründen. In den Zeiten des Terrors wollen sie die Einheit der Welt demonstrieren, in den Zeiten der Rezession den Fortgang der Globalisierung.
So gesehen, ist seit dem 11. September die Macht des Südens gestiegen.
(c) DIE ZEIT 46/2001
<hr noshade style="width:1250px; color:blue; height:2px; text-align:left; border:1px solid blue;">
<font size=4>"Oxfam dokumentiert die Folgen von IWF-Programmen</font>
Von Nick Beams
03. November 1998
aus dem Englischen (20. Oktober 1998)
Oxfam ist eine in Großbritannien ansässige internationale Wohlfahrtsorganisation. Ihr im Oktober veröffentlichter Bericht über die Krise in Ostasien stellt eine vernichtende Anklage des Internationalen Währungsfonds dar.
Einleitend erinnern die Verfasser daran, daß sie den optimistischen Vorhersagen des IWF, die Region werde bald zu wirtschaftlichem Wachstum zurückfinden, widersprochen und vor den Gefahren einer Rezession gewarnt hatten. Diese Einschätzung, sagen sie nun, sei insofern falsch gewesen, als daß sie noch eine Unterschätzung dargestellt habe.
"Die Krise, die nun Ostasien erfaßt, läßt sich hinsichtlich ihrer destruktiven Auswirkung durchaus mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 vergleichen. Man hat zugelassen, daß das, was als Finanzkrise begann, nun zu einer ausgewachsenen sozialen und ökonomischen Krise mit verheerenden Auswirkungen für die menschliche Entwicklung geworden ist. Das bisherige Einkommenswachstum hat sich umgekehrt, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung haben erschreckende Ausmaße erreicht. Steigende Lebensmittelpreise und sinkende Sozialausgaben haben die soziale Lage der Ärmsten zusätzlich verschlimmert."
Die Politik des IWF, hohe Zinsraten aufzuerlegen, angeblich um"das Vertrauen wiederherzustellen", hat die Situation verschlimmert und die Armut vergrößert. Die verheerendsten Auswirkungen gab es bisher in Indonesien, wo für dieses Jahr ein Rückgang des Bruttosozialprodukts um 20 Prozent erwartet wird. Für Thailand und Südkorea rechnet man mit einem Produktionsrückgang von 6 bis 8 Prozent.
Während alle Einkommensgruppen von der Krise betroffen sind, wird"die Auswirkung der steigenden Arbeitslosigkeit am stärksten städtische Arbeiter mit geringem Einkommen treffen." Den Armen auf dem Lande droht infolgedessen sinkende Unterstützung von Verwandten in den Städten und schlechtere Dienstleistungen.
In Indonesien hat der Wertverlust der Rupie die Inflation auf 80 Prozent hinaufgetrieben, und die Arbeitslosigkeit wird bis zum Ende des Jahres auf 15 Millionen steigen.
"Bis zum Ende des Jahres werden über 100 Millionen Indonesier unterhalb der Armutsgrenze leben - viermal so viele wie 1996... Dabei werden steigende Lebensmittelpreise, Hungersnot und Unterernährung von Kindern zu einer wachsenden Bedrohung. Unterdessen brechen Kinder in noch nie dagewesener Zahl die Schule ab. Nach Quellen der indonesischen Regierung werden bis zu 1,6 Millionen Schüler dazu gezwungen sein, den Schulbesuch einzustellen. Der Regierungsetat für Bildung und Gesundheit ist dramatisch gefallen. In Thailand hat sich die Anzahl der Grundschüler, die ihre Ausbildung nicht beenden, im letzten Jahr verdreifacht."
Der Bericht zitiert im folgenden Aussagen von Oxfam-Angestellten in Indonesien, welche die soziale Krise hinter den Statistiken beleuchten:
"In der Yogyakarta, auf Zentral-Java, wo Oxfam mit Straßenkindern arbeitet, steigt die Kinderprostitution. Mädchen, die nicht älter als 10 Jahre sind, prostituieren sich im verzweifelten Versuch sich und ihre Familie zu ernähren."
