Hallo
Nachfolgend die versprochene Rede von Dr. Hans Tietmeyer über den Zins:
<font size="5">»Der Zins als Führer durch die Zeit«</font>
<font size="4">Eine Politik, die Verantwortung über das Tagesgeschäft hinaus trägt, muß für längerfristige Zeihorizonte konzipiert und tragfähig sein.</font>
Von Hans Tietmeyer
(FAZ, 30. Juli 1994)
Für den Staat wie für Private gilt: Nicht die Höhe der Verschuldung liefert primär das Urteil über die Solidität von Politik und Lebensführung - entscheidend ist die Verwendung der Mittel. Wer die Zukunft belastet, der ist begründungspflichtig und zwar in den Kategorien des intertemporalen Aufwands- und Ertragsvergleiches. Doch wie die Zukunft in der Gegenwart messen? Hans Tietmeyer, Präsident der Deutschen Bundesbank, hantiert täglich mit dem wichtigsten Instrument eines solchen Vergleichs: dem Zins. In diesem Beitrag, der auf Thesen eines Vortrages anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Münster beruht, zeigt er den Zins als Führer durch die Zeit. (Bar.)
Gouverner, c’est prévoir. So heißt es zu Recht. Eine Politik, die Verantwortung über das tagespolitische Geschäft hinaus trägt, muß auch für längerfristige Zeithorizonte konzipiert und tragfähig sein. Dies schließt als konstitutive Bestandteile Risiko- und Zukunftsvorsorge ein. Verläßlichkeit im Sinne von Grundsatztreue gegenüber bewährten Handlungsprinzipien und Umsicht bei der praktischen Umsetzung, zwei leider oft knappe Produktionsfaktoren, vertragen keine abrupten Kursänderungen und Regimewechsel. Gerade bei der notwendigen Zukunftsorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik können ordnungspolitische Grundeinsichten, die den Härtetest der Geschichte bestanden haben, wichtige Orientierungshilfen geben.
Die Notwendigkeit, Kollektivgüter mit hohen positiven externen Effekten und Produktiveigenschaften vor tagespolitischem Mißbrauch zu schützen, stellt sich vor allem dann, wenn Zeitaspekte bei wirtschafte- und sozialpolitischen Entscheidungen ein großes Gewicht bekommen. Ihr gesamtwirtschaftlicher, ja gesamtgesellschaftlicher Rang ergibt sich daraus, daß sie aufs engste mit längerfristig spürbaren allokativen Nebenwirkungen verbunden sind und oftmals auch Umverteilungseffekte zwischen verschiedenen Generationen enthalten.
Kapitaltheoretisch gesehen, kommt dem (Real-)Zins eine Schlüsselrolle in intertemporalen Entscheidungssituationen zu. Der Zins stellt gleichsam das ökonomische Bindeglied zwischen Vergangenheit, Gegenwart genwart und Zukunft dar. Vor allem erlaubt er es, Gegenwart und Zukunft auf einen gleichen Nenner zu bringen, indem er die Opportunitätskosten zeitverschiedener Handlungswirkungen offenlegt. Der Zins hat dabei die wichtige Eigenschaft, universell und in gewissem Umfang auch systemunabhängig zu sein.
Eugen von Böhm-Bawerk erkannte bereits 1921, „...daß wir künftigen Lust- und Leidempfindungen bloß deshalb, weil sie zukünftige sind,... eine geringere Würdigung entgegenbringen... Wir unterschätzen systematisch unsere künftigen Bedürfnisse und die Mittel, die zu ihrer Befriedigung dienen.“ Bei der Vorliebe für Gegenwartskonsum dürfte es sich in der Tat um eine „fundamentale, (sozial-)psychologische“ Gesetzmäßigkeit handeln. Je stärker bei gegebener Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals die (marginale) Zeitpräferenz ist, desto niedriger bewertet werden Sparen und Investieren (und umgekehrt). Dabei beeinflussen Veränderungen der Zeitpräferenz insbesondere langfristig angelegte Vorteilskalküle und damit den Kapitalwert von Zahlungsströmen, die erst in ferner Zukunft Nettoerträge versprechen.
