© Cash; 2000-09-15; Seite 57; Nummer 37
Interview
«Für alles werden wir eine Monatsgebühr bezahlen»
US-Autor Jeremy Rifkin über seine These vom Ende des Kapitalismus und der Marktwirtschaft.
Das Eigentum verschwindet und mit ihm die Marktwirtschaft und der Kapitalismus, wie wir sie bisher kannten. Das ist die radikale These des amerikanischen Wirtschaftsanalytikers und Autors Jeremy Rifkin. In seinem neuen Buch beschreibt er ein neues ökonomisches System, das er Network-Commerce nennt: die totale Kommerzialisierung des Menschen. CASH liess sich auf einen Disput mit dem provokanten Autor ein.
Fred David (Bonn)
CASH: Die Arbeit verschwindet, haben Sie uns in Ihrem letzten Buch vorausgesagt...
Jeremy Rifkin:...es war nicht mein letztes, aber mein erfolgreichstes. Es wurde in 19 Sprachen übersetzt.
Aber die Arbeit blieb. Nun sagen Sie, Eigentum werde verschwinden. Was macht Sie diesmal so sicher?
Ich glaube heute mehr an meine These als vor fünf Jahren, als ich das Buch schrieb. In Europa ist die strukturelle Arbeitslosigkeit noch immer sehr hoch.
Aber mit sinkender Tendenz, wenn auch nur leicht.
Sie ist aber immer noch zu hoch angesichts der boomenden Wirtschaft.
Für die USA, für die Schweiz und andere Staaten gilt das nicht.
Ich behalte mit meiner These wahrscheinlich doch Recht.
Wahrscheinlich?
Man kann historische Umbrüche in ihrem Verlauf nie genau voraussagen. Den Arbeitsmarkt in den USA muss man genau analysieren. Anfang der Neunzigerjahre wurden auf breiter Front Kreditkarten auf den Markt gebracht. Das führte zu einem riesigen Konsumboom. Auf Kredit kaufen die Leute mehr. Bisher Arbeitslose kommen zurück in die Arbeit. Es braucht neue Dienstleistungen. 1992 hatten die USA eine Sparrate von 6 Prozent, heute liegt sie unter null.
Solche Phasen kommen häufiger vor.
Ja, aber immer in Zeiten der Depression, nicht in Zeiten des Booms. Das ist der Unterschied.
Sollte Europa einfach mehr Visa- und Amexco-Karten verteilen?
In Westeuropa gibt es derzeit eine Sparrate pro Familie von 8,8 Prozent. Brächte man eine ähnliche Masse an Kreditkarten in Umlauf wie in den USA, würde die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgehen, die Sparrate würde sich allerdings ebenfalls drastisch reduzieren. Das wäre eine ähnliche Situation wie in den Zwanzigerjahren.
Sie meinen, vor dem grossen Crash, als die Industrie boomte, der Markt aber all die Produkte gar nicht mehr aufnehmen konnte?
Ja. Es brauchte damals einen neuen Sozialkontrakt zwischen den grossen Interessengruppen, um die Früchte des Wirtschaftspotenzials gerechter zu verteilen und wieder eine Balance zu erreichen.
Das war vor über 70 Jahren. Wann schlägt uns denn die Stunde der Wahrheit?
Das kann niemand sagen. Aber es ist sonnenklar, dass es mit den Negativeinkommen in den USA nicht unbegrenzt weitergehen wird.
Die These Ihres neuen Buches, wonach nun auch noch das Eigentum verschwinden werde, klingt nicht besonders revolutionär.
So? Warum interviewen Sie mich denn? Sie müssen versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen, und dürfen sich nicht an vordergründigen Titeln festhalten. Mit dem deutschen Untertitel: «Das Verschwinden des Eigentums» bin ich auch nicht ganz glücklich.
Sie sagen: Es wird kein Eigentum mehr geben. Für alles und jedes werden wir zu bezahlen haben in Form von Dienstleistungen. Aber es wird uns nichts mehr gehören.
Diese Erkenntnis finden Sie nicht bemerkenswert?
Ehrlich gesagt, nicht besonders. Ob mir mein Auto persönlich gehört oder ob es nur geleast ist, spielt doch keine Rolle. Als Konsument interessieren mich einzig Leistung und Preis.
