Erst das Geld, dann der Kampf
Die Nordallianz - zerstritten und bei den Paschtunen verhaßt - erscheint Russen und Amerikanern immer unzuverlässiger / Von Markus Wehner
CHODSCHA BAHAUDDIN, 14. Oktober. Das letzte Stück runter zum Fluß fährt die Kolonne ohne Licht."Mit Scheinwerfer zu fahren ist zu gefährlich", sagt der russische Grenzoffizier. Nach einer langwierigen Paßkontrolle setzt die Fähre bei sternklarer Nacht über den Pjandsch, der Tadschikistan und Afghanistan trennt. Der erste Weg am anderen Ufer führt in Begleitung turbantragender Kämpfer mit Kalaschnikows in eine kleine Lehmhütte. Im Schein einer Ã-llampe sitzen drei Männer auf dem Boden, es findet die Paßkontrolle statt.
Einer der Männer versucht, die Namen korrekt ins Persische zu übertragen, der zweite notiert sie in einem Heft, der dritte drückt einen kleinen Stempel in den Paß. Die Männer, die auf dem Boden kauern, repräsentieren die Islamische Republik Afghanistan, deren Militärmacht sich Vereinigte Front nennt. Sie legen Wert darauf, daß sie die rechtmäßige Regierung Afghanistans vertreten, auch wenn die Taliban sie militärisch geschlagen haben, so daß sie nur noch ein Zehntel des Landes beherrschen.
Auf offenen Lastwagen beginnt ein Ritt durch die bergige Landschaft, eine Achterbahnfahrt im Staub. Das erste Ziel ist das sogenannte Außenministerium, ein kleiner Raum, das Zentrum der Bürokratie der Nordallianz in diesem Gebiet. Auf dem Hof campieren Journalisten in Zelten. Fünf Porträts von Ahmed Schah Massud schmücken die Wände des Raums, wenige Schritte entfernt liegt sein Gästehaus, das schönste Gebäude der Stadt, in dem der charismatische militärische Führer der Vereinigten Front am 9. September einem Anschlag zweier als Journalisten verkleideter Araber zum Opfer gefallen ist. Die verkohlten Räume des Gebäudeflügels, in dem Massud die Attentäter empfangen hatte, werden streng bewacht, die Fenster, in denen die Scheiben geborsten sind, sind mit Papierplanen verhängt. Der Ort, an dem Massud zum Märtyrer wurde, soll so erhalten bleiben, wie er es in seiner letzten Stunde war."Massud hat uns den Weg gezeigt. Er kannte das Kriegshandwerk besser als alle, die an Militärakademien studiert haben", sagt ein Oberst.
Das Außenministerium macht keine Pressearbeit, selbst nach dem Beginn der amerikanischen Bombenangriffe gibt es keinen Kommentar. Allein Außenminister Abdullah Abdullah könne sich äußern, doch ob der hierherkomme, sei ungewiß. Doch ohne die Beamten, deren Zuständigkeiten und hierarchische Beziehungen weitgehend verborgen bleiben, geht nichts. Nur mit einem Übersetzer, einem Fahrer und einem offiziellen Brief des Ministeriums ist eine Fahrt an die Front und der Besuch von Institutionen möglich. Der Übersetzer kostet zwischen fünfzig und hundert Dollar am Tag, der Fahrer zwischen hundert und zweihundert - angesichts des Stroms von Journalisten eine gute Einnahmequelle für die Nordallianz. Die Übersetzer, von denen viele diese Bezeichnung kaum verdienen, sind angehalten, bei politisch brisanten Fragen die offizielle Haltung der Vereinigten Front zum besten zu geben.
Die Struktur der Nordallianz bleibt auch an den Frontlinien unklar. Hier wimmelt es von Obersten und angeblichen Generälen, doch wer das Sagen hat, wird aus den Aussagen der Offiziere und Kämpfer nicht deutlich. Den Oberbefehl, soviel ist klar, hat General Muhammed Fachim, als Verteidigungsminister der Nachfolger Massuds,"ein guter Offizier", wie die Soldaten sagen, der freilich an Massud nicht heranreiche. Doch der Oberbefehlshaber kann offenbar keinen Befehl erteilen, ohne vorher mit den wichtigsten Heeresführern zu verhandeln.
Die vor fünf Jahren als"Nationale Islamische Vereinigte Front zur Rettung Afghanistans" gegründete Nordallianz, die diesen sie auf eine geographische Region festlegenden Namen ablehnt, ist keine Armee unter einheitlichem Kommando, sondern eine lose Koalition unabhängiger Milizen, die für ein gemeinsames Ziel, den Sturz der Taliban, kämpfen. Darüber hinaus geht die Einigkeit kaum. Das Bündnis regionaler Kommandos besteht aus den gleichen Fraktionen der Mudschahedin, die in den achtziger Jahren gegen die Sowjetunion kämpften. Das zerklüftete Afghanistan mit seinen unzugänglichen Bergen und Tälern machte es der Sowjetarmee unmöglich, das Land zu erobern. Diese geographischen Bedingungen führen jedoch auch dazu, daß die Stämme und Gruppen der Allianz voneinander isoliert und letztlich Rivalen bleiben.
Zwar haben die amerikanischen Luftschläge die Taliban unter Druck gesetzt, doch die Meldungen über zahlreiche Kommandeure, die zur Nordallianz übergelaufen sein sollen, sind mit Vorsicht zu genießen. Das Überlaufen zum Gegner ist eine altbekannte Geschichte in Afghanistan. Viele Gruppen verteidigen vor allem ihr kleines Territorium und wechseln zum Gegner, wenn es für die eigene Sicherheit günstig erscheint. Nun, wo sich das Blatt zuungunsten der Taliban wenden könnte, mag mancher nicht zur Seite der vermeintlichen Verlierer gehören. Auch Geld spielt für das Überlaufen oft eine Rolle - im Kampf mit den Sowjets wurden militärische Stellungen für einige hundert Dollar verkauft.
