»Das Kapital soll zu
den Menschen gehen«
Bevölkerungsexperte: Zuwanderung hilft
weder der Bundesrepublik noch den
Auswanderungsländern
Die jeweils klügsten Köpfe aus den ohnehin
weniger entwickelten Ländern abzuziehen, das
sei unmoralisch, sagt der
Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg im
heute.online-Interview. Und auch gar nicht nötig. Denn
Deutschland könne sein demographisches Problem aus eigener
Kraft lösen: durch aktive Familienpolitik. »Zwei Kinder pro Frau,
das wäre ideal«, sagt der Bielefelder Professor.
von Andreas Rother, 28.02.2002
Dauerhaft auf Kosten anderer Länder überleben zu
wollen - demographisch gesehen - das sei ethisch
nicht zu rechtfertigen, sagt Herwig. »Denn die
Menschen müssen ja, bevor sie nach Deutschland
kommen, um unsere Probleme zu lösen, erzogen
und ausgebildet werden. Das kostet nicht nur Mühe,
sondern vor allem viel Geld.« Stillschweigend werde
hingenommen, dass andere Länder diese Kosten
tragen »und wir die Früchte ernten«. Zudem werde
das Entwicklungspotenzial der
Auswanderungsländer nachhaltig geschwächt, wenn
immer die besten Arbeitskräfte abgezogen würden.
Das sei aber eigentlich nichts Neues, sagt Herwig.
Dennoch hat die ethische Dimension der
Zuwanderung bislang kaum Eingang in die
öffentliche Debatte gefunden, auch nicht bei den
Gegnern der rot-grünen Gesetzesvorlage. Obgleich
das Problem den politischen Akteuren sehr wohl
bekannt ist: Herwig referierte dazu im Januar vor
dem Bundestags-Innenausschuss zur Zuwanderung.
»Niemand hat mir dort widersprochen.«
Wettbewerb um kluge Köpfe
Nicht nur Deutschland hat ein demographisches
Problem. In nahezu allen europäischen Ländern
schrumpft die Bevölkerung. Die Folge: Trotz hoher
Arbeitslosigkeit fehlt es an Fachkräften. Auf Grund
der Ãœberalterung der Gesellschaften drohen die
Sozialsysteme zu kollabieren. Bleibt es bei der
Strategie, diese Entwicklung durch Zuwanderung
bremsen zu wollen, werde sich die Schere zwischen
armen und reichen Ländern weiter öffnen. »Der
globale Wettbewerb um nachwachsende jüngere
Arbeitskräfte wird sich noch wesentlich
verschärfen«, prophezeit Herwig.
Das tragische an dieser Entwicklung sei, dass sie,
einmal ins Rollen gebracht, über Jahrzehnte nicht
mehr zu stoppen sein werde. »Das Kapital sollte zu
den Menschen gehen. Die Menschen sollten nicht
dem Kapital folgen«, sagt Herwig. Wenn
Arbeitsplätze nach Polen, Tschechien, Russland
oder auch China gingen, sei das doch viel besser
für die Menschen.
Ideal: zwei Kinder pro Frau
Kritik am geplanten Einwanderungsgesetz hat
Herwig zudem, weil es auch Deutschland nicht den
erhofften Nutzen bringen werde. Die »Zuwanderung
in die Sozialsysteme« könne damit nicht gestoppt
werden. Denn zu Einwanderern zählten schließlich
auch Asylbewerber, und »die können wir auf Grund
der Rechtslage - Gott sei Dank - nicht einteilen in
erwünscht oder nicht erwünscht, kräftig und gesund
oder krank und schwach«.
Statt auf Einwanderung zu setzen, empfiehlt Herwig
der Bundesregierung, langfristig zu einer stabilen
demographischen Entwicklung zurückzufinden.
Derzeit liegt die Geburtenrate in Deutschland bei
1,4, ideal wären zwei Kinder pro Frau. Ein statistisch
kleiner Unterschied mit großen Folgen. Denn auch
wenn es gelänge, die Geburtenrate bis 2030 auf das
Ideal-Niveau zu bringen, würde es nach
Berechnungen des Bevölkerungswissenschaftlers
trotzdem bis 2080 dauern, um Geburten und
Sterbefälle wieder auszugleichen.
Aktive Familienpolitik
Ein Argument für mehr Zuwanderung sieht
Herwig aber auch in diesen Zahlenspielen nicht.
Denn noch ließen sich die negativen Folgen des
Schrumpfungsprozesses auch ohne
»Arbeitskräfteimport« bewältigen. Zum einen durch
Qualifizierung deutscher Arbeitskräfte und
Produktivitätsfortschritte. Zum anderen durch
aktive Familienpolitik, die es Frauen ermöglicht,
Kinder zu bekommen und trotzdem erwerbstätig zu
bleiben. Damit würden zwei Fliegen mit einer
Klappe geschlagen: Die Frauen stehen als
Arbeitskräfte zur Verfügung und können Kinder
gebären, die ohne weitere Integrationsbemühungen
in zwanzig Jahren ebenfalls auf dem Arbeitsmarkt
bereit stehen. Als Beispiel für eine effektive
Familienpolitik nennt er Frankreich, wo für eine
ganztägige Kinderbetreuung gesorgt werde. Das
Land hat inzwischen wieder eine fast stabile
Geburtenrate von 1,8.
Also braucht Deutschland keine Einwanderer? Das
demographische Problem, sagt Herwig, ist seit 20
Jahren bekannt. »Wir haben das sehenden Auges
verschlafen.«. Noch ließen sich die Folgen aber mit
einer »ganz normalen, soliden Politik bewältigen«.
Wenn jetzt allerdings noch einmal 20 Jahre tatenlos
vergingen, »dann kommen wir nur noch durch sehr
hohe und immer höhere Einwanderungen zurecht
<ul> ~ http://www.heute.t-online.de/ZDFheute/artikel/0,1251,POL-0-178975,00.html</ul>
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