Was Sie eben beschreiben, heisst nichts anderes, als dass wir das Verschwinden der Marktwirtschaft erleben. Es entwickelt sich ein neues ökonomisches System. Ist das nicht neu für Sie?
So radikal auf den Punkt gebracht schon.
Es ist in der Tat revolutionär, was hier vor unseren Augen geschieht. Vor 25 Jahren, als ich Student war, wollte jeder wie General Motors sein, möglichst grosse Stückzahlen, möglichst grosse Konzentration von Produktion, Vertrieb und Macht. Heute will jeder Nike sein. GM bedeutete noch viel physischen Besitz.
Und Nike?
Nike doesn't do a damned thing! Sie produzieren nichts selber. Marketingkonzept, Designstudio, Vertriebssystem - alles läuft über Outsourcing.
Der Nike-Schuh wird ja dann doch irgendwann physisch an die Kids ausgeliefert.
Ja, aber die Marge bezahlen diese Kids nicht für den Schuh, sondern für das, was ihnen mit dem Schuh ungefragt mitgeliefert wird. Sie zahlen für ein Lebensgefühl, das ihnen wichtig ist. Neu ist, dass wir in Netzwerken leben. Im Internet gibt es keine Verkäufer und Käufer mehr, sondern man bezahlt Gebühren, Anteile an etwas, Lizenzen, Lebensgefühl, Zeit. Dort kommt die Wertschöpfung her. Nicht mehr aus dem Produkt. Kennen Sie Lego?
Damit bin ich aufgewachsen, und meine Legokiste war mein höchst persönliches Eigentum.
Lego als Spielzeug gibt es immer noch. Damit verdient Lego aber künftig nicht mehr das grosse Geld. Das Spielzeug dient nur dazu, die Leute dazu zu bringen, die via Internet daran gekoppelten Zusatzdienste und Spielerweiterungen zu nutzen. Das ist für Lego viel ertragreicher als die Herstellung der Plastikklötzchen.
Allmählich wird Ihre These von der totalen Vernetzung klarer: Unser ganzes Leben wird in Dienstleistungshäppchen aufgeteilt. Und niemand kann aus diesem Kreis je wieder ausscheren, auch wenn er möchte. Ist es das, was Sie meinen?
You've got it. Nehmen Sie Ford. Ich sage Ihnen voraus, dass die grossen Autokonzerne in wenigen Jahren kein besonderes Interesse mehr haben werden, ihre Autos an den Mann zu bringen.
Sondern?
Der Kunde wird in Zukunft nicht mehr das Auto erwerben, sondern die Fahrerfahrung. Ich werde nicht für das Auto bezahlen, sondern die Zeit, die ich im Auto verbringe. Das Auto wird mir nicht mehr gehören. Es wird eingebunden sein in ein ganzes Netz von Dienstleistungen: freies Benzin, freies Parking. Sie werden in Ford-Parkhäusern umsonst parken und bei Ford-Waschanlagen Ihr Auto umsonst waschen und so weiter.
Das ist doch praktisch.
Sicher. Aber Sie müssen natürlich für alles eine Monatsgebühr bezahlen wie heute für die Versicherung oder fürs Telefon. Sie werden Teil eines Netzwerks, das Sie nicht mehr loslassen wird. Ein gutes Beispiel ist auch die Pharmaindustrie. Sie wird in diesen Netzwerken eine grosse Rolle spielen.
Welche?
Sie verkauft nicht mehr die einzelnen Pillenpackungen, das wird für sie uninteressant. Früher ging ich in den USA zum Arzt und bezahlte für jede Konsultation. Das war ein Marktaustausch. Heute gehöre ich zu einer Gesellschaft, die nicht einfach eine Krankenkasse ist, sondern viel umfassender arbeitet. Bei ihr kaufe ich sozusagen im Abonnement Gesundheit am Stück. Es gibt ja eine direkte Beziehung zwischen Krankheit und sinkender Produktivität in einem Unternehmen. Pharmakonzerne werden mit Versicherungen eng zusammenarbeiten. Die Unternehmen besorgen sich von diesen Dienstleistern in umfassenden Programmen die Gesunderhaltung ihrer Mitarbeiter.
