© Cash; 2001-09-28; Seite 6; Nummer 39
interview
«Die Geldpolitik wird in Europa stärker wirken als in den USA»
UBS-Konjunkturexperte Klaus W. Wellershoff über die Wirtschaftsaussichten nach den Attentaten auf Amerika.
Das Wirtschaftswachstum der Schweiz wird sich vorübergehend «ganz ungemütlich» der Nulllinie annähern, sagt UBS-Chefökonom Klaus W. Wellershoff. Wegen der Attentate auf Amerika verzögert sich der Aufschwung: Doch in der zweiten Hälfte des Jahres 2002 gehts mit der Weltwirtschaft wieder aufwärts.
ROMAN SEILER, ALEXANDRA STüHFF
CASH: Sie revidierten Ihre Prognose für die Wirtschaftsentwicklung der Schweiz nach den Terroranschlägen stark nach unten (siehe Box ganz rechts). Was kann die Schweizerische Nationalbank (SNB) in dieser Situation tun?
Klaus W. Wellershoff: Die SNB hat im Augenblick nicht nur bezüglich der Binnenkonjunktur einen schweren Stand, sondern auch wegen des Wechselkurses des Frankens. Wir erlebten in den letzten zwei Wochen eine handelsgewichtete Aufwertung von gut 5,5 Prozent, was konjunkturrelevant ist.
Wagt die SNB weitere Zinssenkungen, wenn der Aufwärtstrend weitergeht?
Die Kommunikation des Zinsschritts vom 24. September war eindeutig. Die Nationalbank ist sich bewusst, dass der Wechselkurs ein sehr wichtiges Element für die Konjunktur, aber auch für die Preisstabilität ist. Wir haben im Augenblick eine Inflationsrate von 1,1 Prozent mit fallender Tendenz. In der Situation, wo die Wirtschaftsaktivität zurückkommt, kann niemand ein Interesse an negativen Inflationsraten haben.
Am Tag nach den Attentaten des 11. Septembers äusserten Sie sich sehr zurückhaltend. Wie beurteilen Sie heute die Lage?
Mittlerweile sehen wir klarer. Es gibt erste Anhaltspunkte darüber, was der Hintergrund der Attentate sein kann. Vermutet werden darf, dass es nicht wie im Fall des Golfkriegs zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Nationalstaaten kommt.
Jetzt haben Sie Ihre Prognosen angepasst. Sind Sie zur Einsicht gekommen, dass die USA in einer Rezession stecken?
Vor diesen schrecklichen Ereignissen hing die Konjunktur in den USA an einem seidenen Faden. Die Industrie befand sich seit Monaten in einer Rezession. Das Konsumentenvertrauen, die Ausgaben der privaten Haushalte und die positive Entwicklung des Immobiliensektors hatten dazu beigetragen, dass die Wachstumsraten nicht stärker abbröckelten.
Das hat nun gedreht?
Die Wirtschaftsaktivität in wichtigen Sektoren wie dem Tourismus, in der Hotellerie, im Gastgewerbe litt stark. Schon von daher ist von einem Rückschlag des Wachstums auszugehen. Der Konsum wird in den nächsten Monaten schwächeln. Ob die Menschen CNN geschaut und daher keine Zeit zum Einkaufen gehabt haben oder ob sie tatsächlich ihre Zukunft unsicherer einschätzen, werden uns die nächsten Umfrageergebnisse zeigen.
Wann rechnen Sie, wird sich das Bild klären?
Wir werden die Zahlen von Ende Oktober abwarten müssen. Kurzfristige Taucher des Aktienmarkts hatten in der Vergangenheit keine direkte Wirkung auf den Konsum. In der Rückschau werden wir feststellen, dass die Aktienkursbewegung gar nicht so viel ausgelöst hat.
Es galt ja als Erfolg einer konzertierten Aktion der Staatsbanken, dass der Dow Jones am Tag der Wiedereröffnung nicht mehr als zehn Prozent runtergesaust ist.
Der Markt hätte positiver reagiert, wenn die Notenbanken wirklich konzertiert vorgegangen wären.
Was kann US-Notenbankchef Greenspan nun noch zur Festigung des Konsumentenvertrauens tun?
Die Amerikaner sind auf dem richtigen Weg. Das Konsumentenvertrauen hielt sich in den USA nur deshalb so gut, weil die Fed in diesem Jahr sehr früh auf die Zeichen einer sich verlangsamenden Konjunktur reagierte. Die Fed wird mit weiteren Zinssatzsenkungen reagieren, sollten die nächsten Wirtschaftsdaten eine Abschwächung der Konjunktur anzeigen.