<font size="4">Der Staat als unsterblicher Konsument</font>
Eine Verkürzung von Planungshorizonten oder eine abnehmende Risikobereitschaft hat unter diesen Bedingungen ähnliche Wirkungen: Mit dem höheren Realzins steigen die Kapitalnutzungskosten, die sich ihrerseits in einer nachlassenden Investitionsneigung und schließlich einer niedrigeren Kapitalintensität mit längerfristigen Einbußen beim Lebensstandard niederschlagen. Genau das ist die Konsequenz, wenn zum Beispiel die Gegenwartsverschuldung des Staates oder der Privaten übermäßig für den Gegenwartsverbrauch und weniger für Zukunftsinvestitionen genutzt wird. Deswegen ist die Antwort auf die Frage: Verschuldung wofür? so bedeutsam.
Auch der Umgang mit den sogenannten natürlichen Ressourcen sowie die Einstellung gegenüber zeitübergreifend festgelegten Gesellschaftsvereinbarungen spiegeln den oftmals komplexen Einfluß der Wertschätzung von Gegenwart und Zukunft wider. Auf welcher Stufe der gesellschaftlichen Präferenzskala das Heute und das Morgen rangieren, hängt dabei zweifelsohne von einer Reihe von Faktoren ab. Einiges spricht dafür, daß die Bewertung nicht unabhängig vom erreichten Wohlstandsniveau ist. Vielmehr dürfte ab einem gewissen Lebensstandard die Neigung zunehmen, den erreichten Status festzuschreiben und die jeweiligen Besitzstände als dauerhaft gesichert anzusehen.
Verteilungspolitische Zielsetzungen gewinnen dann gegenüber zukunftsbezogenen, allokativen Gesichtspunkten meist an Gewicht; protektionistische und interventionistische Mittel werden mehr und mehr „gesellschaftsfähig“. Kurzum: die Vitalität und Flexibilität von Wirtschaft und Gesellschaft gehen Stück für Stück verloren.
Der Staat selbst einschließlich der Sozialversicherungen macht hier keine Ausnahme. Dabei ist er - einem „unsterblichen Konsumenten“ mit unendlichem Zeithorizont vergleichbar - eigentlich in einer prädestinierten Stellung was den Schutz und die Verteidigung von legitimen Zukunftsinteressen angeht. Manche Ã-konomen haben daraus den Schluß gezogen, die „intergeneration equity“ im Sinne einer angemessenen intergenerativen Verteilungsnorm sei beim Staat in den besten Händen.
Vertreter der Neuen Politischen Ã-konomie und der Institutionenökonomik haben jedoch diese Sicht als unpolitisch-naiv und unhistorisch gebrandmarkt, vor allem deshalb, weil das zugrundeliegende Leitbild des wohlfahrtsmaximierenden, unparteiischen „Übervaters“ in einem scharfen Kontrast zu den realen Motivations- und Anreizstrukturen auf den „politischen Märkten“ in Demokratien sowie den Handlungsabläufen in staatlichen und das heißt auch bürokratisch-hierarchischen Institutionen stehe.
In der Tat läßt sich leider vielfach belegen, daß die Grundsätze der zeitlichen Konsistenz beziehungsweise Äquivalenz im politischen Alltag oftmals zu kurz kommen und nicht selten gänzlich auf der Strecke bleiben. Sich Zeit zu kaufen und von geborgter Zeit zu leben, das mag vorübergehend durchaus eine akzeptable Antwort auf bestimmte Problemlagen sein. Man muß solche Lösungen deshalb auch nicht unter allen Umständen verwerfen, zumal die Alternative des „Alles oder nichts“ gerade in der Politik bisweilen auch zur Blockade des Fortschritts führen kann. Folgt der Zeitgeist aber diesem falschen Leitstern, dann wird die Ausnahme zur Regel - ja für viele sogar zu einer vermeintlich politischen Tugend. Hier hat die Wissenschaft eine Bringschuld gegenüber der Politik und der, Gesellschaft.
Mit Blick auf die westlichen Industrieländer verdienen drei Problembereiche in diesem Zusammenhang eine besondere Hervorhebung: das schon fast naturgesetzlich erscheinende Phänomen der wachsenden öffentlichen Verschuldung, die Hartnäckigkeit inflatorischer Prozesse sowie die Dominanz umlagekonstruierter Finanzierungsverfahren intergenerativ angelegter sozialer Sicherungssysteme.
Alle drei vereint die immanente Neigung, zukunftsschädliche und verteilungspolitisch bedenkliche (Neben-)Wirkungen hervorzurufen.
