Zwischen"Tango-Effekt" und"Samba-Krise":
Nun auch Chile im Wirbel der Turbulenzen?
Die nationale und internationale Besorgnis wächst und wächst: Schaute man
bisher mit größter Aufmerksamkeit auf Argentinien und den sogenannten
"Tango-Effekt", mit dem die Auswirkung der Krise auf die gesamte Region
bezeichnet wird, sieht man sich jetzt auch noch mit der"Samba-Krise"
konfrontiert, mit der die wirtschaftliche und politische Instabilität von
Brasilien gekennzeichnet wird. Handelte es sich bisher um schwelende lokale
Feuer, fürchtet man nun einen Flächenbrand, der die ganze Region erfasst
und einige Länder schon in bedenkliche Schieflage gebracht hat. Chile galt
bisher als"Fels in der Brandung" - wie lange noch?
Die Argentinenkrise hält Lateinamerika in Atem. Nicht nur, dass eine
negative Nachricht aus dem zahlungsunfähigen Nachbarland die andere jagt -
auch andere Länder spüren mittlerweile stark den sogenannten
"Tango-Effekt", der die nationalen Wechsel- und Aktienkurse drückt. Das
kleine Nachbarland Uruguay, das wirtschaftlich stark von Argentinien und
Brasilien abhängt, musste letzte Woche abwerten. Sein Länderrisiko
schnellte auf 1.259 Basispunkte gegenüber 200 im Januar!
Für Argentinien, das den Schuldendienst auf den größten Teil seiner
Auslandsschulden einstellte, zeichnet sich noch kein Ausweg aus der Krise ab. Neue Zahlen der Regierung machten in den vorigen Wochen das Ausmaß des Desasters am RÃo de la Plata deutlich: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Argentiniens fiel im ersten Quartal diesen Jahres um 16,3 Prozent. Dabei ist noch unklar, ob damit die Talsohle der mehr als dreijährigen Rezession
erreicht ist. Nach Querelen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF)
trat letzten Freitag der argentinische Zentralbankchef Mario Blejer zurück.
Eine weitere Kreditvergabe an Argentinien knüpft der IWF an die
Bedingungen, eine Strukturreform in der Verwaltung einzuleiten, damit die
Gelder nicht in einem Fass ohne Boden versickern. Analysten rechnen für die nächsten Wochen bestenfalls mit einem Minimalabkommen. Damit bekäme Argentinien höchstens Mittel, um seine Verbindlichkeiten beim IWF und anderen Finanzinstitutionen begleichen zu können, aber kein frisches Geld für laufende Ausgaben.
Schon lange wurde heftig spekuliert, ob sich Brasilien, als größtes Land
von Lateinamerika, und dessen drittgrößte Wirtschaftsmacht, dem Sog des argentinischen Zusammenbruchs entziehen könnte. Doch nach den jüngsten politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen im Land ist die
"Brasilien-Hysterie" ausgebrochen. Für die einen liegt die Erklärung in den brasilianischen Präsidentschaftswahlen im Oktober, bei denen der Kandidat der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, bei Meinungsumfragen deutlich vor José Serra liegt, der als einer seiner
wichtigsten Mitbewerber aus dem bürgerlichen Lager gilt. Für Unternehmer und Investoren ist Lula immer noch dasselbe linke politische Schreckgespenst, das er schon bei drei früheren Urnengängen war. Dieses mögliche"Lula ante portas" birgt, laut Experten, ein dynamit-ähnliches Verunsicherungspotential, das die Entwicklung in Brasilien in den nächsten Monaten entscheidend beeinflussen wird.
Hinzu kommt, dass an den internationalen Finanzmärkten die Nerven sowieso blank liegen und das Gerüst für eine mögliche"Samba-Krise" schnell gezimmert ist: Brasiliens öffentliche Verschuldung beträgt 280 Mrd. US-Dollar. Anders als Argentinien ist Brasilien allerdings stärker in
lokaler Währung verschuldet. Das Land braucht jährlich Direktinvestitionen von mindestens 20 Mrd. US-Dollar, um sein Leistungsdefizit auszugleichen. Im ersten Quartal des Jahres sind die Gelder auch geflossen, wenngleich mit höheren Risikoaufschlägen. Die Entwicklung in den letzten Tagen lässt Analysten aber daran zweifeln, ob das auch so bleiben wird. Der Real verlor in diesem Jahr schon fast 20 Prozent an Wert, Ende letzter Woche stiegen die Risikoaufschläge bei den Renditen brasilianischer Anleihen auf den Rekordwert von 1.600 Basispunkten gegenüber amerikanischen Staatstiteln.
Damit liegt das Länderrisiko Brasiliens nur kurz hinter Argentinien und
noch vor Nigeria und ist eines der höchsten der Welt! Mehr als unbequem ist auch die brasilianische Schuldenstruktur: Gut ein Drittel werden in den
nächsten zwölf Monaten fällig.
