-->Weiterleben in Grimma
"Das war eine Kriegserklärung"
Von Rüdiger Strauch, Grimma
Die Gegner haben mit ungleichen Waffen gekämpft. Nachdem das Wasser wieder abgezogen ist, offenbart sich den Menschen in Grimma die ganze Katastrophe."Wer will hier noch leben?" fragen sich einige. Mit Trotz und Verzweiflung reagieren viele auf die Vernichtung ihrer Existenz:"Kommen Sie in 10 bis 15 Jahren mal wieder vorbei."
Grimma - Vier Tage nachdem der Feind, das Wasser, ebenso schnell wieder verschwunden ist, wie er gekommen war, haben die Bewohner Grimmas in der Sprache der Militärs ein Ventil gefunden, um ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen."Das war eine Kriegserklärung", sagen sie und reißen dabei fassungslos die Augen auf. Die Mulde habe wie eine Bombe in der Stadt eingeschlagen. Und:"Wir haben den Dritten Weltkrieg erlebt."
Hans-Henning Schirmer hat kapituliert."Das war's", sagt der Mann, und würde seine schwere Krankheit ihm solche Bewegungen nicht verbieten, Schirmer hätte zu seinen Worten eine demütige Verbeugung mit ausholender Geste gemacht. Mulde, du hast gewonnen. Die Gegner haben mit ungleichen Waffen gekämpft, aber Sieg ist nun einmal Sieg. Das muss er anerkennen.
Schirmer, ein Mann mit energisch vorstehendem Kinn, hat seit seiner Jugend ein Leben im Kriegszustand geführt. Im Kampf mit Osteogenesis imperfecta, der tückischen Glasknochenkrankheit, die zu ständigen Brüchen führen kann. Viele Risiken ist er eingegangen, hat noch zu DDR-Zeiten einen Ausreiseantrag gestellt, sich mit den Machthabern angelegt, nach der Wende mit hohen Krediten ein Grundstück an Grimmas Flaniermeile gekauft und 1994 ein Geschäft für Damenmoden gegründet. Obwohl damals schon klar war, dass die Menschen ihre Klamotten lieber in billigeren Discountläden am Rande der Stadt kaufen.
Der 13. August bedeute für ihn das Ende, sagt der 58-Jährige. Der Laden ist ein einziger Trümmerhaufen. Inventar und Warenbestand sind vernichtet. Den Abtransport besorgen Bagger. Ein Bewegung mit dem Joystick im Führerhaus, und eine frühere Existenzgrundlage landet auf dem Müll. Die Helfer des Technischen Hilfswerks teilen mit, der überflutete Keller werde nicht weiter ausgepumpt. Die Fundamente des Hauses könnten in sich zusammensacken. Einsturzgefahr.
Derweil warten die Banken noch auf mehr als die Hälfte der rund 210.000 Euro, die sich Schirmer von ihnen leihen musste. Weitere Kredite kann und will er nicht mehr aufnehmen."Mir als Selbständigem droht die Sozialhilfe", sagt Schirmer. Er spricht es nicht klagend aus. Er stellt lediglich fest.
Im Gebäude schräg gegenüber denkt Elisabeth Thieme an Weihnachten. Sie tut es nicht in freudiger Erwartung. Die 49-Jährige sitzt im zerborstenen Schaufenster ihres Süßwarenladens oder dem, was die Mulde davon übrig gelassen hat. In den Wänden klaffen Löcher, die das Wasser gerissen hat. Es stinkt nach Schlamm, der sich zentimeterdick über alles gelegt hat und dessen Bakterienkulturen sich unter den Sonnenstrahlen munter vermehren.
Gnadenlose Banken
Ja, Weihnachten. Das sei so eine Sache, sagt Thieme. Mit Pralinen, Spirituosen und anderen Kleinigkeiten ließe sich im Dezember ein gutes Geschäft machen. Nur noch etwas mehr als drei Monate sind es bis dahin. Bereits im April musste die Ladenbesitzerin die Weihnachtsware bestellen. Im Oktober soll die Lieferung nach Grimma gebracht werden. Und Thieme fragt sich: Wohin eigentlich? Ihr Geschäft in dem über 300 Jahre alten Haus gibt es eigentlich ja gar nicht mehr.
Kann sein, dass Elisabeth Thieme einem vor allem deswegen so burschikos erscheint, weil sie in Jeans und Gummistiefeln steckt und aufgekratzt zwischen all den Eimern und dem Handwerkszeug herumsteigt. Doch die Mutter zweier Kinder scheint sich ihre unverkrampfte Einstellung zum Leben bewahrt zu haben."Wenn meine Lieferfirmen die Stornierungen nicht annehmen, dann schreibe ich an den Herrn Bundeskanzler - wie auch immer der ab September heißen mag", sagte Thieme, reckt keck den Hals und lacht ein herzliches Lachen.
Ausgeheult hat sie sich ein einziges Mal. Das war in der Nacht, nachdem sie mit ihrem Mann am Dienstag vergangener Woche gegen 18 Uhr aus dem ersten Stock ihrer Wohnung über dem Laden klettern musste. Beide waren bei Verwandten untergekommen. Niemand wusste, was die Zukunft bringen sollte. In der dunklen Grimmaer Innenstadt, wo ein Mensch in seinem Zuhause ertrank, spülte die Mulde gerade den Traum von einer erfolgreichen Geschäftskarriere davon."Mittlerweile bin ich darüber hinweg. Die Anspannung ist weg", versichert Elisabeth Thieme mit Nachdruck.