Im Vordergrund der Debatte um die These vom kollektiven Verschuldungstrend und von der intergenerativen Gerechtigkeitslücke steht zweifelsohne die Staatsverschuldung im konventionellen Sinne, wie sie in den öffentlichen Budgets in Gestalt aufbrechender Finanzierungslücken und wachsender Schuldenstände ihren Niederschlag findet. In vielen Staaten sind seit einiger Zeit die öffentlichen Haushalte weit aus ihrem Gleichgewicht geraten. Die Zinsbelastung stranguliert zum Beispiel in den meisten EU-Ländern zunehmend den Handlungsspielraum der Finanzpolitik, und zur traditionellen Konjunkturabhängigkeit der öffentlichen Haushalte ist eine stark wachsende Zinsempfindlichkeit getreten.
Es wäre sicherlich verfehlt, für diese Misere primär exogene oder konjunkturelle Faktoren verantwortlich zu machen, wenngleich wir in Deutschland aufgrund der Wiedervereinigung zweifellos noch am ehesten einen Sonderfaktor geltend machen können. Vielmehr ist in’ vielen Industrieländern die Expansion des Interventionsund Wohlstandsstaates mit wachsenden beziehungsweise hohen öffentlichen Defiziten finanziert worden. Um so bitterer ist nun für viele die zunehmend unausweichliche „Vertreibung aus dem Schuldenparadies“, von dem Verstoß gegen die in Maastricht für die, EU-Länder vereinbarten Kriterien ganz zu schweigen.
Wie hoch die gesamte Nettolast der öffentlichen Verschuldung zu veranschlagen ist, läßt sich freilich generell kaum beantworten. Neben den makroökonomischen und finanzwirtschaftlichen Auswirkungen in den Phasen der Kreditaufnahme sind nicht nur die anschließenden Schuldendienstleistungen und ihre Finanzierung mit ins Bild zu nehmen. Auch die bei der späteren Konsolidierung anfallenden Schäden gehen letztlich auf das Konto der früheren Schuldenpolitik.
<font size="4">Der Trick mit der Ãœberraschungsinflation</font>
Wachstumspolitisch angezeigt war und ist eine Schuldenpolitik nur insoweit, als sich mit ihr effektiver als mit anderen wirtschaftspolitischen Instrumenten per saldo die Ausstattung der Wirtschaft mit Ressourcen nachhaltig verbessern läßt oder dadurch eine günstigere Einsatzkombination der Potentialfaktoren realisiert werden kann. Gerade aber im längerfristigen Wachstumsaspekt liegen die Schäden beziehungsweise Gefahren einer übermäßigen Kreditnachfrage der öffentlichen Hand. Solange das volkswirtschaftlich relevante (Real-)Zinsniveau über die Expansionsrate der Wirtschaft hinausgeht, bringt bei funktionstüchtigen Märkten eine vermehrte Ersparnisbildung auf Dauer einen besseren Lebensstandard hervor und umgekehrt.
Aus dieser Parameterkonstellation folgt eine zweite wichtige Feststellung, nämlich daß chronische Finanzierungsdefizite auf längere Sicht kaum durchhaltbar sind. Der Grund hierfür liegt in dem von der Zinslast ausgelösten „Schneeballeffekt“, der letztlich nur durch einen Überschuß im Primärhaushalt (Budgetsaldo ohne Zinsendienst) und einen dazu passenden Konsolidierungskurs entschärft werden kann. Die Gegenthese, marktwirtschaftlich organisierte Systeme neigten von sich aus zu einer Überakkumulation und permanente Finanzierungslücken in den öffentlichen Haushalten sollten das ausgleichen, erscheint weder theoretisch überzeugend noch empirisch fundiert. Weder in Deutschland noch in Europa oder anderswo ist durch Ersparnis gebildetes Kapital im Überfluß vorhanden; eher müßte man - auch mit Blick auf den großen Nachholbedarf Mittel- und Osteuropas - von einer Unterversorgung sprechen.
Nun läßt sich einwenden, daß bei Beachtung der sogenannten „Goldenen Regel der Finanzpolitik“ - der Kreditaufnahme nur für Investitionen - das Erfordernis der zeitlichen Äquivalenz und das Gebot der wachstumspolitischen Vorsorge doch gewährleistet sind. Die Forderung nach Bindung des öffentlichen Kredits an produktive Verwendungszwecke hat in der Tat einigen intertemporalen Charme. Dies gilt vor allem für den Fall einer engen Komplementarität zwischen öffentlichen und privaten Investitionen. Gleichwohl sollte man dieses Argument nicht überstrapazieren, was auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Artikel 115 des Grundgesetzes aus dem Jahre 1989 unterstrichen hat.