Dennoch warnte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Michael Rogowski, davor, Brasilien"schlecht zu reden"."Wer heute Brasilien mit Argentinien vergleicht, hat entweder keine Ahnung, oder tut dies, um das Land bewusst zu destabilisieren", sagte Rogowski am Rande der deutsch-brasilianischen Wirtschaftstage, die diese Woche in Deutschland begannen. Laut Rogowski sind es"vor allem die politische Umstände der bevorstehenden Wahlen", die die Akteure der internationalen Finanzwelt verunsicherten. Das ändere aber nichts daran, dass die wirtschaftspolitischen Rahmendaten Brasiliens"gut bis sehr gut" seien.
Für einen seit Jahrzehnten mit Lateinamerika befassten deutschen Banker ist Brasilien jedoch"eine tickende Zeitbombe". Die wirklichen Probleme Brasilien lägen gar nicht in der Auslandsverschuldung von 280 Mrd. Dollar, sondern in der wachsenden Inlandsverschuldung, die bei bis zu geschätzen 300 Mrd. US-Dollar liegen könnte.
Probleme, wohin man schaut. Erst der Putschversuch in Venezuela, dann die jüngsten politischen Unruhen, die Peru erschütterten, Uruguay und auch Paraguay, das 70 Prozent seines Warenhandels mit Brasilien abwickelt, wirtschaftlich am Boden. Und selbst Mexiko, das bisher noch als sicherer Hafen in Lateinamerika galt, ist betroffen. Der mexikanische Finanzminister Francisco Gil DÃaz schockte vergangene Woche die Märkte. In einer leichtfertigen Äußerung verkündete er, dass in Mexiko ohne ein besseres Steuersystem mittelfristig eine Krise wie in Argentinien eintreten könnte. Prompt verlor der mexikanische Peso zwei Prozent an Wert und fiel auf den tiefsten Stand seit zwei Jahren. Präsident Fox sah sich veranlasst, eiligst zu versichern, dass Mexiko nicht Argentinien sei.
Inmitten der Krisenherde liegt nun Chile, das noch vor einem Monat, bei der Unterzeichnung des Freihandelabkommens mit der EU von Wirtschaftsminister Jorge RodrÃguez Rossi als"Fels in der Brandung" bezeichnet wurde. Diese Woche überschritt der US-Dollar kurzzeitig die psychologische Grenzmarke von 700 Pesos, pendelte sich dann aber auf 699,3 im Ankauf und 699,8 im Verkauf ein. Regierungschef Lagos rief angesichts der Turbulenzen in der Region das Land zur Einheit auf. Auch wenn einige immer noch steif und fest behaupten, dass Chile eine Insel sei, sind sich Wirtschaftsexperten und Politiker doch einig, dass auch Chile, trotz solider wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, nicht immun ist gegen die Auswirkungen einer Destabilisierung der größten Länder der Region. Konnte man den Tango-Effekt noch einigermaßen managen, wird es jetzt schon schwieriger. Dennoch ist zum Beispiel der Senator Alejandro Foxley (DC) zuversichtlich und stimmt mit den Wirtschaftsanalysten der Universidad de Santiago in der Meinung überein, dass sich die Wirtschaft Brasiliens schon wieder fangen werde. Für ihn ist Chile aufgrund seines soliden Staatshaushaltes und der ausgeglichenen und verantwortungsvollen Finanzpolitik von den Geschehnissen in der Region relativ abgekoppelt, wobei die Betonung auf"relativ" liegt. Die gegenteilige Meinung vertritt der Direktor des Zentrums für Internationale Wirtschaft des Instituts Libertad y Desarrollo (ILD), Francisco Garcés. Für ihn hat die Annahme, dass Chile eine Insel mit Immunstatus sei, weder Hand noch Fuß. Im Gegenteil, die chilenische Wirtschaft sei"äußerst zerbrechlich". Die Regierung müsse mit ihrer soliden Politik fortfahren und die Institutionen stärken, um gegenüber äußeren Faktoren weniger verletzlich zu sein. Auf jeden Fall, so die verbreitete Meinung, dürfe man sich in der jetzigen Situation, nicht in größere öffentliche Ausgaben stürzen und müsse die Reformprojekte vorantreiben.
Aber vielleicht ist alles auch gar nicht so schlimm, wie es im Moment den
Anschein hat. Die Ergebnisse einer Umfrage unter in Brasilien tätigen
Unternehmern im Rahmen der deutsch-brasilianischen Wirtschaftstage weisen daraufhin, dass die Unternehmer durchaus keinen Weltuntergang für den Fall voraussehen, dass Lula die Wahlen gewinnen sollte: Man könne mit Lula
leben, war die durchgehende Meinung...
Birgit Tuerksch
Quelle:
Deutsch-Chilenische Wochenzeitung in deutscher Sprache
Santiago de Chile
Ausgabe Nr. 3503 vom 27. Juni
<center>
<HR>
</center> |