Was Sie hier beschreiben, ist aber doch eigentlich nichts anderes als der Ãœbergang von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft.
Im Prinzip ja. Das ist nicht neu. Aber über die Konsequenzen macht man sich viel zu wenig Gedanken. Darüber wird nicht offen gesprochen.
Warum nicht?
Weil es komplexe Zusammenhänge sind und weil diese auch eine unheimliche Dimension haben. Zunächst sieht alles ganz pragmatisch aus: Die Unternehmen fragen sich: Womit können wir in Zukunft wirklich noch Geld verdienen?
Womit?
Nur noch mit einer Minimalisierung der Produktionskosten und einer umfassenden Zusammenarbeit in komplexen Netzwerken. Das bedeutet: Risikoverteilung und Sharing der Gewinne. Dies hat zur Folge, dass die Bedeutung von physischem Eigentum immer mehr schwindet. Das passiert natürlich nicht über Nacht. Das sind langsame Prozesse. Nehmen Sie das Beispiel UMTS...
Die neue Technologie für Handys...
Da wurden in Deutschland ja gerade die neuen Frequenzen für eben einmal 100 Milliarden DM versteigert. Das heisst: Die Herstellung von Handys ist nicht mehr das Interessante, auch nicht das Betreiben reiner Telefongesellschaften, sondern das, was ich damit alles machen kann. Diese 100 Milliarden müssen sich ja irgendwann für die Investoren rechnen. Das werden keine reinen Telecoms mehr sein, sondern umfassende Netzwerke mit einer Unzahl von damit direkt verknüpften Dienstleistungen. Das führt zu einer Konzentration von Macht über Ideen und Konzepte. Deswegen erzielen Start-up-Firmen, die noch keinen Rappen Geld verdienen, so hohe Erlöse, wenn sie nach kurzer Zeit an grosse Firmen verkauft werden. Diese bauen sich daraus die umfassenden Netzwerke, auf die es letztlich ankommen wird.
Das ist ja nicht ferne Zukunft, das ist schon Gegenwart.
Natürlich. Eines Tages wird unsere gesamte Existenz als Individuum in solche Netzwerke, für die wir bezahlen, eingebunden sein. Wir kaufen von den Anbietern Lebenszeit. Das bedeutet die vollständige Kommerzialisierung.
Halten Sie das für schlecht?
Nein, aber man muss sich im Klaren sein, was das bedeutet. Die bisherigen Marktgesetze gelten nicht mehr. Im marktbasierten Kapitalismus hatten wir als Individuum noch Off-Time. Wir konnten uns der totalen Kommerzialisierung in Nischen entziehen, über die wir selber entschieden haben. Das ist vorbei. Nehmen Sie das Beispiel der Residential Parks des Disney-Konzerns.
Was meinen Sie damit?
Disney baut als Konzern ganze Dörfer, vielleicht bald Städte. Wer dort hinzieht, kauft sich nicht einfach ein Haus, sondern alles, was mit dem Alltag zusammenhängt. Disney organisiert von der Müllabfuhr über die Schule bis zur Unterhaltung und zum Begräbnis alles.
Wer wird das kontrollieren?
Das ist für mich eine der grossen Fragen: Kann unsere Zivilisation, wie wir sie bisher kennen, überleben, wenn sämtliche Beziehungen, die wir als Menschen haben, ausschliesslich kommerziell sind?
Das ist jetzt eine philosophische Dimension, die uns bei einem nüchternen Wirtschaftsanalytiker doch eher überrascht.
Dieses Buch zu schreiben hat mich sechs Jahre gekostet. Ich habe dafür 350 Bücher und hunderte Artikel und Studien gelesen und 15'000 Karteikarten angelegt. Das Manuskript umfasste 2000 Seiten. Erst zum Schluss war ich in der Lage, meine Analyse auf den Punkt zu bringen.
Sie halten Seminare vor Managern. Wie reagieren diese auf Ihre Thesen?
