aus der DIE WELT
Willkommen in den Vereinigten Skandal-Staaten
Die US-Wirtschaft hat ihre Vorbild-Funktion verloren. Experten beklagen Krise des Kapitalismus. Vertrauensbildende Maßnahmen gefordert
Von Martin Halusa
New York - Die großen USA ganz klein:
Gegen die bankrotte Kaufhauskette K-Mart ermitteln die Börsenaufsicht SEC und das FBI - wegen Unregelmäßigkeiten in der Bilanz. Der Energiehändler Dynegy gesteht ein, seinen Umsatz mit"Round Trips" (Stromverkäufe- und sofortiger Rückkauf) aufgebläht zu haben. Das Kabelunternehmen Adelphia wird wegen zweifelhafter Deals vom Handel ausgeschlossen.
Hunderte von Firmen berechnen Gewinne und Umsätze der vergangenen Jahre neu, bevor der Staatsanwalt klingelt. Von den Fällen Enron (falsche Angaben über Schuldenstand und Umsatz), Andersen (Vernichten von Akten), Worldcom (Selbstbedienung des Managements) oder Merrill Lynch (Analysten im Interessenkonflikt) ganz zu schweigen.
Die Berichte über Betrug, Fälschung, Bereicherung und Missmanagement nehmen täglich zu. Fast 100 Unternehmen im ganzen Land sind im Visier der Fahnder. Die"Enronitis" hat weite Teile von Corporate America erfasst. Die Frage: Handelt es sich bei den nun bekannt werdenden Fällen um Einzelfälle oder System? Begeben sich nur einige wenige auf krumme Tour? Oder ist etwas faul im Lande? Und wer ist verantwortlich dafür? Untergangspropheten sehen schon eine"Krise des Kapitalismus". Die"Business Week" mahnt:"Überall herrschen Misstrauen und Verdächtigungen." Politikern droht die Vorladung vor Gericht, Managern die Haft. Wer zugibt, Wirtschaftsprüfer - einst ein hoch angesehener Berufsstand - zu sein, wird betrachtet wie ein Schurke.
Willkommen in den USA Mitte 2002, zwei Jahre nach dem Internet-Boom, zwei Jahre nach dem Platzen der Börsenblase - bei dem sich fünf Mrd. Dollar an Investorengeld in Luft aufgelöst haben. Willkommen in einem Land, in dem sich immer mehr Bürger fragen, was sie eigentlich ernst nehmen können und was nicht."Der Tag wird kommen, an dem wir den Zahlen wieder glauben können", hofft Steven Roach, Chefökonom von Morgan Stanley."Derzeit ist dies aber noch nicht der Fall." Umfragen zufolge trauen nur noch 26 Prozent der Bürger"Big Business" über den Weg. Ein Land scheint zur Schwindelwirtschaft zu verkommen, und wieder mal hat niemand etwas gemerkt, haben alle Kontrollen versagt.
Die Krise durchzieht alle Bereiche der Wirtschaft - zweifelhafte Zahlen, übertriebene Versprechungen, kriminelle Energie und schiere Gier bedrohen Amerika, die Supermacht. Wo Vertrauen fehlt, steht die Kreditwürdigkeit und schließlich der wirtschaftliche Erfolg infrage. Investoren fehlt der Mut: Seit Monaten tänzelt der Dow Jones mal unter, mal über der Marke von 10.000 Punkten. Die Börse summt den Blues: Die Unternehmen verschieben den Zeitpunkt, zu dem sie wieder Gewinne erwarten, von einem Monat zum nächsten. Selbst elf Zinssenkungen in Folge können keinen Optimismus verbreiten. Vielleicht liegt es daran, dass nach dem fulminanten Jahresbeginn mit einem Wachstum von 5,6 Prozent für den Rest des Jahres wieder mit einer Flaute gerechnet wird."Wo bleibt der Boom?", fragt der Ã-konom Paul Krugman. In Washington erklärt sich Justizminister John Ashcroft derweil in Sachen Enron für befangen, weil er von der Firma Gelder für seinen Wahlkampf erhielt. Bananenrepublik Amerika?