Hinzu kommen die ethnischen Gräben innerhalb der Vereinigten Front. In den Provinzen Tachar und Badachschan im Nordosten des Landes liegt die Machtbasis der Massud-Anhänger - es sind Tadschiken, persisch sprechende Sunniten, die etwa ein Viertel der Bevölkerung stellen. Im Westen um Herat gibt es weitere tadschikische Kämpfer. In Zentralafghanistan kämpfen unter Karim Kalili die schiitischen Hazara - ihr Anteil an der Bevölkerung Afghanistans wird auf etwa 15 Prozent geschätzt. Im zentralen Norden, unweit zu Usbekistan, sind bei Mazar-i-Sharif die Einheiten des usbekischen Heerführers Abdul Rashid Dostum auf dem Vormarsch; die Usbeken stellen etwa zehn Prozent der Bevölkerung.
Als die Mudschahedin 1992 Kabul erobert hatten, war Dostum in die Regierung des immer noch international anerkannten Präsidenten Burhanuddin Rabbani eingetreten, nur um sich kurze Zeit später gegen sie zu stellen. Das Ergebnis war ein jahrelanger Kampf um Kabul, ein Blutbad, das allein im Jahre 1994 in der Hauptstadt 25 000 Menschen das Leben gekostet haben soll. Dieser Bürgerkrieg war eine der Voraussetzungen für den Sieg der Taliban, auch wenn die Vereinigte Front dies bestreitet. Nun ist Dostum reaktiviert worden, und er kämpft offensichtlich an seiner Front entschiedener als die anderen Fraktionen der Allianz, um sich einen politischen Wiederaufstieg zu sichern.
Es ist fraglich, ob sich nach einem Sieg über die Taliban die nach Macht strebenden Heerführer werden einigen können. Die Wiedereinsetzung der Regierung Rabbani an der Spitze einer Koalition, die unter der politischen Vermittlung der Vereinten Nationen entstehen könnte, würde möglicherweise einige der Fraktionen der Nordallianz unbefriedigt lassen. Nur einen Teil der Führer in eine neue afghanische Regierung aufzunehmen hätte wahrscheinlich eine Wiederholung des Szenarios zur Folge, das sich nach dem Abzug der Sowjets und der Einnahme von Kabul entwickelte.
Hinzu kommt die Frage, wie die Paschtunen, die 40 Prozent oder mehr der Bevölkerung stellen, politisch vertreten sein werden. Viele Paschtunen hassen die Vereinigte Front. Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind Einheiten der Front mehrfach mit Massenexekutionen und dem Abbrennen von Häusern gegen Paschtunen vorgegangen. Die Vereinigte Front wiederum hegt Mißtrauen gegen die Paschtunen, denn auf sie stützen sich die Taliban.
Die Vereinigte Front läßt sich mit ihrer Offensive Zeit: In den nächsten Tagen gehe es los, sagen die Offiziere in Tachar nun schon seit Wochen. Man erwartet von den Amerikanern, daß sie die Truppenverbände der Taliban noch stärker als bisher angreifen, denn die Nordallianz ist mit ihren bestenfalls 20 000 Mann den Taliban unterlegen, die mindestens doppelt so viele Kämpfer haben. Ein Oberst, der russisch spricht, gibt eine andere Erklärung: Zunächst müsse man die Soldaten bezahlen, dann erst seien sie bereit anzugreifen. Ein Soldat bekomme im Krieg vierzig bis sechzig Dollar je Monat, ein Offizier hundert, die wichtigsten Generäle hingegen bis zu viertausend Dollar.
Doch das Zögern der Vereinigten Front führt offenbar zu wachsendem Mißmut in Moskau, das die Kämpfer mit Waffen beliefert. Die Russen, so heißt es, sollen die Waffenlieferungen einstweilen eingestellt haben. Als Grund soll genannt worden sein, daß man vor allem Hilfslieferungen nach Afghanistan bringen wolle. Doch es scheint, daß der Kreml nicht länger dazu geneigt ist, die Vereinigte Front aufzurüsten, wenn diese sich nicht bewegt. Präsident Rabbani hat dieser Tage in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe dafür geworben, die Waffenlieferungen fortzusetzen, um den Erfolg der Taliban-Gegner zu sichern. Einige Funktionäre der Nordallianz sind zu Verhandlungen nach Moskau geflogen, um die Verstimmungen beizulegen.
Auch die Amerikaner scheinen die Geduld mit den Taliban-Gegnern zu verlieren. Der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sagte, es sei nun an der Zeit, daß die Nordallianz ihre Offensive beginne. Für Bodenoperationen gegen die Taliban ist die Vereinigte Front unverzichtbar, wollen Amerikaner und Briten einen Großeinsatz eigener Bodentruppen vermeiden. Doch in Washington, London und Moskau scheint die Sorge groß, man könne auf einen unsicheren Partner setzen. In drei Wochen beginnt der Winter in Afghanistan. Die Vereinigte Front, die fünfzig Kilometer vor Kabul steht, hat nicht mehr viel Zeit, um die Zweifel an ihrer Schlagkraft und ihrer Bündnisfähigkeit einstweilen vergessen zu machen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2001, Nr. 239 / Seite 3
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