Vorsicht, an den Haaren herbeigezogener Mainstream-Zweckoptimismus.
Dr. Volker Nitsch, Bankgesellschaft Berlin, Berlin
"KURZFRISTIGER KONJUNKTURAUSBLICK EUROLAND
Trotz zahlreicher Unwägbarkeiten und einer entsprechend großen
Prognoseunsicherheit gibt es derzeit kaum Diskrepanzen über den
zu erwartenden Konjunkturverlauf in Euroland. Demnach befindet
sich die europäische Wirtschaft gegenwärtig in einer Phase der
Stagnation, wobei sich zum jetzigen Zeitpunkt auch ein
zwischenzeitliches Abgleiten in eine Rezession - zumindest nach
orthodoxer Lesart (das heißt ein in zwei aufeinander folgenden
Quartalen schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt) - nicht vollkommen
ausschließen lässt. Gleichzeitig sollte sich allerdings im
Jahresverlauf 2002 die konjunkturelle Dynamik wieder festigen,
so dass eine länger andauernde Krise vermieden werden kann.
Unterschiede in der Konjunktureinschätzung resultieren vor allem
aus der abweichenden Bewertung von zwei Teilaspekten. Zum einen
ist das tatsächliche Ausmaß des Abschwungs ungewiss. Die
wichtigsten konjunkturellen Frühindikatoren, wie zum Beispiel
der ifo-Geschäftsklimaindex, basieren auf in Umfragen
ermittelten qualitativen Einschätzungen, die nur begrenzt
Rückschlüsse auf quantitative Veränderungen erlauben. Zudem wird
die Prognose durch den asynchronen Konjunkturverlauf innerhalb
Eurolands erheblich erschwert. Bei vergleichbaren externen
Rahmenbedingungen weisen nicht nur die gesamtwirtschaftlichen
Wachstumsraten überraschende Unterschiede auf; die französische
Wirtschaftsleistung stieg im dritten Quartal um 0,5 Prozent q/q,
während das deutsche Bruttoinlandsprodukt um 0,1 Prozent fiel.
Vielmehr verlief auch die Entwicklung der Nachfragekomponenten
stark gegensätzlich. Während in Deutschland die inländische
Nachfrage wegbrach (und dieser Einbruch nur dank einer starken
Zunahme der Nettoexporte weitgehend kompensiert werden konnte),
erwies sich in Frankreich und Italien der private Verbrauch als
wichtigster Wachstumsträger.
Im vierten Quartal, das in allen Ländern eine nochmalige
Wachstumsverlangsamung zeigen dürfte, wird nun vieles davon
abhängen, ob und wenn ja, auf welchem Niveau, die Konjunktur in
Europa an Synchronität gewinnt. Der leichte Anstieg des
belgischen Frühindikators im Oktober signalisiert dabei, dass es
keinesfalls eine ausgemachte Sache ist, dass sich das
europäische Wachstum zwangsläufig dem schwachen deutschen Niveau
nähert.
Zum anderen gibt es unterschiedliche Einschätzungen bezüglich
des konkreten Timings der konjunkturellen Trendwende. Vor allem
die traditionellen Frühindikatoren werden in diesem Zusammenhang
zurzeit ungewöhnlich intensiv analysiert. So hat der neuerliche
Rückgang des ifo-Geschäftsklimaindex im Oktober zunächst
Hoffnungen auf eine rasche Konjunkturerholung zunichte gemacht,
zumal vor allem die in die Zukunft gerichtete
Erwartungskomponente weiter gefallen ist.
Bei einer fundierten Interpretation der Daten müssen allerdings
einige Aspekte beachtet werden. So sollte die Aussagekraft des
ifo-Index nicht überbewertet werden. Zwar hat sich die
Geschäftsklimaumfrage des ifo-Instituts in der Vergangenheit
häufig als zuverlässigster konjunktureller Frühindikator in
Deutschland erwiesen. Dennoch ist die Prognosegüte beschränkt.
Vor allem in außergewöhnlichen Situationen, wie zum Beispiel dem
Metallarbeiterstreik 1984, dem Aktienmarktcrash 1987 oder der
deutschen Vereinigung, hat der ifo-Indikator häufig seine
Vorlaufeigenschaften eingebüßt. Empirische Studien zeigen zudem,
dass die Vorlaufzeiten relativ kurz und vor allem bei unteren
Wendepunkten keineswegs stabil sind. Aus diesem Grund hat selbst
das ifo-Institut den Geschäftsklimaindex nicht in seine
mittelfristigen Prognosemodelle integriert. Schließlich
überrascht, dass in Deutschland Frühindikatoren, die in der
Vergangenheit nahezu ausnahmslos in die gleiche Richtung gezeigt
haben, gegenwärtig entgegengesetzte Signale liefern. Während der
ifo-Index zuletzt weiter gefallen ist, stieg der vom ZEW
ermittelte Frühindikator gestern auf den höchsten Stand seit
mehr als einem Jahr. Vor diesem Hintergrund steht einer
Wachstumsbelebung im ersten Quartal 2002 nach wie vor nur die
anhaltende Unsicherheit im Wege."
Dr. Volker Nitsch ist Volkswirt im Konzernstab Volkswirtschaft
der Bankgesellschaft Berlin.
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