Alle sind sich einig: Die USA müssen schnellstens dafür sorgen, dass Vertrauen in das System, in den Markt, letztlich in den Kapitalismus zurückkehrt. Dies gilt im eigenen Lande wie international: Zwar ist das Verbrauchervertrauen in den USA auf relativ hohem Niveau stabil. Doch das Ausland blickt schon jetzt naserümpfend auf Amerika: Die einst so gerühmte US-Rechnungslegung GAAP wird angezweifelt. Streit mit Europa schwelt in Sachen Stahlzölle und Agrarsubventionen. Von einem"Absturz des Liebreizes" spricht der Volkswirt Barton Biggs. Die Folgen: Der Kauf von US-Aktien durch Ausländer nimmt ab, die Übernahme amerikanischer Unternehmen ebenso."Die gesamte Führungsrolle der USA steht infrage", mahnt Krugman. Was ist zu tun?
Der wichtigste Punkt, sagen Ã-konomen einhellig, sei eine Reform der"Corporate Governance" und der ethischen Standards. Heftige Kritik etwa entzündet sich an den Aufsichtsräten, denen die Skandale und die Finanzakrobatik durch die Lappen gehen - und das, obwohl die Aufsichtsräte in den USA meist aus qualifizierten Experten zusammengesetzt sind. Doch die"Directors" haben sich als ineffizient erwiesen, viele gelten weder als unabhängig noch als kompetent. Das Management bestimmt, wer im Aufsichtsrat sitzt. Da sind Interessenkonflikte programmiert.
Der bekannte Financier Carl Icahn machte sich einst über die Sitzungen des"Board of Directors" lustig:"Die eine Hälfte macht ein Nickerchen, die andere liest das,Wall Street Journal'." Dann lege jemand ein paar Folien auf, die niemand verstehe,"und dann schlafen alle ein". In den meisten Sitzungen gehe es vor allem um die Bezahlung der Manager und nicht um strategische Fragen, sagt Richard Finlay vom Center for Corporate and Public Governance.
Vorschläge liegen auf dem Tisch, die Qualität der Boards zu erhöhen. Mitglieder sollen keine Aktien der Firma mehr handeln dürfen, in dessen Aufsichtsrat sie sitzen. Die Zahl der Mandate und Amtszeit sollen beschränkt werden. Außerdem sollten nur zwei Mitglieder des Managements im Board sitzen. Bislang können Unternehmenschefs gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzende sein - und sich damit selbst kontrollieren.
Mit diesen Vorschlägen, die derzeit im Kongress diskutiert werden, geht der nächste Punkt einher, der gerade in Europa für Kopfschütteln sorgt - die Bezahlung der Manager. So verdiente Jack Welch, einst CEO von General Electric, in seiner 20 Jahre dauernden Karriere die erstaunliche Summe von einer Mrd. Dollar. Selbst Manager, die wie im Fall Enron oder Dynegy, ihre Firma in tiefe Probleme stürzen, können mit einer Überweisung in zweistelliger Millionenhöhe rechnen. Ein funktionierender Aufsichtsrat würde derartigen Übertreibungen einen Riegel vorschieben.
Für eine Verbesserung ist bereits gesorgt: So verpflichtete sich das Bankhaus Merrill Lynch - nicht ohne Druck des Staatsanwaltes -, seine Research-Abteilung vom Bereich Investment zu trennen, um einen Interessenkonflikt künftig zu vermeiden. Andere Banken werden sich dem Beispiel anschließen. Auch bei der Aufsicht über das Wirtschafts- und Finanzsystem werden die USA die gelockerten Zügel wieder anziehen müssen, um ihre international ramponierte Reputation zu verbessern. Wo Wahlkampf-Dollar fließen, sei die Kontrolle lax, kritisiert die"Washington Post".
Der Fall Enron zeigt, dass auch die Wirtschaftsprüfer im Lande um eine Reform nicht herumkommen."Es kann doch nicht sein, dass die gleiche Firma, die die Bilanz aufstellt, diese dann auch testiert", sagt ein Branchenkenner. Das Beratungs- und das Prüfungsgeschäfte müssten schnellstens voneinander getrennt werden. Ein anderer Vorschlag lautet, dass Prüfer nur wenige Jahre Kunde eines Unternehmens sein dürften; danach müsse gewechselt, neu kontrolliert werden.
Gleich eine"Krise der Kapitalismus" zu beschwören sei aber voreilig, wiegeln Ã-konomen ab. Denn Probleme, wie die derzeit vorhandenen, hätten immer auch dafür gesorgt, Fehler, Macken und Schwachstellen des Systems zu korrigieren.
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