Sollte man in Europa wie in den USA mit staatlichen Unterstützungspaketen intervenieren?
Das macht in den USA viel mehr Sinn als bei uns. Dank der Stimulierung der Wirtschaft nach der Asienkrise über den Zinsmechanismus wuchs in den USA die Nachfrage in den letzten drei Jahren schneller als das Angebot. Das hat dazu geführt, dass die Sparquote der Haushalte sehr gering ist. Die Unternehmen versuchten, mit tiefen Eigenkapitalquoten hohe Gewinnraten auszuweisen. Daher scheinen die Übertragungsmechanismen der Geldpolitik im Fall der USA ziemlich ausgereizt. Die Geldpolitik wird in Europa stärker wirken können als in den USA und daher ist auch die Fiskalpolitik weniger gefordert.
Dennoch rufen angesichts der Krise selbst hartgesottene Neoliberale nach Staatshilfe - zumindest im Fall der Swissair.
Wir geben der Wirtschaftspolitik keine Ratschläge. Allerdings wird in der politischen Diskussion die Situation zu häufig aus dem Blickwinkel des Produzenten betrachtet. Ich bin als Nutzer von Flugdienstleistungen nicht dagegen, dass irgendein ausländischer Staat mein Flugticket subventioniert.
Wird der Staat wieder eine wichtigere Rolle spielen in Wirtschaftsfragen und die Sozialpolitik einen grösseren Stellenwert bekommen? Dies hebt die Konsumentenstimmung ja auch.
Wir wären höchst überrascht, wenn es zu einer Änderung der wirtschaftspolitischen Grundeinstellung bezüglich der Frage der Subventionierung der Unternehmen kommen würde. Sozialer Frieden ist ein elementarer Bestandteil, damit der Standort dauerhaft interessant ist für Investitionen.
Zurück zur Konjunktur: Europa wird auch 2002 nicht zur Lokomotive der Weltwirtschaft?
Von einer Lokomotive zu reden wäre vermessen. Aber Europa hat einen sehr breiten Binnenmarkt. Auch wenn die Wachstumsdynamik zurückging, wurden in den letzten Jahren doch ganz erhebliche Fortschritte auf der Beschäftigungsseite gemacht. Das Konsumentenvertrauen befand sich fast im Allzeithoch. Die Konsumenten haben noch Speck. Auch auf der Investitionsseite der Unternehmen steht in den nächsten Quartalen noch einiges aus, das über tiefere Zinsen ausgelöst werden kann. Daher wäre es eine grosse Überraschung, wenn Europa von den drei grössten Wirtschaftsregionen der Welt im nächsten Jahr nicht die höchsten Wachstumsraten hätte.
Das ist eine gute Nachricht für die Schweiz, deren Wirtschaft ja sehr stark auf Europa ausgerichtet ist. Warum haben Sie die Prognose für die Schweiz nach unten korrigiert?
Die Schweizer Volkswirtschaft ist Bestandteil der europäischen. Daher werden wir auch in der Schweiz eine zyklische Verlangsamung erleben. Das wird uns zwar keine Quartale mit negativem Wachstum bescheren, aber wir nähern uns der Nulllinie ganz ungemütlich an. Deshalb rechnen wir mit einer steigenden Arbeitslosigkeit. Sie wird vom 1,8-Prozent-Jahresschnitt für 2001 Richtung 2,5 Prozent im nächsten Jahr ansteigen.
Was dann wiederum negative Auswirkungen auf die Konsumentenstimmung haben wird?
In der Schweiz haben wir ebenfalls eine relativ hohe Sparquote und ein sehr, sehr gutes Konsumentenvertrauen. Das hilft, auch wenn wir bezüglich der Reallohnzunahmen für das nächste Jahr etwas vorsichtig sind. Wir rechnen mit einem guten Prozent. Dennoch nehmen wir an, dass der private Konsum zurückgeht.
Wie beurteilen Sie die Situation der Banken angesichts der katastrophalen Börsenflaute?
Es gibt kein strukturelles Problem. Was wir in den letzten Wochen erlebten, war sicher kein alltägliches Auf und Ab. Vielleicht abgesehen von den letzten fünf Jahren gab es das aber immer wieder und wird es das auch immer wieder geben.
