<font size=4>"Man will uns für dumm verkaufen"</font>
Die Globalisierung"made in America" lässt allzu viele Verlierer zurück - und stärkt den Fundamentalismus: Arundhati Roy, die indische Schriftstellerin und Aktivistin, im ZEIT-Gespräch
Von Jacqueline Hénard (Gesprächsführung)
DIE ZEIT: Ihre Aufsätze über die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Machtverteilung und Terrorismus haben im Westen ein derartiges Echo ausgelöst, dass Sie mit einem Mal als die Globalisierungskritikerin erscheinen. Wie gefällt Ihnen diese Rolle?
Arundhati Roy: Ich bin mir nicht sicher, ob ich all diese Aufmerksamkeit verdiene. Ich schreibe die Dinge, wie ich Sie sehe, und erhebe keinen Anspruch auf den Titel"Stimme der Dritten Welt".
ZEIT: Aber warum finden Sie mit Ihrer Stimme so viel Gehör?
Roy: Weil ich eine Schriftstellerin bin. Ich kümmere mich mit meiner literarischen Legitimierung um Anliegen, die nicht literarisch sind. Ich will die Globalisierungsdebatte auf keinen Fall den Ã-konomen und Juristen überlassen. Man will die Leute für dumm verkaufen in Fragen, die an die Substanz ihres Lebens reichen: Wasser, Boden, Saatgut. Meine Aufgabe als Schriftstellerin ist es zu sagen: Halt, lasst mich mal genau hinschauen, und dann werde ich mit einfachen Worten erklären, was vor sich geht.
ZEIT: Mancher, der auf der Seite Amerikas und des Westens steht, empfindet diese Worte als verletzend und oberflächlich.
Roy: Sobald Familien und Opfer im Spiel sind, kochen die Gefühle hoch. Für Amerikaner ist die existenzielle Unsicherheit im Alltag ein neues, seltsames Gefühl, während es für viele von uns leider dazugehört. Manche der besten und kritischsten Aufsätze zum Hintergrund der Anschläge vom 11. September sind übrigens von Amerikanern geschrieben worden - aber sie werden nicht gedruckt, sie sind nur im Internet zu finden. Auch meine Aufsätze sind in Amerika nicht veröffentlicht worden. Es gibt viele wunderbare Dinge an Amerika, aber es gibt auch ein großes schwarzes Loch im Nachrichtenfluss.
ZEIT: Bleiben Sie denn bei Ihren Worten, bin Laden sei der brutale Zwilling des amerikanischen Präsidenten, mittelbare Frucht der amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik?
Roy: Die amerikanischen Hegemonialansprüche haben viele Ressentiments geschaffen. Die Terroristen nutzen sie für ihre Zwecke. Man muss verstehen, woher diese Ressentiments kommen, sonst besteht die Gefahr, dass die Gewalt nur immer weiter eskaliert. In diesem Frühjahr habe ich einen großen Aufsatz über die Privatisierung der indischen Strom- und Wasserversorgung und ihre gesellschaftlichen Folgen geschrieben. Damals, also lange vor den Terroranschlägen, habe ich gesagt, dass die Globalisierung mit dem Erstarken des Fundamentalismus einhergeht. Denn die Globalisierung hat erniedrigende Nebenwirkungen. Nehmen Sie nur die Call-Center, die in Indien sprießen, ein Millionengeschäft, das auf grotesken Lügen fußt: Da sitzen indische Frauen, denen ein amerikanischer Akzent antrainiert wird. Am Telefon müssen sie sich Susi und Jenny nennen und so tun, als säßen sie irgendwo in Amerika. Das logische, hausgemachte Gegenstück dieser Call-Center sind die Trainingscamps der Hindu-Fundamentalisten.
ZEIT: Wenn Amerika die Quelle so vieler Erniedrigungen ist, wie erklären Sie dann, dass die Green-Card-Aktion der deutschen Regierung in Indien ein Flop war? Warum gehen die Softwareingenieure der Dritten Welt lieber nach Amerika?
Roy: Das hat mit Sprache zu tun.
ZEIT: Glauben Sie nicht, dass der amerikanische Traum auch in Indien wirkt?
Roy: Doch, absolut. Aber wer sind die Softwareingenieure? Sie gehören zur Elite. Globalisierung ist kein Ding mit scharfen geografischen Grenzen: Amerika und Europa einerseits und der Dritten Welt andererseits. Auch die Eliten der Dritten Welt träumen von der Globalisierung und kollaborieren nach Kräften.
ZEIT: Was treibt all die Wirtschaftsflüchtlinge, die westwärts durch Europa strömen und manchmal sehr einfacher Herkunft sind, wenn nicht der Traum vom persönlichen Erfolg nach den Spielregeln der Globalisierung?
Roy: Nicht jeder Traum wird Wirklichkeit. Die Menschheit wird nicht geschlossen zum Islam konvertieren, und sie wird sich auch nicht in eine harmonische Masse von Mittelschichtsverbrauchern verwandeln. Die Globalisierung geht mit einem Prozess der Exklusion einher, und die Verlierer stehen am Ende schlechter da.
ZEIT: Wie erklären Sie, dass gerade die vorgeblichen Verlierer die materiellen Begleiterscheinungen der Globalisierung so bereitwillig aufnehmen: Mobiltelefon, Satellitenfernsehen, Coca-Cola?
Roy: In Indien ist vielleicht die Mittelschicht empfänglich dafür. Auf dem Land, wo es um essenzielle Dinge geht wie Wasser- und Stromversorgung, also die Ressourcenverteilung, sieht das ganz anders aus. Ich bin immer wieder erstaunt und beeindruckt, wie genau die Leute wissen, was mit ihnen geschieht und wie ihnen mitgespielt wird. Sie wissen, dass sie den Preis zahlen. Das zeigt auch, was für ein besonderer Ort Indien ist.
ZEIT: Haben Sie nicht den Eindruck, dass Amerika zunehmend sich selbst und sein Auftreten in der Welt selbst infrage stellt?
Roy: Ich weiß nicht, was in Amerika vor sich geht. Aber ich lese Zeitungen und schaue fern. Und die Worte des amerikanischen Präsidenten klingen nicht so, als würde er viel infrage stellen. Oder nehmen Sie einen Mann wie Dan Rather, einen anerkannten Journalisten, der vor der Kamera fragt:"Warum hassen sie uns?" - Und dann gibt er diese Antwort:"Weil sie böse sind, weil sie Verlierer sind. Und wir sind Gewinner."
ZEIT: Kennen Sie Amerika?
Roy: Ich bin da gewesen.
ZEIT: Und nach Ihren Aufsätzen sind Sie nicht eingeladen worden, um dort zu diskutieren?
Roy: Doch, ich sollte eigentlich schon unterwegs sein. Aber ich kann nicht, ich muss zurück nach Indien.
ZEIT: Warum sind Sie eigentlich so pessimistisch, was die Zukunft Afghanistans angeht? Manche Länder haben sich politisch und wirtschaftlich sehr gut von der Befreiung durch die Amerikaner erholt, Frankreich oder Deutschland zum Beispiel...
Roy: Auch ein paar osteuropäische Länder... aber es gibt viele Gegenbeispiele. Und Afghanistan, das ist nun einmal eine Weltgegend, in der die Amerikaner sich nicht auskennen.
Arundhati Roy wurde um 1960 in Indien als Tochter syrischer Christen geboren. Die Schriftstellerin ("Der Gott der kleinen Dinge") erregte Aufsehen, als sie kürzlich Osama bin Laden einen"Zwilling des amerikanischen Präsidenten" nannte
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