Unterschiedlich. Banker zum Beispiel verstehen alles ganz genau, was ich sage. Ob sie willens sind, daraus Schlüsse zu ziehen, kann ich bisher nicht feststellen. Bei Managern aus dem Produktionssektor ist es anders. Dort ist die Bereitschaft deutlich grösser, die ganze Dimension der Entwicklung zu sehen, in der wir uns befinden. Den Leuten muss klar werden, dass dies nicht nur eine Wirtschafts- und Technologierevolution ist, sondern auch eine soziale. Das krempelt unsere bisherigen Werte und Vorstellungen völlig um. Wir brauchen neue Regeln, um das Zusammenleben zu organisieren.
Das ist mehr eine Sache für Politiker.
Nein, das ist ein Thema für Manager. Deren Mitarbeiter sind zugleich Konsumenten und Investoren, man muss sie auch so behandeln, sonst wird es nicht funktionieren. Das setzt einen neuen Social Contract voraus. Der Kapitalismus ist in eine völlig neue Form übergegangen.
Soll das heissen, der Kapitalismus hat sich überlebt?
Der bisherige auf dem Markt basierende Kapitalismus auf jeden Fall. Es entsteht etwas, das im Kern wirklich neu ist und für das es noch gar keinen Namen gibt. Ich nenne es Network-Commerce. Das verlangt nach neuen Regeln. Wenn wir die nicht finden, fliegt uns das alles womöglich eines Tages um die Ohren.
Was meinen Sie damit?
Nehmen Sie den breiten Widerstand gegen die Gentechnologie in Europa. Das ist für mich so ein Signal. Die Diskussion in Europa läuft ganz anders als in den USA. Amerikaner können nicht verstehen, warum Europäer dauernd gegen genmanipulierte Nahrungsmittel stänkern. Der Grund dafür ist einfach: In Europa hat Essen etwas mit Kultur zu tun. Damit geht man hier ganz anders um als in den USA. Das habe ich auch erst lernen müssen. Das Publikum hier will wirklich keinen Designer Food. Das ist eine breite Strömung, und sie ist nicht in erster Linie politisch oder ideologisch motiviert. Das Beispiel zeigt: Die Schlachten im 21. Jahrhundert werden zwischen Kultur und Kommerz stattfinden.
Da hat die Kultur aber schon von Anfang an verloren.
Nein, denn Kultur ist ein sehr weiter Begriff. Da gehört nicht nur Kunst dazu, sondern auch das Essen, der Sport, die Kirchen, die Umwelt - alles, was mit unserem Zusammenleben zu tun hat und nicht kommerziell oder regierungskontrolliert ist.
Sport ist doch Kommerz.
In Teilen ja. In den USA werden inzwischen sämtliche so genannten After School Activities von kommerziellen Unternehmen organisiert: Sportveranstaltungen, Schulausflüge, Hobbys, alles. In drei bis vier Jahren wird das auch hier so weit sein. Das ist übrigens auch ein Grund, warum die amerikanische Sparrate unter null ist: Das alles muss natürlich bezahlt werden. Das heisst: Die Leute müssen in die Lage versetzt werden, sich die neue Dienstleistungsgesellschaft auch leisten zu können. Und das wiederum heisst: Die Früchte des Wirtschaftens müssen gerechter verteilt werden.
Das wollte schon der Kommunismus.
Allerdings. Er hat den Markt erledigt und im Grund das soziale Kapital der Menschen ignoriert. Das Ergebnis war katastrophal.
· Jeremy Rifkin: «Access - Das Verschwinden des Eigentums», Campus Verlag, Frankfurt/New York, 424 Seiten.
Gegen verblasene Analysen
Jeremy Rifkin, 55, ist Gründer und Vorsitzender der Foundation on Economic Trends und Professor an der Wharton School der University of Pennsylvania. In seinen Büchern («Das Ende der Arbeit», «Das Jahrhundert der Rinder») liebt er es, Megatrends in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft miteinander zu verknüpfen, daraus provokante Thesen zu ziehen und sie scharf auf den Punkt zu bringen. «Ich habe so viele verblasene akademische Analysen lesen müssen, die nie wirklich zum Punkt kommen - «it is bullshitting me», hält er Kritikern seines saloppen Schreibstils entgegen.
Foto: holger floss
«Unsere gesamte Existenz als Individuum wird in Netzwerke eingebunden sein, für die wir bezahlen. Wir kaufen von den Anbietern Lebenszeit.»
Foto: Holger Floss
<center>
<HR>
</center> |