Also teilen Sie die Ansicht nicht, dass sich bei den Banken die Kostenschere öffnet, was zu Personalabbau führen könnte?
Ich bin kein Bankenanalyst. Aber in einer Phase, in der Zinsen gesenkt werden und die Zinskurve steiler wird, entwickeln sich Bankaktien traditionell sehr gut. Zumal dann, wenn tatsächlich ein Aufschwung kommt, so wie wir es für die 2. Jahreshälfte 2002 erwarten.
Konkret: Wie entwickeln sich die wichtigsten Schweizer Branchen? Wer profitiert, wer leidet?
In erster Linie wird der Investitionsgüterbereich leiden, wenn die Konjunktur in den USA und auch in den Schwellenländern nochmals zurückgeht. Ein Grossteil der Kursentwicklung ist bei diesen Firmen allerdings schon vorweggenommen worden.
Heisst das, die Börsen haben die Talsohle durchschritten?
Man muss sich bewusst sein, dass wir heute im SMI gemessen an den Erträgen des Vorjahres auf ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 14 kommen. Das ist ein Niveau, das wir zuletzt Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre hatten. Wenn man unterstellen würde, dass wir kein Gewinnwachstum in diesem und im nächsten Jahr sehen, sind wir in einem Bereich, der suggeriert, dass die Kurse weit genug gefallen sind.
In den USA wirkt stimulierend, dass börsenkotierte Unternehmen eigene Aktien uneingeschränkt zurückkaufen können. Sollte dies auch in Europa möglich sein?
Gesamtwirtschaftlich betrachtet, bin ich über dieses Phänomen nicht glücklich. Die Eigenkapitalbasis der börsenkotierten Unternehmen ist in den USA relativ schmal geworden. Man segelt sehr hart am Wind. Das ist wunderbar in einer Zeit mit Inflation und Wachstum. Wenn die Produzentenpreise in den USA über längere Zeit nachgeben, müsste man die Entwicklung sehr kritisch beurteilen. Dann sind die von den Unternehmen aufzubringenden Realzinsen plötzlich sehr hoch. Die Risiken, die vom Aktienmarkt für die Gesamtwirtschaft ausgehen könnten, würden enorm steigen.
In den Neunzigerjahren machte Börsen-Guru Martin Ebner den Shareholder Value salonfähig und forderte höhere Eigenkapitalrenditen. Sind nun Renditen von jährlich 10 bis 15 Prozent passé?
Risikokapital wird ein noch knapperes Gut werden. Wenn die Investoren aufgewacht sind und festgestellt haben, dass die Risiken doch höher sind, als sie sich das bisher vorgestellt haben, werden sie eine höhere Risikoprämie verlangen. Daher werden die Forderungen des Marktes an die Unternehmensführungen steigen.
Ist das überhaupt zu leisten?
Letztlich wird der Wettbewerb um Kapital zeigen, welche Unternehmen das leisten können. 10 bis 15 Prozent sind übertreffbar. Das ist Teil eines sehr komplexen Zusammenspiels von Marktkräften, die uns auf Dauer eine effizientere Wirtschaft bringen.
Wie funktionierten die Märkte in den Tagen nach dem Terroranschlag vom 11. September? Gab es ein effizientes Zusammenspiel?
In dem Masse, wie die Zukunft unsicherer wird, verlangt der Markt für Investitionen eine höhere Risikoprämie. Selbst bei vollkommen unveränderten Ertragserwartungen bedeutet das, dass dann die Aktienkurse nach unten gehen müssen, um einen grösseren Ertrag zu bringen. Insofern kann man die Entwicklung als ein relativ normales Funktionieren der Märkte interpretieren. Eine ganz wichtige Frage, die wir uns auf Dauer stellen müssen, ist diejenige nach der Höhe der erforderlichen Risikoprämie, die sich am Markt auch realisieren lässt. In den letzten Jahren war die implizite Risikoprämie auf Aktien sehr, sehr tief.
stichworte
Rudolph Giuliani: Der Bürgermeister von New York zeigte sich der Situation gewachsen. Es freut mich, dass er am Ende seiner Amtszeit nochmals zeigen konnte, was in ihm steckt.
Swissair: Eine wunderschöne Fluggesellschaft.
New York: Eine faszinierende Stadt. Wie wahrscheinlich keine andere dieser Welt zeigt sie, dass verschiedene Kulturen, Nationen und Religionen auf sehr engem Raum friedlich zusammenleben und Gewaltiges schaffen können, wenn sie tatsächlich zusammenstehen.