Für einen eher engen Anwendungsbereich spricht eine Reihe von Gründen. Besonders wichtig erscheint dabei die Unterscheidung zwischen kollektivem Konsum kapital einerseits und Produktionskapital andererseits. Während ersteres nur, eine zeitliche Verteilung des mit der Investition verbundenen Nutzenreservoirs ermöglicht, wird durch letzteres - und darauf kommt es wachstumspolitisch an - das Nutzenreservoir erhöht.
In der Praxis lassen sich diese beiden Kapitalformen allerdings oft nur schwer auseinanderhalten. Dennoch gibt es zum Beispiel zwischen einem öffentlichen Hallenschwimmbad und dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur im Regelfall einen wachstumspolitisch relevanten Unterschied. Außerdem haben wir im allgemeinen nur eine sehr unvollkommene Kenntnis von der Präferenzordnung unserer Nachkommen, so daß sich auch das Nutzenpotential schlecht abschätzen läßt. Nicht zuletzt umfassen die investiven Ausgaben der öffentlichen Hand eine Vielzahl von Leistungen mit Subventionselementen, die strukturkonservierend wirken und die Gefahr von Kapitalfehllenkungen in sich tragen - also das Gegenteil dessen, was man eigentlich erreichen möchte.
Von einer Staatsverschuldung im weiteren, indirekten Sinne kann grundsätzlich auch die Rede sein bei einem übermäßigen Angebot an „Staatsschuldtiteln auf Sicht“, etwa in Form von Zentralbankgeld. Ungeachtet der terminologischen Differenzierung zwischen „Staatsschuld“ und „Geld“, an die wir uns gewöhnt haben, und der institutionellen Besonderheiten, die damit verbunden sind, stellt das von einer Notenbank emittierte Zentralbankgeld im Grunde nämlich nichts anderes dar als eine Verbindlichkeit des Staates gegenüber privaten Wirtschaftseinheiten.
Worauf es in diesem Kontext bei allen im übrigen bestehenden analytischen Unterschieden ankommt, ist der grundlegende Sachverhalt, daß die Emission von Schuldtiteln beider Grundtypen - nennen wir sie staatliche Schuldverschreibungen im konventionellen oder monetären Sinne - es dem Staat gestattet, reale Ressourcen für sich in Anspruch zu nehmen. Diese sogenannte Seigniorage, von der wir im Zusammenhang mit der Geldschöpfung sprechen, ist es auch, die historisch gesehen und in einigen Ländern bis heute die Versuchung zu einer exzessiven Ausgabe von monetären Schuldtiteln hat immer wieder übermächtig werden lassen.
Der vermeintlich bequeme Weg, den Realzins via Überraschungsinflation künstlich zu drücken und per Inflationssteuer sich eines Teils der konventionellen Realschuld zu entledigen, ist offenbar zu verführerisch, als daß man das Mißbrauchspotential einfach außer acht lassen darf. Dies ist einer der Gründe dafür, weswegen eine von der Politik unabhängige, nur der Geldwertstabilität verpflichtete Zentralbank so wichtig ist.
Die in einer exzessiven Geldversorgung auf längere Sicht angelegten inflatorischen Prozesse zerstören einen zentralen Eckpfeiler unseres Wohlstandes und der sozialen Gerechtigkeit. Inflation und chronische Budgetdefizite sind, politökonomisch betrachtet, in der Regel Ausdruck ungelöster gesellschaftlicher Konflikte, die man zu Lasten der Zukunft zu überspielen versucht. In beiden Fällen zählt aber auch der Staat letztlich zu den Geschädigten, sei es als Verlierer im inflatorischen Negativ-Summenspiel oder als handlungsunfähig gewordener Gefangener in der budgetären Verschuldungsfalle.
Vom theoretischen Vorzeichen im Prinzip kaum anders, wenngleich weit weniger transparent hegen die allokativen Fragen im Falle umlagefinanzierter Sozialversicherungssysteme. Obgleich sich ein generelles Verdikt verbietet, ist der Befund zutreffend, daß derartige Systeme aufgrund ihrer Konstruktionsprinzipien dazu neigen, ein zu hohes Angebot an Leistungsversprechungen für die Zukunft abzugeben und ihre finanziellen Grundlagen zu überfordern.