Das zehnjährige Jubiläum ihres Ladens möchte sie im nächsten Jahr auf jeden Fall feiern. Zehnjähriges und vielleicht Einjähriges dazu. Schließlich muss die Grimmaerin wieder von vorn beginnen. Und das bedeutet: Verzicht auf Lohn, Urlaub, auf all die Annehmlichkeiten des Lebens. In den vergangenen Jahren ihrer Selbständigkeit hat sich Thieme vom Geschäftserlös nur selten eigenen Lohn abgezwackt."Bald hätte ich die Möglichkeit dazu gehabt. Aber nach dieser Flut sind alle alten Pläne erst einmal über den Haufen geworfen worden."
Das neue Leben nach dem verheerenden Hochwasser beginnt für Hunderte Bewohner in Grimma-Süd. Plattenbauten stehen hier. Triste Wohnsilos aus der DDR-Vergangenheit, in die niemand mehr freiwillig einziehen wollte. In jedem Trakt standen vor dem 13. August mehrere Wohnungen leer. Übertrieben wäre es zu schreiben, jetzt kehre die Vitalität zurück. Mehr als Strom und Wasser steht in den Unterkünften nicht zur Verfügung.
Ein Ehepaar, das der Presserummel um ihr Schicksal allmählich zornig gemacht hat, steht vor den Gebäuden in der Südstraße am Hang über der verwüsteten Innenstadt. Dorthin, wo ihr einsturzgefährdetes Haus gerade von Gutachtern inspiziert wird, wollen sie vorerst nicht zurück."Was wir bei einer ersten Begehung gesehen haben, reicht uns", sagt der Mann und schweigt, um dann aber doch loszulegen. Kredite mit niedrigen Zinssätzen würden ihnen jetzt versprochen."Eine Sauerei ist das. Zinslos müssen sie sein!" Sonst sei Grimma mit seiner über 800-jährigen Stadtgeschichte tot. Fünf Fleischereien habe es im Ort gegeben - alle zerstört. Drogerieläden, Buchhandlungen, Lokale, Boutiquen - verwüstet."Wer möchte hier noch leben?"
Verlust der privaten Erinnerungen
Peter Dietel denkt schon darüber nach, der Stadt den Rücken zu kehren und wieder in seine Heimatstadt Leipzig zu ziehen. Der Restaurator und Bauingenieur hat in den Fluten alles verloren. Sein Häuschen direkt an der Mulde stand bis zur Dachrinne im reißenden Strom. Wertvolle Antiquitäten, alte Musikinstrumente, selbst geschaffene Skulpturen und seine Katze trieben davon."Wegen einer Waschmaschine heule ich nicht", sagt er und rückt sich seine runde Brille zurecht, die ihm über die Nase zu rutschen drohte, weil der Schweiß von der Stirn rinnt. Es sei der Verlust der ganz privaten Dinge, der so unendlich schmerze. An ihnen hängen Erinnerungen, die sich Dietel bewahren wollte.
Den Kampf gegen das Hochwasser hat der 46-Jährige verloren. Gegen die Banken möchte er sich jetzt erbitterter zur Wehr setzen. 80.000 Euro schuldet Dietel seinem Kreditinstitut noch. Vom Geld, das die Versicherung an ihn auszahlt, möchte er diesen Betrag sofort begleichen. Die Bank jedoch verlangt von dem Hochwasseropfer sogar auch noch Geld für den dann entstehenden Zinsausfall."Das ist eine Frechheit. Ich habe mein Hab und Gut verloren, und im Geschäftsleben nimmt niemand Rücksicht." Dietel befürchtet nun, als Betroffener der Flutkatastrophe noch ein weiteres Mal zum Opfer zu werden. Finanziell hingerichtet durch die Gnadenlosigkeit der Banken.
Doch fürs Überleben in Grimma ist vorerst gesorgt. In drei Turnhallen lagern Lebensmittel und der alltägliche Bedarf. Sie türmen sich dort meterhoch. Dazwischen Renate Zweynert, die immer wieder von Gefühlen übermannt wird. Von überall her strömen Menschen nach Grimma, erzählt die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung gerührt und zeigt ihre Gänsehaut.
Manche kommen mit dem Fahrrad in den Ort, weil sie glauben, mit dem Auto nicht ins Katastrophengebiet vorzudringen. Sie bieten ihre Hilfe an oder haben ihren Kofferraum mit Hilfsgütern vollgepackt."Sogar aus der Schweiz und Holland haben sich Leute auf den Weg gemacht", berichtet Zweynert. Ihre Dankbarkeit dafür kann sie nicht in Worte fassen. Mit kleinen Schritten, sagt die Helferin, solle Grimma zur Normalität zurückfinden. Zweynert denkt dabei auf lange Sicht:"Kommen Sie in 10 bis 15 Jahren wieder hierher. Dann lässt sich ablesen, ob wir die Katastrophe bewältigt haben."
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seher
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