Euro: Gleichzeitig Symbol der Hoffnung, aber auch der Angst, die in Europa zum Teil herrscht.
Ferien: Mache ich sehr, sehr gerne. Da kann ich sehr viel Zeit zusammen mit meiner Familie verbringen.
Kopf und Hände
Seine Lehre absolvierte Klaus W. Wellershoff bei der Privatbank Sal. Oppenheim jr. & Cie. in Köln. Danach studierte er an der Universität St. Gallen Betriebs- und Volkswirtschaft. Im Rahmen seines Doktorandenstudiums machte er auch einen Abstecher nach Harvard. 1995 stieg er beim Schweizerischen Bankverein ein, der Ende 1997 mit der Schweizerischen Bankgesellschaft fusionierte. Heute ist der 37-jährige Blitzkarrierist Chefökonom bei UBS Warburg, der Investmentbank des Branchenleaders. Er ist verheiratet und Vater dreier Söhne im Alter von sieben, fünf und zwei Jahren. In seiner Freizeit bastelt er, weil er gerne mit seinen Händen etwas kreiert.
revidierte Prognosen
Nach den Terrorangriffen auf die USA korrigierten die UBS-Ã-konomen die Prognosen für die Weltwirtschaft. Chefökonom Klaus W. Wellershoff erklärt, warum und was er für die einzelnen Wirtschaftsregionen erwartet:
Schweiz: Die Wirtschaft wird 2002 noch um 1 Prozent wachsen, statt wie früher angenommen um 2,1 Prozent. Unverändert bei 1,6 Prozent bleibt die Prognose für 2001. Schrumpfende Ausrüstungsinvestitionen, schwacher Bau, stagnierende Güter- und stark rückläufige Dienstleistungsexporte bestimmten das Wachstum in der ersten Jahreshälfte. 2002 wird die Konjunktur in der 2. Jahreshälfte wieder anziehen und 2003 mit 1,8 Prozent zum Trendwachstum zurückfinden.
USA: Die Lage der amerikanischen Wirtschaft hat sich nach den verheerenden Attentaten massiv verschlechtert. Die Konsumausgaben, die letzte verbliebene Stütze für die US-Konjunktur, dürften erheblich abnehmen. Daher erwarten wir für die USA drei Quartale mit negativem Wachstum in Folge, was einer Rezession entspricht. Gesamthaft wird die Wirtschaft 2001 noch um 1 Prozent wachsen. 2002 werden es lediglich 0,4 Prozent sein. Ab dem 2. Quartal 2002 dürfte das Wachstum wieder positiv sein und allmählich zu Raten von über 3 Prozent zurückfinden.
Europa: Auch auf dem alten Kontinent hinterlässt die amerikanische Rezession ihre Spuren. Daher erwartet die UBS auch hier einen deutlichen Wachstumseinbruch. Für 2001 rechnen wir noch mit einem Wachstum von 1,4 Prozent in der Europäischen Wirtschaftsunion, dem Euroland. Insbesondere das 1. Quartal 2002 dürfte mit einem Jahreswachstum von 0,1 Prozent sehr schwach ausfallen. Insgesamt dürfte die Euro-Wirtschaft 2002 nur noch um 1,1 Prozent zunehmen.
Japan: Die zweitgrösste Wirtschaftsnation befindet sich seit langem in einer Schwächephase. Die Wirtschaft wird dieses Jahr um 0,9, im nächsten Jahr immer noch um 0,8 Prozent schrumpfen. Der Einbruch der USA zeitigt eben auch hier Folgen.
Schwellenländer: Wenn die Wachstumsentwicklung in den Industrienationen nicht positiv ist, wird auch die Nachfrage nach Erzeugnissen aus den Schwellenländern nicht beflügelt. Asien ohne China und Japan wird 2002 ein Wachstum von zwischen 3 und 4 Prozent ausweisen. Das ist wenig. Auch Lateinamerika erhält nochmals einen negativen Impuls. Allerdings muss im Gegensatz zu 1998 nicht mit einer erneuten Gefährdung des weltweiten Finanzsystems gerechnet werden. Einerseits gibt es keine derart kurzfristige Verschuldung mehr, andererseits sind die Frühwarnmechanismen besser ausgebildet.
Fotos: Sabine Wunderlin
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