Es spricht vieles dafür, daß unter allokativen Gesichtspunkten das Umlageverfahren, jedenfalls solange es ohne strategische Rücklagen operiert, im Vergleich zum Kapitaldeckungsverfahren schlecht abschneidet. Zwar haben in beiden Fällen die Rentenansprüche möglicherweise den gleichen Kapitalwert; diese bleiben indes beim Umlageverfahren ohne realwirtschaftliche Fundierung. Bei der Einführung oder dem Ausbau umlagefinanzierter Systeme findet letztlich ähnlich wie bei der offenen Staatsverschuldung gesamtwirtschaftlich eine Vernichtung von Sparkapital statt.
Die in diesem Zusammenhang regelmäßig zu hörende Mackenroth-These, wonach aller Sozialaufwand unabhängig von der Finanzierungsform aus dem laufenden Volkseinkommen gedeckt werden muß, verfängt hier nicht, da sie entweder lediglich auf eine kreislauftheoretische Selbstverständlichkeit abstellt oder die angebotsseitigen Potentialeffekte ausblendet. Wo aber stünde die Sozialpolitik mit all ihren tatsächlichen wie zweifelhaften Fortschritten heute, wenn nicht die hierzulande traditionell hohe Sparbereitschaft in der Vergangenheit die realwirtschaftiche Basis für den zusätzlichen Verteilungsspielraum gelegt hätte? Wird das auch in Zukunft genügend der Fall sein?
<font size="4">Das Heute und Morgen in ethischer Betrachtung</font>
Vor dem Hintergrund des fortschreitenden Alterungsprozesses unserer Gesellschaft erhalten diese Fragen ein besonderes Gewicht, zumal auch die meisten unserer wichtigsten westlichen Handelspartner angesichts von „Nettoreproduktionsraten“ ihrer Bevölkerung von deutlich unter 1 vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Unter diesen Umständen ist trotz Rentenreformgesetz 1992 eine Beitragssatzstabilität längerfristig illusorisch, wenn nicht die gesetzlichen Rentenanpassungen und das bestehende Netto-Rentenniveau rechtzeitig erneut hinterfragt werden dürfen.
Natürlich sind auch kapitalgedeckte Finanzierungsreformen nicht immun gegen starke demographische Veränderungen sie sind aber gleichwohl weniger störanfällig gegenüber solchen Einflüssen und bieten wohl auch für die Versicherten längerfristig eine bessere „interne Verzinsung“ ihrer eingezahlten Beiträge. Wer hier an deflatorische Lücken in der Aufbauphase des Kapitalstocks denkt oder an einen Kursverfall in der Phase der Auflösung von Rücklagen, verkennt, daß es nicht um eine vollständige Umstellung der Rentenfinanzierung geht, sondern um eine stärkere Betonung des Vorsorgemotivs. Und diese ist - entgegen allen Beschwichtigungen für den dauerhaften Erhalt der ökonomischen Grundlagen der Alterssicherung und zur Vermeidung einer Überforderung der kommenden Generationen unerläßlich.
Bei den verschiedenen offenen und verdeckten Formen der Staatsverschuldung geht es im Grunde nicht darum, wieviel an (zusätzlichen) finanziellen Erleichterungen und materiellen Wohltaten wir uns gönnen können, sondern die zu treffende Wahl lautet: Wieviel von dem möglichen Mehr an (privaten und öffentlichen) Ausgaben beziehungsweise dem Weniger an Abgaben heute müssen wir morgen durch ein Weniger an Ausgaben beziehungsweise ein Mehr an Abgaben erkaufen?
Da das Heute und Morgen auch unterschiedliche Generationen betrifft, kommt hier auch eine besonders gewichtige moralisch-ethische Kategorie zum Tragen. Für die nachkommenden Generationen ist nicht nur die Bewahrung der Lebensgrundlagen in der Natur wichtig. Wir müssen ihnen auch die wirtschaftliche Leistungsbasis erhalten und dürfen nicht ein übermäßig vorbelastetes Erbe übergeben.
<font size="4">Selbstbestimmung für künftige Generationen</font>
Was wir zunächst brauchen, ist eine bessere Erfassung der Kosten und der zeitlichen Kostenverschiebungen, die schon seit längeren im öffentlichen Sektor stattfinden. In den Vereinigten Staaten hat das sogenannte „generational accounting“ bereits Einzug in offizielle Haushaltsdokumente gehalten und triste Perspektiven für die jüngeren und noch ungeborenen Generationen offengelegt. Eine jüngere Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) kommt mittels des gleichen methodischepn Ansatzes auch für Deutschland insgesamt zu recht ungünstigen Ergebnissen, wenngleich die Lage in anderen Ländern teilweise noch problematischer ist.