"Auf der Insel Flores brechen die Zahlen für Besuche in Ärztezentren ein, weil sich die Familien die Gebühren nicht mehr leisten können."
"In West-Timor sind mehrere Krankenhäuser und Ärztezentren geschlossen worden, und grundlegende Antibiotika sind nun unbezahlbar."
"In Maluku ist die Anwesenheit in Schulen um 60 Prozent zurückgegangen."
Der Bericht zeigt auf, daß auf den Philippinen, wo eine IWF-Maßnahme zugunsten"harter Finanzdisziplin" in Kraft gesetzt wurde, die Ausgaben für die Malaria- und Tuberkulose-Vorsorge um 27 Prozent respektive 36 Prozent zurückgegangen sind. Impfungsprogramme sind um 26 Prozent gekürzt und einige Programme zur Vitaminversorgung zurückgenommen worden.
Die Kürzungen werden 29.000 zusätzliche Malariatote und weitere 90.000 Tuberkulosefälle ohne Behandlung zur Folge haben. Fast eine halbe Millionen Kinder zwischen im Alter von eins bis fünf Jahren wird nicht mehr mit Vitamin-A-Zusätzen versorgt und ungefähr 750.000 Frauen zwischen 15 und 40 Jahren werden keinen Jodzusatz mehr bekommen.
Die Art der Wirtschaftshilfe, die Indonesien bekommt, so der Bericht, sei"oft darauf ausgerichtet, dem Hilfeleistenden ökonomische Vorteile zu bringen", anstatt sich nach den Bedürfnissen des Hilfsbedürftigen zu richten.
"Zum Beispiel haben die USA ihre 450 Millionen Dollar für Indonesien daran gebunden, daß davon amerikanische Baumwolle, Sojabohnen, Mehl und Getreide gekauft werden. Australien hat in einigen derselben Gebiete Finanzhilfe zur Verfügung gestellt, um den eigenen Marktanteil zu schützen und den wirklichen Bedürfnissen der Indonesischen Wirtschaft zu entsprechen."
Insgesamt folgert Oxfam, daß die IWF-Programme"den Verlangen der Gläubiger der Handelsbanken in den USA Priorität vor den sozialen und ökonomischen Bedürfnissen Indonesiens eingeräumt haben, was verheerende Konsequenzen hinsichtlich der Armut hat."
Sie warnen davor, daß die sogenannten Programme des sozialen Netzes, die von der Weltbank in Indonesien aufgebaut werden, bestenfalls"marginale Auswirkungen" haben werden. Zusätzlich befindet sich die Weltbank"in der unglücklichen Lage, soziale Sicherheitsnetze zu errichten, die unter den Auswirkungen von steigender Armut und Massenarbeitslosigkeit, die aus den IWF Programmen resultieren, zusammenbrechen."
Der Bericht ruft dazu auf, die Trennung von Sozial- und Wirtschaftspolitik aufzuheben, und besteht darauf, daß"menschliche Entwicklung und Erwägungen über Armut integrale Bestandteile des Rahmens für die makro-ökonomische Politik sein sollten, die bisher von engstirnigen -oft schädlichen- finanziellen Zielen dominiert wird."
Während der Bericht sein Programm unter dem Titel"Framework for recovery" ("Ein Rahmen für den Wiederaufbau") erklärt, merkt er an, daß" die privaten Finanzmärkte die Institutionen und Regierungen der Fähigkeit beraubt haben, sie im Interesse von Stabilität, Wachstum, Arbeit und der Bekämpfung der Armut zu regulieren"."Neue Wege sind notwendig, um die Katastrophe abzuwenden", heißt es weiter.
Jedoch bleiben die Rezepte von Oxfam, die auf eine Reihe von Reformen des internationalen Finanzsystems setzen, weit hinter dem zurück, was in ihrer eigenen Analyse aufgezeigt wird: daß die Bedürfnisse der menschlichen Entwicklung nicht mit einer internationalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vereinbar sind, die auf der Vorherrschaft des Marktes und des Profitsystems beruht.
http://www.wsws.org/de/1998/nov1998/oxfa-n03.shtml
<center>
<HR>
</center> |