Worauf es jetzt und in Zukunft aber vor allem und mehr denn je ankommt, ist eine klare ordnungspolitische Grundausrichtung. Wir haben erfahren, welche Kräfte ein marktwirtschaftliches System entfalten kann, wenn es nicht durch hohe Zwangsabgaben demotiviert, nicht von einem Übermaß an Regulierungen in seiner Bewegungsfreiheit eingeschnürt, nicht durch eine Ausweitung des Staatskorridors zurückgedrängt oder durch staatliche Subventionen in falsche Bahnen gelenkt wird.
Soziale Marktwirtschaft, das bedeutet weitaus mehr als nur ein rein instrumentell zu verstehendes Gebilde. Indem sie über den Wettbewerb und den seit Adam Smith rehabilitierten Eigennutz nach bestmöglicher ökonomischer Effizienz strebt, kann sie schon allein daraus auch eine ethische Grundlage für sich beanspruchen. Persönliche Freiheit und Leistungsgerechtigkeit im Sinne der „iustitia commutativa“ sind unter Beachtung ihrer „konstituierenden und regulierenden Prinzipien“ bei der sozialen Marktwirtschaft am besten aufgehoben. Da sie zugleich als „Nebenprodukt“ Machtfülle und Privilegien bekämpft, wird sie, wie Walter Eucken es einst in seinen Grundlagen der Nationalökonomie gefordert hat, zu einer „menschenwürdigen Ordnung“.
Die Finanzordnung des Staates und die Geldverfassung unserer Gesellschaft haben das nicht nur zu achten, sondern auch nach besten Kräften zu unterstützen. Um es mit den Worten Oswald von Nell-Breunings besonders klar und prägnant auszudrücken: „Unkenntnis der Wirtschaftsgesetze ist die erste, Handeln unter bewußter Außerachtlassung der Wirtschaftsgesetze die gröbste Versündigung gegen die Wirtschaftsethik.“ Zu den hieraus abzuleitenden Handlungsmaximen gehören aus meiner Sicht vor allem diese:
- Die Stabilität des Geldes darf nicht zur Disposition gestellt werden.
- Die Finanzpolitik muß das Gebot der zeitlichen Konsistenz sowie der intertemporalen Äquivalenz ihres Handelns künftig stärker beachten, den Mut für eine klare Setzung von Prioritäten (und damit auch Posterioritäten) aufbringen sowie hinreichend Raum lassen für privatwirtschaftliche Entfaltung.
- Die Sozialpolitik muß die gegenwärtigen und erst recht die zukünftigen Grenzen der Umverteilung und den Grundsatz der Subsidiarität stärker respektieren. Ohne weitergehende Korrekturen können unsere Sicherungssysteme auf Dauer kaum überleben.
Zur Absicherung dieser Normen sind rechtliche Vorkehrungen ein nützliches Regulativ. Wer hiervon eine Ausnahme für sich beansprucht, trägt die Beweislast. Wichtiger aber noch ist, daß der tiefere Sinn solcher Grundzusammenhänge und gesellschaftlichen Verträge von den Verantwortlichen, aber auch von der Bevölkerung zunehmend verstanden und eingeübt wird; ansonsten motivieren Gesetze und Verordnungen nur zur Suche nach Schlupflöchern und Ausweichstrategien. Hier haben meines Erachtens auch die, Kirchen eine große Verantwortung. Eine offene Gesellschaft braucht den Geist einer Verantwortungethik, die, wie Hans Jonas sie verstand, neben Pflichtbewußtsein und Gewissenhaftigkeit auch die Langfristwirkungen des Tuns wie des Unterlassens bedenkt und sorgsam gegeneinander abwägt. Das gilt in besonderem Maße für die Politik.
Der Wert einer offenen Gesellschaft bestimmt sich nicht zuletzt danach, wie sie materiell mit dem Recht, aber auch der Pflicht der kommenden Generationen umgeht, über ihr eigenes Schicksal selbst zu bestimmen und sich den sozialen Frieden und einen ihnen erstrebenswerten Lebensstandard selbst zu verdienen.
Gruß
G.
<center>
<HR>
</center> |